Gustaf af Geijerstam
Das ewige Rätsel
Gustaf af Geijerstam

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Viertes Kapitel

In jener Zeit fing ich an, die Abende außer dem Hause zuzubringen. In der Nähe unserer Wohnung war ein kleines Café, in dem sich solche Leute versammelten, denen das neue Stockholm nicht behagte. Es war ein Café alten Stils, mit einem ganz kleinen Speisezimmer innen. Auch verunglückte Existenzen sah man da, die sich aus irgend einem Anlaß nicht gern im Tageslicht zeigten. Frauen kamen nie hin.

Hier verbrachte ich oft – einsam in einer Ecke Zeitung um Zeitung lesend – meine Abende. Dazwischendurch saß ich stumm da und betrachtete die Rauchwirbel meiner Zigarre. Hier ließen mich seltsamerweise die Gedanken in Frieden, und wenn ich nach einem solchen Abend Maud wiedersah, war mir fast, als sei ich ihr näher gekommen.

Bekanntschaften machte ich in dieser Zeit keine. Ich suchte niemand – und niemand suchte mich. Ich hatte niemand, dem ich mich hätte anvertrauen können.

Ein Abend fällt mir ein, der noch schwerer war als gewöhnlich. Es war nichts Besonderes geschehen. Aber mein Inneres war verstört. Es war, als müsse ich einen Freund haben, oder doch wenigstens einen Menschen. Und doch sagte ich mir selbst, daß ich – auch wenn ich einen Freund hätte – ihm nichts sagen könnte. Man spricht nicht mit Freunden über seine Frau.

Da dachte ich an etwas, was in früheren Jahren zu meinen besten Genüssen gehört hatte. Ich dachte an meine Spaziergänge durch Stockholm. Lange hatte ich sie vergessen. In meiner glücklichen Zeit pflegte ich nämlich in freien Stunden die Straßen der Stadt zu durchstreifen, und im südlichen und im nördlichen Teil war ich gleich gut daheim. Winter, Sommer, Frühling und Herbst – jede Jahreszeit hatte ihren besonderen Reiz. Und alles was ich sah, hatte mir sozusagen eine Geschichte zu erzählen. Wo ich auch ging, konnte ich mich an irgend etwas erinnern, was da geschehen war. Ohne daß die Menschen es ahnten, erzählten sie mir ihre Lebensschicksale. Liebe und Haß, Bosheit und Güte – alles durcheinander. Maud pflegte, wenn sie mit mir ging, immer zu sagen: »Worüber lachst du?« »Still!« sagte ich dann. »Es ist eine Geschichte, die ich eben gesehen habe –« Und wenn ich so antwortete, glaubte ich immer, sie verstehe mich. Denn die Menschen, die vorübergingen, erzählten mir doch ihre Lebensschicksale. Darum wollte ich auch immer langsam gehen, um zuhören zu können. Die Klippen der Südstadt hatten ihre Geschichten, Norrbro und das Schloß hatten ihre. – Eine wunderbare Stadt ist Stockholm! Die Erinnerungen der Weltgeschichte und das Geschick des Alltags begegnen sich in ihr; und wenn man über die Stadtgrenzen kommt, so redet die Natur. Die Eichen im Tiergarten und die Tannen im Hagapark, das Wasser, das aus der Ostsee und dem Malar blinkt – alles redet, alles lebt. Und dann die Häfen! All die Menschen. All die Boote, die kommen! Die Dampfer und die kleinen Segler mit ihren zerrissenen Segeln, die sauber geflickt und herausgeputzt sind, weil es doch einen Besuch in Stockholm gilt. – –

Eigenartig ist auch an Stockholm, daß man überall, wo man hinblickt, die Natur um sich sieht. Kaum eine Straße ist da, in der man nicht von irgend einem Punkt aus das freie Land erblickt. Entweder der Wald schneidet fern am Gesichtskreis der Straße ab, oder es zeigen sich, wo sie endet, ein paar Bäume und ein offener Horizont.

So lebendig entsann ich mich alles dessen, daß ich aufstand, meine Zeche bezahlte und ging. Straßauf, straßab ging ich. Ich sah den ›Strom‹ im Licht von Tausenden von Flammen blinken und die Dampfboote über das dunkle Wasser eilen. Schwarz standen die Klippen der Südstadt hinter all den Lichtern von Straßenlaternen und Fenstern. Um mich verdichtete sich die Dämmerung, während ich ziellos in den Gassen der Stadt umherstreifte. Eine Prostituierte ging an mir vorbei. Und wie ein Stachel traf mich ihr Auge. Ohne daß ich wußte, warum, stieg mir das Weinen in den Hals. Die Erinnerung an die Zeit, als noch kein Heim mich erwartete, muß plötzlich in mir aufgestiegen sein. Mit einmal schien es mir, als wäre diese Zeit meine glücklichste gewesen. Und trotzdem wußte ich, wie einsam und verlassen ich mich damals immer gefühlt hatte.

Aber ich hatte doch nicht gewußt, was Unglück ist. Wie gleichgültig war mir jetzt alles, was ich sah! Wie verändert war ich selbst! Die Menschen, die an mir vorübergingen, erzählten mir nichts, und auch ich hatte ihnen nichts zu sagen. Als ich jung war, konnte ein Blick, wie der, der eben an mir vorübergehuscht war, mich zum Stehenbleiben verlocken. Ganz gewiß wünsche ich die Zeit nicht zurück. Widerlich ist die gekaufte Liebe. Sie zermürbt Körper und Geist. Dem Erwachen folgt der Ekel. Aber was war dieser Ekel im Vergleich zu dem trostlosen Überdruß, der jetzt mein ständiger Begleiter war?

Ich weiß so gut, daß diese Gedanken mich in jener Nacht erfüllten. In müden Variationen glitten sie durch mein Hirn. Ich drehte um und ging, ich ging und drehte um, kam wieder aus den Gassen hervor und wanderte über Norrbro. Auf der Jakobskirche schlug es Eins. Fortwährend rieselte der Regen nieder. Weshalb auch sollte ich nach Hause gehen? Wer wartete da auf mich?

Ich ging – gebeugt und schwer. Der bloße Gedanke daran, daß ich die drei Treppen zu meiner Wohnung hinaufsteigen und den Schlüssel im Patentschloß umdrehen sollte, peinigte mich. Trotzdem ging ich nach Hause. Als ich in meinem Zimmer stand und die Lampe angezündet hatte, troff ich von Schweiß.

Ich zog meine Hausschuhe an und begann vorsichtig auf und ab zu wandern. Das Zimmer war nicht gerade dazu geeignet – so klein, wie es war. Hätte es nicht eine verschließbare Tür gehabt – ich hätte nichts gefunden in diesem Zimmer, was mir auch nur ein Gefühl des Behagens hätte geben können. Das Schlafsofa war für die Nacht hergerichtet. Zwischen dem Fenster und dem Kachelofen konnte ich genau fünf kurze Schritte gehen. Ach, ich weiß es noch heute! Ich habe die Schritte öfter gezählt, als gut war. Ich ging – hin und her – her und hin – und als ich müde war, zu zählen, fing ich an, halblaut mit mir selbst zu reden.

»Es war nicht viel, was ich verlangte,« begann ich. »Ich dachte auch nie daran, daß ich hätte mehr verlangen können. Aber nie hätte ich geglaubt, daß es so enden würde. Sie schläft jetzt in ihrem Zimmer und ich in meinem. Nichts vereint uns. Alles trägt nur dazu bei, uns zu trennen. Warum kam sie zu mir, wenn sie nicht wußte, ob sie bleiben wollte? Und warum hat sie mir gesagt, daß sie nicht will? Sie hat später zurückgenommen, was sie gesagt hat. Sie behauptet, es sei alles, wie früher. Aber es ist nicht wie früher. Warum werde ich jetzt nicht mehr froh, so wie ich es früher immer wurde in ihrer Nähe? Warum ist das Schweigen zwischen ihr und mir so schwer geworden? Es ist, als bohrten sich böse Worte durch das Schweigen und träfen mich, wenn sie neben mir sitzt. Sie hat sie nicht gesprochen. Ich auch nicht. Wer also spricht sie, oder woher kommen sie? Und wo ist das Traumland hingeraten?«

Ich erinnere mich, daß ich mitten in diesen Gedanken plötzlich an den Blick der Prostituierten dachte, der mich im Laternenschein gestreift hatte. Ganz deutlich sah ich alles – wie sie durch die Schminke hindurch lächelte, wie ihre Feder im Dunkel hinter mir zitterte. – –

Was war das für eine Erinnerung, die in mir aufstieg? Eine Erinnerung, die viele Jahre lang geschlafen hat und jetzt, durch einen alltäglichen Zufall geweckt, wieder auftaucht. Es war ein kleines Mädel mit roten Backen, das neben mir stand und weinte, weil ich ihr gesagt hatte, sie würde mich nicht mehr sehen. Gleich nach meiner Verlobung war das. Ich war für sie nichts gewesen, als eine flüchtige Bekanntschaft, die sie nur selten aufsuchte. Und jetzt weinte sie, weil sie mich nie mehr sehen würde und weil sie wußte, warum.

An sie dachte ich jetzt; und das Seltsame war – ich hatte Heimweh nach ihr. Sie war unbedeutend, ärmlich, dumm. Aber nie hatte sie mir anderes als Gutes erwiesen, hatte mich vielleicht, auf ihre Art, sogar ein bißchen gern gehabt. Wo mochte sie sein jetzt? Verschwunden im Menschenmeer, das sie vielleicht noch grausamer verschlungen hatte, als mich – –

Ich hatte Heimweh nach ihr – nicht, weil ich sie gern wiedergesehen hätte, sondern in dem Gefühl: hätte ich mich mit ihr begnügt . . .! Als ich sie damals verließ, war sie mir weniger als nichts.

Ich blieb stehen und stöhnte laut.

»Ach ja,« fuhr ich, meinen ersten Gedankengang wiederaufnehmend, fort – »so also kann das enden! Ich habe nie Hunger gelitten. Ich habe mich nie besonders abgearbeitet. Ich hab' es nur immer knapp gehabt. Wo ich jetzt stehe, werd' ich stehen, bis ich alt und grau bin. Und das Traumland ist verwandelt. Das Traumland ist nicht mehr mein Heim. Sondern das Traumland ist das Bureau. Da stöhnen die Lokomotiven, da rasseln die Wagen, da zerreißt schrilles Pfeifen die Luft, und vor meinen Fenstern qualmt der Kohlenrauch. Dahin sehne ich mich jetzt. Wenn ich da sitze, habe ich Ruhe. Stunde um Stunde vergeht. Wenn der Glockenschlag naht, bei dem die Lokale geschlossen werden, kommt die Unruhe über mich. Ich weiß, ich muß nach Hause gehen. Und während ich gehe, hege ich die närrische Hoffnung, daß all das Böse nur Einbildung ist, daß ich es werde ausweinen und fühlen können, wie es mir leichter wird.

Aber es wird nie leichter – das ist das Furchtbare. Ich gehe wie in einem ewigen Nebel. Der Schmerz nagt in mir und läßt mir keine Ruhe. Tag und Nacht verfolgt er mich. Und in den besten Zeiten sitzt in mir die Furcht – die Furcht, der Schmerz könnte wiederkehren. Besser, besser war es damals, als ich kein Heim hatte, als ich immer allein war.«

Ich ballte die Hand im Grimm und fuhr fort:

»Wann hat es angefangen? Es hat angefangen, als es uns so nach und nach besser ging, als wir nicht mehr Sorge zu haben brauchten ums tägliche Brot. Es war, als hätte die Not oder die Angst vor der Not uns fest zusammengehalten. Jetzt sind wir weit, weit auseinander. Maud hat davon gesprochen, daß sie eine Scheidung will. Und ich kann nicht.

Es soll also einmal aus sein – – vollständig – rettungslos aus! Sie soll für mich nicht mehr auf der Welt sein, und ich nicht für sie. Ach, wir Menschen leben alle im Kampf miteinander; und keiner weiß etwas vom Unglück des andern. Was wollte sie von mir, die Person, der ich begegnet bin? Warum muß ich jetzt hieran denken? Soll ich vielleicht dahin wieder zurückrollen? – Es war einmal ein Heim – – gerade wie im Märchen.«

Plötzlich bleibe ich wie versteinert stehen. In der Türe vor mir stand Maud. Im Nachtkleid stand sie da, und ihre Augen blickten schlaftrunken in den Lampenschein.

»Was tust du?« sagte sie. »Redest du mit dir selber?«

Ohne daß ich sie gehört hatte, war sie gekommen. Und mein erster Gedanke war: kann auch sie nicht schlafen?

»Es ist fünf Uhr,« hörte ich sie sagen. »Warum bist du noch auf?«

Ich wußte ihr nichts zu erwidern. Stumm standen wir einander gegenüber. Keins hatte etwas zu sagen. Ich kam auch nicht dazu, ihr zu erklären . . . Denn sie fragte mich hastig:

»Ist etwas mit Harry?«

»Nein,« erwiderte ich verwundert.

»Ich glaubte, weil du so spät noch auf bist,« antwortete sie.

Eh ich noch ein weiteres Wort sagen konnte, war sie verschwunden; und mich durchfuhr mit einem Mal der Gedanke:

»Warum ist sie wach? Kann auch sie nicht schlafen? Was ist das? Bereitet sie sich vielleicht in aller Stille darauf vor, mich zu verlassen?«

Noch nie hatte ich diese Frage vor mir selbst so klar ausgedacht. Es ist mir auch unbegreiflich, wie sie gerade damals in mir aufsteigen konnte.

»Könnt' ich sie nur fragen!« murmelte ich. »Könnt ich nur Gewißheit erlangen.«

Aber ich wußte nur zu gut, daß ich nicht fragen konnte, und daß mir keine Gewißheit werden würde, eh diese Gewißheit nicht ganz von selbst kam.

Ich kleidete mich aus, um zu Bett zu gehen, und ich bemerkte, daß meine Hände zitterten, als hätte ich zu lang etwas Schweres getragen.

»Ist es mein eigenes Schicksal, das ich gesehen habe?« murmelte ich. Aber in der nächsten Sekunde schlug meine Stimmung um; und voll Wut antwortete ich mir selbst:

»Phrasen! Phrasen! Was bedeutet dein Schicksal? Was bedeutet ihres? Warum kommen lebende Menschen, die du nie gekannt hast, wie Geister des Abgrunds und stören dich? Ich lebe, wie ich muß. Ich tu ja nichts anderes, als warten. Nichts tu ich. Alles, was ich vornehme, ist eitel Leere und Vorwand. So verstört bin ich, daß ich nicht einmal dem wirklichen Leben gegenüber etwas zu empfinden vermag.

Dann erloschen meine Gedanken im Schlummer, und ich schlief ein mit meinem Warten auf die Gewißheit, die noch immer zögerte . . .

 


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