Gustaf af Geijerstam
Das ewige Rätsel
Gustaf af Geijerstam

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Siebzehntes Kapitel

Verstehst du jetzt, wenn ich dir sage, daß es für mich eine Niederlage war, als ich merkte, daß ich nicht so sein konnte, wie du es wünschtest? Wie gern hätt' ich es gewollt! Wie ernstlich hab' ich es versucht!

Kannst du dir denken, Karsten, daß Rolf und ich mitten in unserem Glück nicht aufhörten, uns mit dir zu beschäftigen! Auch jetzt sollst du nicht gehen, Karsten! Bis zu Ende mußt du mich anhören! Du fragst, wie ich ihn dann lieben, mich ihm geben, das Glück genießen konnte, das unser Verhältnis mir trotz allem schenkte? Weiß ich es denn selbst? Kann ich in mich selbst hineinblicken und alles auseinanderpflücken, was im innersten meiner Seele bindet und löst? Aber wie ich dazu kam, Rolf zu lieben, das weiß ich. Ich habe es dir ja schon gesagt. Bei ihm war ich frei. In seiner Nähe durfte ich so sein, wie ich war. Ob ich froh war oder traurig, aufgeräumt oder bedrückt, er wunderte sich nie darüber. Überhaupt grübelte er nie über mein Wesen nach. Er war zufrieden mit mir so, wie ich war.

Wenn du ahnen könntest, Karsten, welche Freude über das ganze Leben kommt, wenn man fühlt, daß man in der Nähe eines Menschen ruhig so sein kann, wie man wirklich ist. Du warst auch so oft unzufrieden mit mir. Es war, als hättest du dich in mir getäuscht und wartetest nun immer darauf, daß ich eines Tages anders werden sollte. Oder auch du warst verstimmt. Und dann brauchtest du nur zu sehen, daß ich froh war, um unzufrieden zu sein. Du hast mir einen immerwährenden Zwang auferlegt, Karsten. Und ohne Freiheit gedeiht die Liebe nicht.«

»All das ist jetzt vorüber und vergessen,« erwiderte ich. »Aber du hast mit keinem Wort von Harry gesprochen. Hast du ihn vergessen?«

Maud zögerte einen Augenblick.

»Nein,« sagte sie. »Ich vergesse ihn nicht. Aber ich kann ihn ja auch nicht so lieben, wie Mütter ihre Kinder lieben. Niemals habe ich die rein animalische Wonne empfunden, die Mütter sonst empfinden, wenn sie ihr Kind an die Brust legen. Es ist zum verzweifeln, wenn ich daran denke. Nie konnte ich mich so mit ihm beschäftigen, wie andere das können. Wenn er auf meinem Schoß lag, hatte ich Angst, ich könnte ihm wehtun, und ich konnte nicht begreifen, daß dieser kleine Kerl dereinst ein Mensch werden sollte und daß es mein Kind war.

Aber je älter er wurde, desto mehr Freude hat er mir gemacht. Bis zu dem Tag . . .«

Sie verstummte plötzlich.

»Ja,« fuhr sie nach einer Weile fort. »Jetzt kommt das Schlimmste. Jetzt beginnt mein Verbrechen. Denn das war es. Mehr oder weniger. Ich scheue nicht zurück vor dem Wort. Ich weiß, was ich getan habe. Und wenn ich es wieder gut machen könnte . . . Das Verbrechen fing an, als er uns entdeckte – ertappte, wie du vermutlich dereinst gesagt hast.

Es begann mit dem Tag, an dem Harry Rolf und mich sah. Wir saßen auf einer Bank im Tiergarten. Es war zeitig im Frühjahr, so zeitig, daß nur selten Menschen dort hinauskamen. Wir saßen weit draußen auf einer Landzunge, und hinter uns führte die Straße vorbei. Da schraken wir plötzlich bei einem rasselnden Geräusch auf. Wir wandten uns gleichzeitig um, und starrten einander dann wortlos ins Gesicht. Es war Harry, der auf seinem Rad vorübergefahren war. Er war schon weit fort.

Als ich nach Hause kam, ging ich sogleich zu dem Jungen hinein. Und beim ersten Blick auf sein Gesicht wußte ich auch, daß er uns gesehen hatte.

Was Kinder für einen Instinkt haben, Karsten! Du hast es mir oft gesagt, und du hattest ganz Recht. Wie sie uns tausendmal besser verstehen, als wir sie! Es ist ganz unheimlich, daran zu denken. Für mich, die ich ja nicht diesen lebendigen Instinkt der Mutter habe, war es eine Entdeckung. Sobald ich den Jungen sah, begriff ich, daß jeder Versuch, ihn hinters Licht zu führen, umsonst gewesen wäre. Und da wurde ich grausam, Karsten, grausam – weil ich nicht in meinem heimlichen Glück gestört sein wollte. Ich nützte es aus, daß ich seine Mutter war und Macht über ihn hatte. Ich ging geradeswegs zu ihm hin und faßte ihn mit beiden Händen, und er schluchzte an meiner Brust, daß er eine solche Mutter hatte, eine Mutter wie mich!

Alles, alles verstand ich. Aber ich wollte nicht, daß die Entdeckung kommen sollte. Ich wollte, mein Leben sollte so weitergehen, wie ich selbst es eingerichtet hatte. Ich wollte keine Wolken an meinem Himmel sehen. Und ich besaß die Kraft, vorzubeugen.

»Es fielen nur ganz wenige Worte zwischen uns. Harry fragte:

›Wie wird es jetzt?‹

Und ich antwortete:

›Wie meinst du das?‹

Da fragte er mich:

›Gehst du jetzt fort von uns, Mama?‹

Der Knabe hatte mich also verurteilt. Er wußte, daß ich es war, die fort gehörte. Er machte nicht einmal Miene, mich daran zu hindern. Da stieß ich ihn von mir und mir war, als kämpfe ich mit ihm um mein Leben. Ich wußte, daß ich mit meinen Worten seine Seele vergiftete. Aber ich zauderte nicht.

›Es wird keine Veränderung geben, Harry, sage ich. Du verstehst das nicht. Du bist noch zu sehr Kind. Gar nichts wird geschehen. Alles bleibt, wie es ist.‹

Da blickt er zu mir auf.

›Ich kann Papa nicht anlügen,‹ sagt er.

Da packe ich ihn am Arm und antworte:

›Still, Harry! Hör mich an!‹

Und so nachdrücklich als ich nur kann, sage ich zu ihm:

›Wenn du hierüber redest, oder wenn Papa es sonst erfährt, so lebe ich keinen Tag länger. Verstehst du mich?‹

Er schüttelt den Kopf und ich sehe, daß er vollständig außer sich ist.

›Verstehst du nicht? Dann nehme ich mir das Leben.‹

Zweimal wiederholte ich meine Worte. Und als ich Abends an sein Bett ging, um ihm Gutenacht zu sagen, wiederholte ich sie noch einmal.

So grausam war ich, Karsten. Ich wußte, daß ich in seine Adern ein Gift goß, das Tag für Tag jede Freude aus seinem Dasein wegfressen mußte. Tief im Innern wußte ich das. Aber ich wußte auch – wie er nun einmal war, würde er es nicht ertragen können, wenn er mich in den Tod triebe. Er würde mich verabscheuen, verachten vielleicht, und mich eines Tages, wenn er groß war, vergessen, wie man einen bösen Traum vergißt. Aber schweigen würde er, lange schweigen, was auch geschehen mochte.

Und das brauchte ich, damit ich leben konnte, wie ich wollte. Davor verstummten alle Skrupel. Ich schlug mich nicht lang mit ihnen herum. Ich vergaß sie. Und in meinem Leben trat keine andere Veränderung ein, als daß mein ganzes Wesen gleichsam wuchs. Ich hatte das Gefühl, als verdoppelten sich meine Kräfte, als wüchsen meiner Seele Flügel. Hoch über allem, was niedrig und schmutzig war, wollte ich schweben. War es auch Einbildung – einerlei. Kühner wurde ich von jenem Tag an. Und häufiger wurden die Stunden, in denen ich vergaß, daß ich einer Familie angehörte.

Bloß eins wagte ich nicht: Rolf die Wahrheit zu sagen. Ihm sagte ich, ich wisse ganz bestimmt, daß Harry uns nicht gesehen hätte.«

Mauds Gesicht färbte sich, als sie diese Worte sagte. Es war deutlich zu sehen, daß sie noch jetzt in der Erinnerung das Siegesgefühl jener Zeit genoß, in der sie das Schicksal zweier Männer in der Hand gehalten hatte und ohne fehl zu treten ihren gefährlichen Weg gegangen war.

Schwer und herb fügte sie hinzu:

»Damals habe ich Harry für immer geopfert. Nur zu wohl wußte ich das. Ich habe mein Teil an ihm verscherzt. Es kam mir vor, als verbrenne das Kind in den unterirdischen Flammen meines Wesens, die du nicht kennst. An jenem Abend ward Harry ganz und gar dein.«

Gefangen in all diesem Neuen betrachtete ich sie; ich hatte das Gefühl, als habe ich jetzt erst die Frau kennen gelernt, die fünfzehn Jahre lang mein Weib gewesen war. Ich weiß, daß mir da zum ersten Mal das Märchen von der Waldfrau einfiel. Ich hatte den klagenden Schrei gehört, der dem zurückgelassenen Kind galt . . .

»Jetzt bitte ich dich, fortzufahren,« sagte ich nach einer Weile. »Noch ist die Nacht nicht zu Ende.«

 


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