Gustaf af Geijerstam
Das ewige Rätsel
Gustaf af Geijerstam

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Achtzehntes Kapitel

Maud zögerte einen Augenblick. Darauf nahm sie den Faden ihrer Erzählung wieder auf; ein seltsames Lächeln schwebte um ihre Lippen:

»Erinnerst du dich noch,« fragte sie, »der Nacht, in der du wach auf deinem Zimmer saßest, und wie du dich wundertest, daß ich dich gehört hatte und hereinkam?«

»Gewiß erinnere ich mich.«

»Ich war nicht immer so stark, als ich sein wollte. Ich litt an allerhand Einbildungen, und wenn ich schlief, hatte ich oft Träume. Oft genug fuhr ich aus dem Schlaf auf und fragte mich selbst, wieso ich ein so deutliches Gefühl hätte, als erwarte mich etwas Böses. Immer war es der Gedanke an Harry, der mich dann verfolgte. Ich sah, daß er litt, und ich habe immer Grausamkeiten gegen Kinder verabscheut. In jener Nacht hatten die bösen Träume mich mehr als gewöhnlich gequält. Ich fuhr aus dem Schlaf auf. Die Uhr im Wohnzimmer schlug Fünf. Um mich war alles dunkel. Da glaubte ich Geräusch aus deinem Zimmer zu hören. Ich horchte, und ich hörte deutlich den amerikanischen Schaukelstuhl auf seinen Stahlfedern knarren. Weißt du, was ich damals glaubte und weshalb ich kam? Klipp und klar, wie durch Eingebung, stand es vor mir: Es ist etwas geschehen. Harry ist krank. Karsten hat mich nicht wecken wollen. Wenn der Junge krank ist, kann er sich nicht beherrschen. Er braucht ja nur, wenn er krank ist oder Fieber hat, zu rufen, er wolle mich nicht sehen. Dann fragt Karsten. Und alles, was ich durchgemacht habe, ist umsonst.

Darum nannte ich auch gleich Harrys Namen, und als ich an deiner Miene sah, daß alles, was ich gefürchtet hatte, nur Einbildung gewesen war, drehte ich um, ging wieder auf mein Zimmer und ließ dich glauben, ich sei schläfrig. Aber ich war nicht schläfrig. Hellwach lag ich in meinem Bett. Und mein ganzer Körper brannte wie von tausend scharfen Nadelstichen. Nie war ich so nahe daran gewesen, mich zu verraten.

Erinnerst du dich noch an den folgenden Tag? Und an unser Gespräch abends? Ein seltsames Gespräch. Auch da war ich drauf und dran, mich zu verraten. Was ich in der Nacht gedacht hatte, verfolgte mich. Es schien mir, als müßtest du alles wissen, als sei es absolut unmöglich, daß du nichts wüßtest. ›Er verstellt sich‹, dachte ich. ›Er weiß alles‹. In allem, was du sagtest oder tatest, fand ich einen Doppelsinn. Meine Angst wurde zur fixen Idee, und obgleich ich mir selbst sagte, daß alles Einbildung und Schwäche war, verfolgte mich doch der Gedanke: ›Karsten weiß alles – jedes Wort, das er sagt, hat einen Doppelsinn.‹ Ich sah, wie heftig du wurdest, und hörte den Zorn in deiner Stimme zittern. Ach – du hattest alle Ursache – auch ohne daß du das Letzte wußtest! Aber ich konnte diesen Auftritt nicht anders ansehen als im Zusammenhang mit dem, was mich Tag und Nacht erfüllte. Ich war verstört von Nachtwachen, von Fieberphantasien. Mein ganzes Leben war ja eine Fieberphantasie. ›Er spricht in Rätseln‹, dachte ich. ›Er nähert sich dem Ziel auf Umwegen‹.

Als du mir zuriefst: ›Wen hast du gesucht heut Nacht?‹ da wußtest du nicht, daß du Grund hattest zu einer derartigen Frage. Die Worte entfielen dir nur so. Es war ein sinnloser Ausbruch. Aber ich konnte sie nicht so auffassen.

Weißt du, was ich dachte, Karsten? Jetzt tötet er mich, dachte ich. Alles, was er sagt, sagt er nur, um mich zu quälen. So grenzenlos ist sein Haß, daß er sich nicht daran genügen läßt, zu töten. Aber ich empfand keine Angst, keine noch so schwache Andeutung von Furcht. Wenn man in einer solchen Spannung lebt, wie ich in diesen letzten Jahren, da hat man die Furcht vor dem Tod vergessen. Und wenn geschehen wäre, was ich erwartete – ich kann nicht sagen, fürchtete, denn ich hegte keine Furcht – so hätte ich den Tod von deiner Hand empfangen, ohne auch nur an Widerstand zu denken. Eine Wollust wäre er mir gewesen, höher als alles, was ich je empfunden habe.

Aber als ich dann unter deinen Worten, die für mich keinen Sinn mehr hatten, langsam aufwachte und begriff, daß alles, was du mir da sagtest und was ich antwortete, alles, was zwischen mir und dir vorging, nichts anderes war als Worte, Worte, Worte – da geschah etwas anderes. Da erwachte in mir ein rein physischer Widerwille gegen alles, was wir Liebe nennen. Es war wie ein Ekel in mir vor mir selbst und meinem ganzen Leben, hauptsächlich dem Sinnesleben. Wie durch einen Nebel über ein unreines Wasser weg hörte ich deine Worte, und in einer blitzschnellen Vision glaubte ich, den Sinnestaumel des Menschenlebens, der in Blut beginnt und in Blut endet, zu erblicken. Ich wußte ja, es war das Trugbild eines flüchtigen Augenblicks. Ich wußte ja, was ich gelesen und erlebt hatte. Ich wußte, wenn dieser Augenblick vorüber wäre, würde mein normaler Mensch gleichsam wieder seine normale Lage in mir einnehmen. Und alles, was ich jetzt wie in einem Gespensterlicht sah, würde ich dann wieder ruhig betrachten können und es natürlich nennen.

Es war nur ein kurzer Augenblick. Und er wird keinen Einfluß auf mein Leben haben. Das weiß ich. Aber in diesem Augenblick sah ich mich selbst so, wie ich bin. Ich gehöre zu den Frauen, für die es am besten ist, wenn sie schlafen. Kein Mann hätte mich wecken sollen. Du nicht, und auch kein anderer. Dies wissen, und dennoch leben können – – du weißt nicht . . . Keiner weiß das . . .«

Maud verstummte und atmete tief, als wolle sie die Gedanken von sich abschütteln. Dann begann sie von neuem. Aber ihre Stimme klang müde und gleichgültig und stand in bizarrem Kontrast zu den Worten, die sie sprach:

»Ich habe manchmal geglaubt, daß ich mehr als andere der großen Menschentiefe nahe stehe, aus der wir alle stammen und in die wir so gern hinabblicken – um über unsern Ursprung zu schaudern.

Im übrigen hast du schwer geschlafen in jener Nacht, Karsten. Du hattest ja auch viel Schlaf nachzuholen. Ich allein war wach und konnte keine Ruhe finden. Zum ersten Mal in dieser ganzen Zeit beschäftigten sich meine Gedanken mit der Möglichkeit, daß ich vielleicht alles wieder gut machen könnte. Es war, als gäbe ich mich der Illusion hin, daß ich meine Natur ändern oder das, was war, auslöschen könnte. Still schlich ich in der Wohnung umher, ging von Zimmer zu Zimmer, sah mir alles an, was unser Heim – deins und meines – ausmacht, alles, was in all diesen Jahren so nach und nach gekommen und bei uns geblieben ist.

Ich wußte, was ich dachte und hoffte, war vergeblich. Und doch schlich ich mich hinein zu dir. Ich wollte gar nichts, nur dir einmal nahe sein, ohne daß du es wußtest. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen und draußen brannte Licht. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die Dämmerung gewöhnten, die drinnen herrschte. Ich hatte Angst, du könntest aufwachen. Aber schließlich konnte ich doch jeden kleinsten Zug unterscheiden. Stumm stand ich da und sah zu, wie die Falten in deinem Gesicht sich im Schlaf glätteten. Du warst so, wie ich dich im Gedächtnis hatte vom ersten Mal her, als ich dich schlafen sah.«

»Lang stand ich so,« fuhr sie fort, »und mir wurde weich ums Herz. Ich wollte dir etwas Gutes antun. Und was? Ich wollte dich wecken, Karsten, und dir alles sagen. Ich war drauf und dran, es zu tun. So furchtbar überspannt war ich durch alles, was ich erlebt hatte, geworden. Ich hatte mir ja alles, was ich gewonnen hatte, ertrotzt, Karsten. Alles, was ich gewonnen zu haben glaubte.

»In diesem Augenblick war ich so, wie du wohl geglaubt hattest, daß ich sei, als du mich heiratetest. Ich war das Weib der alten Zeiten, das sich vielleicht ein bißchen zu viel beugte, das aber nie trog und den Sieg über sich selbst errang, weil es demütig war.«

»Was schwatzest du da?« unterbrach ich sie. »Zu allen Zeiten haben Menschen einander gegenseitig betrogen. Männer die Frauen und Frauen die Männer. Was redest du von der Frau der alten Zeit? Das ist doch nur ein Wort. Es fehlte nur noch, daß du dich selbst modern nennst und anfängst zu diskutieren.«

Ich war außer mir vor Nervosität. Alles, was ich gehört hatte, peitschte meine Erbitterung himmelhoch auf.

Aber Maud ließ sich nicht stören.

»Dennoch war es so, wie ich es dir eben gesagt habe,« begann sie wieder.

Und über ihre Züge kam es wie der Widerschein von etwas Visionärem.

»Ich weckte dich nicht,« fuhr sie ruhig fort. »Aber sicher ist, daß ich es wollte. Ich wollte dir alles bekennen. Weißt du, was das sagen will, diese brennende Lust zu bekennen? Ich wollte nichts damit gewinnen. Ich wollte bloß bekennen und dann dein Haus verlassen. Wenn der nächste Morgen graute, wollte ich fort sein. Und du solltest mich los sein. Denn darin lag für dich das Glück.

Es war eine kleine, unbedeutende Sache, die mich daran hinderte. Du drehtest dich im Schlaf um, und als ich dabei zusammenfuhr, stieß ich an eine Leuchtermanschette, daß sie klirrte. Ob es Gespensterfurcht war, die mich überfiel? Oder sonst etwas? Ich erschrak so, daß ich hinausstürzte und mir Gewalt antun mußte, um unter der Tür noch einen Augenblick stehen zu bleiben und nachzusehen, ob du aufgewacht warst. Aber du rührtest dich nicht. Du schliefst fest.

Da ging ich in mein Zimmer, Karsten, drehte den Schlüssel um und ging zu Bett. In der Dunkelheit lag ich da und fror wie ein verirrtes Kind. Was ich dachte oder was ich fühlte, das will ich gar nicht versuchen, dir zu erzählen. Du würdest es mir doch nicht glauben.

Aber seit dem Tag ist mein ganzes Leben gewesen, als wäre ich von Furien gejagt. Ich kannte keinen Frieden mehr, ich wußte nicht mehr, was es heißt, ruhen . . .

Erst jetzt . . .«

Sie verstummte und sagte dann leise:

»Glaubst du mir, wenn ich dir sage, daß ich jetzt so etwas Ähnliches verspüre?«

»Ich muß es dir wohl glauben, wenn du es mir sagst,« antwortete ich.

»Wir haben einander angesteckt, Karsten,« fuhr Maud fort. »Wir waren so weit gekommen, daß wir den Unterschied zwischen ich und du nicht mehr kannten. Da wurden wir auseinandergerissen, oder – wie ich vorhin sagte – wir glitten auseinander. Aber solang wir einer in des andern Nähe waren, rieben wir uns gegenseitig auf. Wenn du mich los bist, wirst du gesund.«

»Und du?«

»Ich bin es schon.«

Hart und scharf kamen die letzten Worte. Aber sie verwundeten mich nicht. Was von dem, was Maud nur gesagt hatte, wahr war und was nicht, das vermochte ich in diesem Augenblick nicht zu entscheiden. Zwischen uns stand das ewige Rätsel von Weib und Mann. Ein Narr ist, wer versucht, das Rätsel zu seinem eigenen Gewinn zu lösen . . .

Uns ausgesprochen hatten wir. Aber zusammengekommen waren wir nicht. Unwillkürlich fiel mir die Definition der parallelen Linien ein, die nie zusammenkommen können.

Ironisch fragte ich schließlich:

»Wie bist du so hellsichtig geworden?«

Maud fuhr zusammen, als hätte ich sie geschlagen.

»Wieso hellsichtig?« stammelte sie.

»Ich meine, so hellsichtig dir und mir und Allem, was du jetzt bist, gegenüber.«

Maud senkte den Kopf, so daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte.

»Darauf möchte ich nicht antworten,« murmelte sie.

»Du mußt!« sagte ich leise und scharf. »Etwas bist du mir denn doch schuldig.«

Maud erhob den Blick nicht zu meinem Gesicht. Aber ich sah, wie die Röte ihr über Wangen und Hals lief:

»Eine Frau wird sehend,« antwortete sie, »wenn sie zwei Männer geliebt hat. Sie wird sehend, weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hat. Sie weiß dann, was gut und böse ist – und noch mehr. Ein Mann dagegen . . .«

Sie hielt inne und ich merkte, daß sie nicht weiter sprechen würde.

»Ein Mann,« fuhr ich an ihrer Stelle fort, »kann essen, soviel er will und wo er will. Die Binde fällt doch nicht von seinen Augen. War es das nicht, was du sagen wolltest?«

Maud blickte zu mir auf. Ihr ganzes Gesicht war verwandelt. Haß funkelte aus ihrem Blick.

»Das ist schlimmer als alles, was je zwischen dir und mir geschehen ist!« rief sie.

Aber keine Worte vermochten mehr mich aufzuhalten.

»Warum behält ein Mann die Binde um?« sagte ich. »Vielleicht deshalb, weil seine Natur doch noch unschuldiger geblieben ist, als die deine, was er sich auch zu schulden kommen ließ? Nie hätte ich das vorher geglaubt. Aber wahrhaftig – du hast es mich in diesem Augenblick gelehrt!«

Wir starrten einander an, ohne einen Laut hervorbringen zu können. Ohne daß wir es gemerkt hatten, waren die Stunden der Nacht entflohen. Es war schon Morgen. Der neue Tag war da. Aber es war etwas anderes, was uns beschäftigte. Wir erinnerten uns beide einer andern Nacht, die uns auch in diesem Zimmer zusammengeführt hatte – der Nacht, von der wir vorhin gesprochen hatten. Auch damals führte ein Zwang uns zueinander, und keiner brauchte den andern daran zu erinnern. In diesem Augenblick war es, als gingen Gespenster zwischen uns um, und die Gespenster erschreckten uns beide.

»Ist dies unser Abschied?« murmelte Maud.

Ich konnte ihr nicht antworten. Ein seltsamer Gedanke, aus einem noch seltsameren Gefühl geboren, keimte in mir.

Ein neues Weib ist es, das da zu mir spricht. Ein Weib, dem du heute zum ersten Male begegnet bist.

Es war ein entsetzlicher, ein fressender Gedanke. Und er wurde zu einer Wunde, einer brennenden Wunde, die tief schmerzte. Sinnesverwirrung lag darin und Marter . . .

Langsam ward es mir klar, was Maud verwandelt hatte und warum alles an ihr, was Weib war, mich jetzt so fremd anmutete. Ich begriff, daß Maud jetzt so war, wie die Liebe eines andern Mannes sie gemacht hatte – des Mannes, den sie mehr geliebt hatte als mich.

Ein neues Weib. Ein anderes Weib, als das, das ich dereinst in meinen Armen gehalten hatte. Demütigend und zugleich unheimlich durchdrang diese Wahrheit meine Seele. Und unter diesem Eindruck, schwankend, ohne Abschied ging ich aus ihrem Zimmer und in meines.

Während ich ging, sah ich, daß Maud verstanden hatte, was ich empfand, und ich las in ihrem Gesichtsausdruck etwas wie Rache.

Einsam lag ich in meinem Zimmer wach und sah das Morgenlicht die roten Gardinen färben. Sie leuchteten wie Blut. Und mir war, als habe ich, ohne es zu wollen, einen Blick hinter den Schleier geworfen, der über das Antlitz der Allmutter, der Isisgöttin, gebreitet ist.

Der Mann oder das Weib, die den Schleier zu lüften wagen, die werden zu Stein.

 


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