Gustaf af Geijerstam
Das ewige Rätsel
Gustaf af Geijerstam

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Neuntes Kapitel

Wir standen nebeneinander in einem sehr niedrigen Raum mit auffallend nackten Wänden. Man konnte fast sagen, er sei leer. Es sah so aus, als ob buchstäblich jede Kleinigkeit, die überhaupt nur entbehrlich war, aus dieser nackten, schmutzigen Stube weggetragen worden wäre. Auf einem Lager am Fenster lag ein Weib mit offenen Haaren und gebrochenem Blick. Man hatte sich nicht einmal Zeit genommen, ihr die Augen zu schließen. Beim ersten Blick sah ich, daß sie tot war.

»Pst!« sagte der Mann an der Tür, »pst! wecken Sie sie nicht!«

Ich wandte mich um und sagte ihm gleich, was ich dachte. Zu meiner Verwunderung zeigte er weder Überraschung noch Trauer. Sein Blick begegnete dem meinen; es lag etwas Forschendes und Scharfes darin, was mich mißtrauisch machte.

»Haben Sie eine Ahnung, an was sie gestorben ist?« fragte ich.

»Es ist gefährlich, das zu untersuchen,« antwortete der Mann.

Damit richtete er sich auf und sagte in unfreundlichem, formellem Ton:

»Ich habe vergessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Johansson, Karl Axel Johansson, Straßenarbeiter.«

Ich nickte. Die Worte klangen so grotesk mitten in dies seltsame Schweigen angesichts einer Toten hinein. Immer weniger begriff ich, weshalb mich der Mann mit sich gelockt hatte oder was er von mir wollte. Ohne weitere Worte näherte ich mich dem Bett und schloß der Toten die Augen. Als sie zusanken, hörte ich hinter mir einen Laut wie ein Schluchzen. Aber als ich den Mann ansah, wandte er mir ein gleichgültiges, beinahe apathisches Gesicht zu und sagte in weichem Ton – ganz ungleich seiner sonstigen Stimme:

»Es ist das beste, daß sie tot ist. Glauben Sie nicht, Herr?«

»Für sie selbst vielleicht,« antwortete ich.

»Für uns beide,« sagte der Mann bestimmt.

Damit ging er zum Lager hin, schob mich fast mit Gewalt beiseite und zog einen Stuhl herbei. Und eh ich noch wußte, wie mir geschah, saß ich auf diesem Stuhl und vor mir stand der seltsame Mann und weinte wie ein Kind. Ob er geistig gestört war oder unglücklich – oder alles beides – – es war unmöglich, daraus klug zu werden.

Ich saß und dachte an die Stadt, in der ich nun so lang schon lebte, und deren Straßen und heiteres Menschengetriebe mir unablässig ihre Geschichten ins Ohr gesummt hatten. Dieser Geschichte glich keine. Kommt es daher, weil du selber früher zu glücklich warst, daß du davon nichts gesehen hast? fragte ich mich. Eine ganze Weile konnte ich nicht sprechen. Aber als ich endlich versuchte, ein paar der nichtssagenden Worte zu äußern, mit denen wir Menschen uns den Schmerz anderer vom Leib halten, hörte der Mann auf zu weinen und begann mit einer Stimme, die ruhig und klar war, als wäre nichts geschehen, von neuem zu reden:

»Ich habe draußen vor Ihrer Haustür gelogen, Herr, als ich sagte, meine Frau liege im Sterben. Sie war schon tot, als ich von daheim wegging. Ich wußte es wohl. Kein Doktor brauchte es mir zu sagen. Und auch sonst niemand. Es war nur Wahnsinn, als ich bei dem Doktor anläutete. Ich wußte es wohl. Darum lief ich auch davon.«

Er lachte auf und fuhr fort:

»Kein Doktor kann ihr mehr helfen. Ich habe auch gelogen, als ich sagte, ich sei fortgegangen, um einen Doktor zu suchen. Ich bin überhaupt nicht fortgegangen, um irgend jemand zu suchen. Ich bin fortgegangen, weil ich nicht allein sein konnte. Als wir uns trafen, war ich schon zwei Stunden lang im Regen herumgelaufen. Ich konnte nicht nach Hause. Denn ich hatte Angst vor dem Alleinsein. Ich hatte Angst, die Polizei würde mich holen.«

»Die Polizei?« unterbrach ich ihn. »Was hat die Polizei damit zu tun?«

Ich betrachtete den Mann vor mir plötzlich mit ganz andern Augen als bisher. Aber ich stand nicht von meinem Stuhl auf, sondern fuhr nur fort, ihn unverwandt zu betrachten, wie er da vor mir stand.

»Die Polizei hat nichts damit zu tun,« antwortete der Mann. »Gar nichts. Aber die Polizei mischt sich trotzdem in die Angelegenheiten der Armen – auf eine Art, die Sie nicht kennen. Ich könnte Ihnen darüber viel erzählen, wenn ich wollte. Aber das gehört nicht hierher. Das Wort ist mir nur so entschlüpft. Wir reden ja so viel, wir Neu-ra-sthe-niker.«

Er sprach das Wort mit einer Grimasse aus, als könne er sich von etwas Widerlichem befreien, wenn er es so recht hinausspuckte.

»Ich habe einmal so etwas gelesen. Und das vergesse ich nie wieder. Es paßte gerade auf mich. Jedes Wort, das ich las, paßte auf mich.

Aber jetzt unterbrach ich ihn in vollem Ernst.

»Hören Sie mich an,« begann ich. »Sie sind in einem überreizten Zustand. Sie brauchen jemand, der Ihnen hilft. Allein hier bleiben mit der Toten können Sie nicht. Sie brauchen Ruhe. Kommen Sie mit mir, so werde ich dafür sorgen, daß Sie für die Nacht an einem ruhigen Ort untergebracht werden. Und morgen . . .«

Der Mann erhob heftig beide Hände und antwortete mit energischem Ton:

»Ein ruhiger Ort. Es gibt nur einen ruhigen Ort für die Armen. Nein. Es geht nicht. Und überhaupt – sie erlaubt es nicht.«

Ich wollte mich vergewissern, ob ich recht gehört hätte, und fragte darum vorsichtig:

»Wer?«

»Meine Frau natürlich,« lautete die Antwort. »Oder sie, die meine Frau war. Wer denn sonst?«

Darauf lehnte er sich müde gegen den erloschenen Ofen. Im Schein der kleinen Petroleumlampe kroch der lange Schatten seines gebeugten Nackens und Rückens bis hinüber ans Bett.

»Gehen Sie noch nicht, Herr« sagte er. »Gehen Sie noch nicht. Ich bin ja doch auch ein Mensch, wie Sie. Nicht oft wird jemand Sie so inständig angefleht haben, zu bleiben, Herr, wie ich jetzt.«

Wir verstummten beide und eine lange Weile hörte ich kein anderes Geräusch als das schwere Atmen des gebrochenen Mannes neben mir. Ich war müde, aber ich vermochte mich nicht loszureißen. Im ganzen Wesen des armen Verbrechers lag eine Verzweiflung, die ich nicht das Herz hatte, zu stören. Denn daß er auf die eine oder andere Art ein Verbrecher war, diese Überzeugung gewann ich mehr und mehr. Doch war in seinem ganzen Wesen nichts, das mir Unruhe für meine eigene Person einflößte. Und meine Nachtruhe hatte ich längst drangegeben.

Um seinen Gedanken zu Hilfe zu kommen, unterbrach ich schließlich die Stille mit einer Frage:

»Was meinten Sie damit, als Sie sich den neurasthenischen Arbeiter nannten?«

Der Angeredete fuhr aus seiner gebeugten Stellung auf. Er war vom Ofen auf einen Stuhl geglitten, der dicht neben ihm stand, und als sein Blick jetzt dem meinen begegnete, glich sein Ausdruck dem eines Menschen, der plötzlich aus dem Schlaf geweckt wird.

»Es gibt so viele Theorien in unsern Tagen,« begann er, »und so viele Menschen, die sich irre leiten lassen. Sehen Sie dorthin – auf das Bett. Dort liegt ein Weib, das tot ist. Sie war meine Frau und nie war zwischen uns etwas anderes als Gutes. Das müssen Sie glauben, und wenn die ganze Welt käme und Ihnen etwas anderes sagte. Es gibt ja Menschen, die immer Böses denken, und nie etwas anderes sehen als Schlechtes. Solche Menschen könnten gewiß auch erzählen, daß ich trank und meine Frau schlug, daß meine Kinder fort mußten – zur Großmutter – damit sie nicht all das Häßliche sehen sollten, das hier vor sich ging. Solche Menschen haben böse Augen, und böse Augen haben auch auf uns gesehen.«

Während er sprach, schien es, als ob ganz andere Gedanken als die, die er aussprach, sich in seinem Gehirn regten. Er stand plötzlich auf, und es sah aus, als wolle er zum Bett hinübergehen. Und das jagte mir ein plötzliches Grauen ein. Seine Gebärden erweckten in mir den ganz bestimmten Eindruck, daß da etwas verborgen war, was er mir zeigen wollte. Ich war in einer entsetzlichen Spannung. Aber es war unmöglich, den Mann zur Eile anzutreiben oder seine Suada zu unterbrechen. Mit aufs äußerste angespannten Nerven achtete ich auf jede seiner Mienen, jede seiner Gebärden, jedes seiner Worte.

Statt an das Lager zu treten, ging er wieder durchs Zimmer zurück und blieb einen Augenblick an der Tür stehen. Darauf nickte er mir, gleichsam beruhigt, zu und begann aufs neue:

»Es ist ein furchtbares Haus, Herr, Sie können es mir glauben. Vom Boden bis zum Dach wohnen Menschen. Es mögen hundert sein oder auch tausend. Ich habe sie nie zählen können. Ich habe es versucht. Ich habe alle aufgeschrieben, die ich hier habe wohnen sehen. Aber es nimmt nie ein Ende. Immer kommen neue. Es sind schlechte Menschen – alle miteinander. Entweder sind sie im Zuchthaus gewesen, oder sie sehen so aus, als könnten sie jeden Augenblick hinkommen. Männer und Frauen und Kinder. Von den Kindern will ich nicht reden. Was für Laster ich gesehen habe, was für Szenen, was für Elend! Ich sehe es Ihnen an – Sie glauben, ich übertreibe, Sie glauben, mein Gehirn sei krank. Das ist es auch. Und wissen Sie, warum? Darum, weil ich nie etwas anderes gesehen habe, als das, was man in diesem Hause sieht, und weil Sie mich gebeten haben, Ihnen zu erklären . . . Gott im Himmel – was will das sagen – erklären? Können Sie erklären, warum Sie auf den Füßen gehen und nicht auf den Händen? Sehen Sie – Sie können es nicht. Und doch wollen Sie, ich soll Ihnen erklären, was ich gemeint habe mit meinen Worten, ich sei der neurasthenische Arbeiter! Hören Sie mich an, Sie, der Sie nicht neurasthenisch sind. Denn Sie sind ja wohl, wenn man's genau betrachtet, nicht so wie ich? Seit vielen tausend Jahren geben sich die Menschen Mühe, die Welt und sich selber zu erklären. Sie schreiben Bücher und halten Reden. Sie zerreißen einander, weil der eine nicht an die Erklärung des andern glauben will. Sie führen Krieg, weil keine andere Erklärung als ihre eigene gelten soll. Aber was hilft es? Gibt es in unserer Zeit, die doch die alleraufgeklärteste sein soll, die es je gegeben hat, einen einzigen Menschen, der auch nur weiß, ob es wirklich einen Gott gibt? Gibt es einen solchen Menschen? Antworten Sie mir, im Ernst, Herr – gibt es einen? Denn zu dem möchte ich gehen und ihn bitten, er soll mich nicht anlügen, wie alle die andern. Ich begehre kein ewiges Leben. Ich will überhaupt nichts. Ist das kurze Leben, das ich gelebt habe, nicht lang genug gewesen und hat mir Elend genug gebracht? Aber einen Gott will ich! Denn ein Gott müßte den Menschen Gerechtigkeit geben. Und Gerechtigkeit – die brauche ich. Alle Menschen brauchen Gerechtigkeit. Aber keinem wird sie zuteil.«

Er stöhnte schwer und hob die Arme zur Decke empor, als glaube er, er spräche zu einer Volksmasse. Eine unbeschreiblich groteske Komik lag über der hageren schmächtigen Gestalt und dem schmalen Gesicht, aus dem die gebogene Nase über den struppigen Bart hervorstand.

»Wie können Sie verlangen, daß ich Ihnen mein eigenes Ich erkläre?« fuhr er ruhiger fort. »Ist es leichter für mich, mein kleines Rätsel zu erklären, als es für die Welt ist, ihr großes zu erklären? Sehen Sie, wie gedankenlos Sie fragen, und wie ungerecht viel Sie von einem armen Tropfen wie mir verlangen?«

Er schöpfte Atem. Aber nur einen Augenblick. In der nächsten Sekunde beugte er sich zu mir und flüsterte:

»Erklären kann ich nicht. Aber ich kann erzählen. Hätt' ich etwas anderes gelernt, als Steine klopfen, so hätte ich auch Bücher schreiben können. Die Bücher erklären ja auch nichts. Aber sie erzählen viel. Gerade wie ich. Wissen Sie, wie es hier im Winter aussieht? Die Kälte kommt, und es wird dunkel auf den Straßen. Nur die Laternen erleuchten die Menschengräber hier, in denen wir umeinander herumlaufen und nach Brot suchen – als wüßten wir nicht, daß wir nur zum Verwesen da sind. Dann kommt das Eis. Kälte und Regen machen Eis. Und damit hört die Arbeit auf, sehen Sie. Das weiß man. Wenn man das ein paar Jahre lang mitgemacht hat, so weiß man, jetzt kommen die arbeitslosen Monate, die Monate, in denen der Arme von nichts leben muß. Da geht man zum Wohltäter der Armen – dem Pfandleiher. Er nimmt die Uhr und die Sonntagskleider, das Geschirr und die Betten. Es geht wie geschmiert. Alles, was im Hause ist, nimmt er und hebt es den Winter über auf. Daheim wird's leer. Tag um Tag vergeht. Und man wartet – wartet darauf, daß die langen Monate ein Ende haben und die Sklaverei von neuem beginnt. Man ist ja doch ein freier Arbeiter, zum Teufel! Frei, bis der Genossenschaftsruf ertönt und zum Streik ruft. Da ist man dabei, Herr – das sag' ich Ihnen! Nicht weil ich glaube, daß man etwas gewinnt. Aber man ist doch dabei. Denn es ist immerhin eine Art Kampf. Und Kampf – das ist's, was man braucht, wenn man nicht aus Mangel an Bewegung und Luft umkommen will. Aber wenn der Frühling kommt, da heißt's, von vorn anfangen. Und die, die über den Winter weggekommen sind, gehen wieder zum Wohltäter der Armen, der ihr Eigentum in Gewahrsam hat. So nach und nach holt man seine Sachen zurück, und während man die kleinen blauen Fetzen abzahlt, die der Wohltäter aufbewahrt hat, hungert man und arbeitet und arbeitet und hungert. Und so etwas soll man vergessen. Ja ja. Man vergißt ja auch manchmal. Das ist ein Rätsel – noch größer als alle andern.«

Wieder sank der Mann auf dem Stuhl zusammen, und die Worte kamen über seine Lippen, als habe er vergessen, daß ein Zuhörer da war.

»Aber wenn man es ein, zwei, drei Jahre durchgemacht hat, so vergißt man es nimmer. Dann kommt eine Zeit, in der man nicht vergessen kann. Und im besten Fall sitzt immer die Angst in einem. Die Angst vor dem Hunger, der Arbeitslosigkeit, den Selbstmordgedanken. Denn das ist doch klar – wenn man keine Arbeit hat, so denkt man an Selbstmord. An was sollte man sonst denken? Gott – – der ist ja doch nirgends. Man ist krank im Gemüt – – immerfort – immerzu – – Tag um Tag – Nacht um Nacht. Schlafen kann man auch nicht. Es klingt so schön, wenn es heißt, wie der Arbeiter müde nach Hause kommt, sich an Weib und Kind erfreut, sich satt ißt an dem einfachen, gesunden Essen und sich dann zur Ruhe legt, um neue Kräfte für die Arbeit des morgigen Tags zu sammeln. Ich hab' auf meinem Bett gelegen und gehört, wie sie leise um mich herumschlichen, weil sie glaubten, ich schliefe. Ich schlief nicht. Ich schloß nur die Augen, um nichts zu sehen. Weder Frau noch Kinder konnten wissen, daß ich meine Hände zusammenkrampfte und in der Betäubung des Hungers mit mir kämpfte, um nicht aufzufahren und sie in der Raserei alle zu erschlagen. Gehaßt habe ich sie, so wie ich mich selber haßte. Und das will viel sagen. Hätte ich jemand gehabt, den ich hätte umbringen können – ich hätt' es getan. Hätte vielleicht nachher voll Reue geweint. Ich glaub' es. Aber zugeschlagen hätt' ich.«

Während der Mann sprach, sah ich mich im Zimmer um. Mir war, als hätten mich diese Wände mit ihrer häßlichen, billigen Tapete schon seit Wochen umschlossen. Unbewußt prägte sich jede Einzelheit der kleinen Stube meinem Gedächtnis ein. Noch heute sehe ich das Muster der Tapete – die schrägen, breiten Felder und mattgrünen Blumen. Mein Beschluß, den armen Mann nicht zu stören, befestigte sich. Wenn ein Mensch in einem solchen Aufruhr ist, so kann ein anderer ihm nur durch Schweigen helfen. Das wußte ich. Aber die erregte Stimmung des Fremden ward mir zuletzt übermächtig. Ich wollte endlich seinen Einfluß abschütteln und gehen. Darum unterbrach ich ihn plötzlich mit den Worten:

»Haben Sie denn nie Gelegenheit gehabt, sich gehen zu lassen? Oder – wie Sie sich ausdrücken – loszuschlagen? Sie haben übrigens ganz recht – so etwas kann eine Erleichterung sein.«

Der Mann blickte verwirrt zu mir auf. Wieder glich sein Gesicht dem eines Schlafwandlers. Ohne zu antworten ging er hin zum Bett und riß die Decke zur Seite.

Zu meinem unaussprechlichen Entsetzen sah ich, daß die Betttücher blutig waren, und obgleich mir ein innerer Instinkt die ganze Zeit über gesagt hatte, daß die Frau, die da lag, keines natürlichen Todes gestorben, daß der Mann augenscheinlich der Mörder der Frau und daß sein ganzes seltsames Auftreten nichts anderes war als die Verzweiflung eines Halb-Wahnsinnigen unmittelbar nach einer in Geistesgestörtheit begangenen Tat – – wirkten dennoch seine Worte und was ich sah als eine unheimliche Überraschung auf mich. Im Nu war ich vom Stuhl aufgesprungen, und einen Moment lang betrachteten wir zwei Lebenden einander, als warteten wir darauf, wer von uns den ersten Schritt tun und den andern an der Gurgel packen würde.

Aber schon im nächsten Augenblick war meine Überraschung verschwunden. Die Szene vor mir kam mir plötzlich natürlich und einfach und alltäglich vor. Eben dadurch ward sie um so grauenhafter.

»Warum haben Sie das getan?« fragte ich in atemloser Spannung. Ich wartete auf die Erklärung des Rätsels, die Erklärung des ganzen Schicksals dieses Mannes, die Erklärung all der ungereimten Reden, mit denen er seit mehr als einer Stunde mein Ohr füllte.

»Warum?« wiederholte er tonlos.

Es schien, als käme ihm jetzt erst der Gedanke, daß es für so etwas auch eine Erklärung gäbe. Nie habe ich ein menschliches Gesicht gesehen, das ein so hoffnungsloses Unvermögen ausdrückte, eine Antwort zu finden. Es war, als stehe ich Angesicht zu Angesicht dem Rätsel des Verbrechens gegenüber, und fände, daß es besser sei, es nicht zu lösen. Nicht genug, daß es keine Antwort gibt auf das Warum, wenn eine Übeltat begangen wird. Sogar die Frage existiert nicht mehr. Die Außenstehenden, die Mitmenschen, alle andern können fragen nach dem Warum. Der, der die Tat beging, fragt nicht, weshalb, weiß nicht einmal, daß eine solche Frage existiert. Für ihn ist alles einfach eine Notwendigkeit, vielleicht die zwingendste Notwendigkeit, die er kennt. Nur das gemeine Verbrechen, das auf Gewinn oder Rache ausgeht, läßt sich noch erklären. Und dennoch . . . Aber genug hiervon.

Obgleich ich wußte, daß es töricht war, wiederholte ich doch meine Frage. Und während ich das tat, sah ich deutlich, wie die Gedanken des andern sich vergeblich abarbeiteten, um eine Antwort zu finden. Es kam mir so vor, als hätte ich ihm durch meine Frage irgendwie ganz unaussprechlich wehgetan, hätte ihn vielleicht aus der schlafwandlerischen Sicherheit geweckt, die ihn bisher beherrscht und auf geheimnisvolle Weise zu einer Art Lösung geführt hatte.

Plötzlich betrachtete er mich mit einem scharfen, durchbohrenden Blick und sagte:

»Warum ich es getan habe? Das hab' ich doch schon längst gesagt. Seit einer Stunde red' ich ja von nichts anderem.«

Bisher war er verwirrt und unruhig gewesen, und doch hatte über seiner ganzen Art eine Beherrschtheit gelegen, die wohl die meisten irregeführt hätte. Jetzt war er in vollem Aufruhr. Sein Gesicht zuckte in fürchterlichster Erregung und seine Stimme kippte um.

»Keiner versteht mich!« schrie er. »Keiner hat mich je verstanden. Wozu lohnt es sich, daß man sich andern erklären will? Jeder Mensch ist von seinesgleichen abgeschlossen durch eine Mauer – so fest, als ob er in einer Zelle säße. Da bin ich wie ein Narr herumgelaufen und hab' erklärt und hab' mir eingebildet, Sie verstünden – – – Ich glaubte, Sie wüßten doch mindestens ebenso viel wie ich.«

Er ballte die Hand und schlug blindlings in die Luft.

»Sie wollen die Wahrheit wissen,« brüllte er. »Na ja, Sie sollen sie wissen. Ich brauch' mich nicht zu schämen! Sie allein mag sich schämen. Ich hab' sie mit einem Messer ins Herz gestoßen. Ich hab' es getan, während sie schlief. Kein Laut ist über ihre Lippen gekommen. So gut hab' ich es gemacht.«

Er hielt inne und schnappte nach Luft, als sei er nahe daran, zu ersticken.

»Sie hat mich betrogen,« sagte er schwer. »Ist mit andern gegangen. Darum hab' ich es getan. Verstehen Sie jetzt?«

Mit einem unbeschreiblich höhnischen Ausdruck in dem unnatürlich erregten Gesicht betrachtete mich der Verbrecher. Es war, als bereitete ihm jedes Wort, das er herausschleuderte, einen heimlichen Genuß.

»Verleumden Sie die Tote nicht!« sagte ich rasch.

Ich war selbst kaum weniger erregt als er.

»Ihre Frau hat Sie niemals betrogen. Das wissen Sie so gut, wie ich.«

Aber jetzt war seine Kraft erschöpft. Stöhnend sank er vor der Toten zusammen. Kein Wort kam mehr über seine Lippen. Augenscheinlich hatte er vergessen, daß er nicht allein war.

Ich aber ging eilends fort, tastete mich die dunkeln Treppen hinunter und ins Freie. Vom Hof aus sah ich noch, wie das einsame Licht da droben in einem der Mietskasernenfenster plötzlich erlosch.

 


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