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Zehntes Kapitel

Abschluß einer Epoche

Soames Heirat mit Annette in Paris fand am letzten Januar 1901 in solcher Heimlichkeit statt, daß nicht einmal Emily etwas davon erfuhr, bis sie vollzogen war. Am Tage nach der Hochzeit brachte er sie in eins jener stillen Hotels in London, wo für wenig Leistungen größere Ausgaben gemacht werden können als sonstwo unter der Sonne. Ihre Schönheit in den besten Pariser Kleidern bot ihm mehr Befriedigung, als wenn er ein Stück Porzellan oder ein Juwel von einem Bild für seine Sammlung erstanden hätte; er freute sich auf den Moment, wo er sie in Park Lane, in der Green Street und bei Timothy vorführen würde.

Hätte jemand ihn in diesen Tagen gefragt, ›im Vertrauen – empfinden Sie wirklich Liebe für dieses Mädchen?‹ so hätte er erwidert: ›Liebe? Was ist Liebe? Wenn Sie meinen, ob ich für sie fühle wie für Irene in alten Tagen, wo ich ihr zuerst begegnete und sie mich nicht wollte, als ich seufzte und nach ihr hungerte und keine Minute Ruhe fand, bis sie nachgab – nein! Wenn Sie meinen, ob ich ihre Jugend und Schönheit bewundere, ob meine Sinne ein wenig erregt werden, wenn ich sie um mich sehe – ja! Ob ich glaube, daß sie mir treu bleiben, mir eine treffliche Frau sein wird und eine gute Mutter meiner Kinder? – abermals ja! Was brauche ich mehr? und was haben dreiviertel der Frauen, die verheiratet sind, mehr von den Männern, die sie heiraten?‹ Und wenn der Frager fortführe: ›Und Sie glauben, daß es recht war, dies Mädchen verlockt zu haben, sich Ihnen fürs Leben hinzugeben, ohne daß Sie wirklich ihrem Herzen nahe stehen?‹ würde er geantwortet haben: ›Die Franzosen sehen die Dinge anders an als wir. Sie betrachten die Ehe vom Standpunkt der Versorgung und der Kinder aus; und nach meinen eigenen Erfahrungen bin ich durchaus nicht sicher, ob ihre Ansicht nicht die vernünftigere ist. Ich werde diesmal nicht mehr erwarten, als ich erhalten oder sie geben kann. Es würde mich nicht überraschen, wenn ich in Jahren Verdruß mit ihr hätte, aber dann werde ich alt sein und Kinder haben. Ich werde die Augen schließen. Ich habe meine große Leidenschaft gehabt; die ihre kommt vielleicht noch – ich nehme nicht an, daß ich es sein werde. Ich biete ihr viel und erwarte nicht Großes dafür, außer Kinder, oder wenigstens einen Sohn. Eines aber weiß ich sicher, sie hat einen sehr guten Verstand!‹

Und wenn der unersättliche Frager fortführe: ›Sie sehen also nicht auf geistige Übereinstimmung in der Ehe?‹ würde Soames mit seinem gewohnten schiefen Lächeln hinzugefügt haben: ›Wenn ich Befriedigung für meine Sinne finde, Fortsetzung meiner selbst, guten Geschmack und gute Laune im Hause, ist es alles, was ich in meinem Alter erwarten kann. Vermutlich werde ich nicht von meiner Bahn abweichen und mich einer gekünstelten Sentimentalität zuwenden.‹ Worauf der Frager soviel Geschmack haben muß, seine Fragen einzustellen.

Die Königin war tot, und die Luft der größten Stadt auf Erden grau von unvergossenen Tränen. Im Pelz und Zylinder, Annette in dunkelm Pelz neben sich, ging Soames am Morgen der Beisetzungsfeierlichkeit durch Park Lane bis zum Gitter am Hydepark. Er war wenig bewegt, wie immer bei öffentlichen Anlässen, allein dies höchst symbolische Ereignis, dieser Abschluß einer langen reichen Periode machte doch Eindruck auf seine Phantasie. Im Jahre 1837 als sie auf den Thron kam, baute sein Vorfahr noch Häuser, die London verunzierten; und James, ein Springinsfeld von sechsundzwanzig Jahren, hatte eben den Grund zu seiner Rechtspraxis gelegt. Damals fuhren noch Kutschen; Männer trugen Stöcke, rasierten ihre Oberlippe und aßen Austern aus Tonnen; Lakaien standen hinten auf den Wagen; Frauen sprachen geziert und besaßen kein Vermögen; es gab verfeinerte Gebräuche und für die Armen Ferkelställe; unglückliche Teufel wurden kleiner Vergehen wegen gehängt, und Dickens hatte eben erst angefangen zu schreiben. Wohl zwei Generationen waren vergangen – mit Dampfbooten, Eisenbahnen, Telegraphen, Zweirädern, elekrischem Licht, Telephonen, und nun diesen Motorwagen – mit so aufgehäuftem Reichtum, daß acht Prozent drei geworden waren, und es Forsytes an die Tausende gab! Die Moral hatte sich geändert, die Sitten hatten sich geändert, Männer waren zu wahren Affen geworden, Gott war zu Mammon geworden – und der Mammon so zu Ansehen gekommen, daß er an sich selbst irre wurde. Sechsundvierzig Jahre, die den Besitz begünstigt und den besseren Mittelstand geschaffen hatten, ihn unterstützt, an ihm gefeilt, ihn verfeinert hatten, bis er in Sitten, Moral, Sprache, Aussehen, Kleidung und Seele vom Adel fast nicht zu unterscheiden war. Eine Epoche, die individuelle Freiheit vergoldet hatte, so daß jemand, der Geld besaß, frei vor dem Gesetz war und auch sonst, und wenn er kein Geld besaß, frei vor dem Gesetz und sonst nicht. Eine Ära, die Heuchelei heilig gesprochen hatte, so daß man achtungswert war, wenn man es zu sein schien. Eine große Zeit, deren umwandelndem Einfluß nichts entgangen war als die menschliche Natur und die Natur des Universums.

Und um dem Abschluß dieser Epoche beizuwohnen, ergoß London – ihr Liebling und ihre Lust – seine Bürger durch jedes Tor des Hydeparks, das Zentrum des viktorianischen Zeitalters, den glücklichen Jagdgrund der Forsytes. Unter grauem Himmel, dessen feiner Regen eben aufgehört, sammelte sich die dunkle Menge, um das Schauspiel zu sehen. Die ›gute alte‹ Königin, hoch an Jahren und voller Tugenden, war zum letzten Mal aus ihrer Abgeschlossenheit aufgetaucht, um London einen Feiertag zu bereiten. Aus Hounsditch, Acton, Ealing, Hampstead, Islington und Bethnal Green; aus Hackney, Hornsey, Leytonstone, Battersea und Fulham, und aus den grünen Gefilden, wo Forsytes gedeihen – aus Mayfair und Kensington, St. James' und Belgravia, Bayswater, Chelsea und dem Regent's Park schwärmten die Leute auf die Wege, wo der Tod gleich mit düsterm Pomp und Gepränge vorüberziehen sollte. Nie wieder würde eine Königin so lange regieren oder das Volk Gelegenheit haben, so viel Geschichte für sein Geld begraben zu sehen. Schade, daß der Krieg sich so lange hinzog und der Siegeskranz nicht auf ihren Sarg gelegt werden konnte! Sonst war alles zur Stelle bei der Gedächtnisfeier – Soldaten, Matrosen, fremde Fürsten, Flaggen auf Halbmast, läutende Glocken, und über allem die wogende, dunkel gekleidete Menge mit vielleicht einer schlichten Trauer hier und dort tief im Herzen unter der schwarzen Kleidung, die sie nach Vorschrift angelegt hatte. Schließlich ging ihr mehr als eine Königin zur letzten Ruhe ein, eine Frau, die dem Kummer Trotz geboten und klug und gut, ihren Fähigkeiten entsprechend gelebt hatte.

Draußen in der Menge am Gitter, den Arm in Annettens eingehakt, wartete Soames. Ja! Diese Zeit war vorbei! Mit diesen Gewerkschaftsverbänden, den Arbeiterführern im House of Commons, mit den kontinentalen Fiktionen und dem gewissen Etwas in dem allgemeinen Gefühl von den Dingen, das mit Worten nicht auszudrücken ist, war alles sehr verschieden gegen früher; er dachte an die Menge in der Mafekingnacht und an Georges Ausspruch: ›Sie sind alle Sozialisten, sie wollen unser Hab und Gut.‹ Wie James wußte Soames nicht, konnte er nichts sagen – wenn Edward auf dem Thron säße! Es würde nie wieder so sicher sein wie unter der guten alten Vicky! Krampfhaft drückte er den Arm seiner jungen Frau. Da wenigstens war etwas Greifbares sein Eigentum, endlich wieder eine häusliche Sicherheit, etwas, das Besitz der Mühe wert machte – wieder einmal etwas Reelles. Dicht an sie gepreßt versuchte Soames andere abzuwehren und war zufrieden. Die Menge umschwärmte sie, aß Sandwiches und ließ die Krumen fallen; Knaben, die auf die Platanen geklettert waren, gebärdeten sich wie Äffchen da oben und warfen Zweige und Orangeschalen herab. Es war schon über die Zeit, nun mußten sie bald kommen! Und plötzlich sah er ein wenig hinter ihnen zur Linken einen hochgewachsenen Mann mit weichem Hut und kurzem, etwas ergrautem Bart neben einer hochgewachsenen Frau in einer kleinen runden Pelzmütze mit Schleier. Jolyon und Irene, die miteinander sprachen, sich zulächelten, dicht beisammen wie Annette und er! Sie hatten ihn nicht gesehen; und verstohlen, mit einem sehr sonderbaren Gefühl im Herzen beobachtete Soames die beiden. Sie sahen glücklich aus! Wozu waren sie hierher gekommen – diese beiden, die unbekümmert gegen das Gesetz verstießen, diese Rebellen dem viktorianischen Ideal gegenüber? Was hatten sie in dieser Menge zu tun? Jeder von ihnen zweimal moralisch verurteilt – prahlten sie noch mit ihrer Liebe und ihren lockeren Sitten! Er beobachtete sie fasziniert, mußte selbst mit seinem Arme in Annettens unwillig einräumen, daß – daß sie – daß Irene – Nein! er wolle es nicht einräumen, und er wandte seinen Blick von ihnen ab. Er wollte sie nicht sehen und die alte Bitterkeit, das alte Sehnen nicht wieder in sich aufsteigen lassen! Und dann wandte Annette sich zu ihm und sagte: »Die beiden dort, Soames, kennen dich sicherlich. Wer sind sie?«

Soames schaute sich um.

»Welche beiden?«

»Dort, sieh, sie gehen gerade fort. Sie kennen dich.«

»Nein,« erwiderte Soames, »du irrst dich, meine Liebe.«

»Ein reizendes Gesicht! Und wie sie geht! Elle est très distinguée!«

Jetzt sah Soames hin. So war sie in sein Leben getreten und aus seinem Leben gegangen – schwebend und aufrecht, fremd, unnahbar, immer den Kontakt mit seinem Herzen vermeidend! Und jäh wandte er sich von dem enteilenden Bilde der Vergangenheit ab.

»Du solltest lieber aufpassen,« sagte er, »sie kommen jetzt!«

Er faßte ihren Arm, und während er dort scheinbar aufmerksam den Zug erwartend stand, durchzitterte ihn das Gefühl, immer etwas zu verlieren und das instinktive Bedauern, sie nicht beide bekommen zu haben.

Langsam kam die Musik und das Gefolge, bis der lange Zug sich unter Schweigen durch das Parktor wand. Er hörte Annette flüstern: »Wie traurig das ist und wie schön!« fühlte den Druck ihrer Hand, als sie sich auf den Zehenspitzen hob; und die Ergriffenheit der Menge machte Eindruck auf ihn. Da war sie – die Bahre der Königin, der Sarg des langsam scheidenden Zeitalters! Und als er vorüberkam, vernahm man ein dumpfes Stöhnen aus der langen Reihe der Zuschauer, einen Ton, wie ihn Soames noch nie gehört, so unbewußt, so ursprünglich, tief und wild, daß weder er noch irgend jemand wußte, ob er mit eingestimmt hatte. Ein sonderbarer Ton! Der Tribut eines Zeitalters an seinen eigenen Tod ... Ah! ... Ah! ... Der Halt im Leben war geschwunden! Was ewig schien, war gegangen! Die Königin – Gott segne sie!

Dieser wandernde Seufzer begleitete die Bahre wie ein Feuer, das in dünner Linie über Gras züngelt; er hielt Schritt mit ihr und marschierte Meile um Meile an der dichten Menge entlang. Es war ein menschlicher Laut und doch nicht menschlich, in tierischem Unterbewußtsein ausgestoßen, in vertrautem Wissen von allgemeinem Tod und Wandel. Keiner von uns – keiner von uns kann ewig fortdauern!

Schweigen entstand für kurze – eine sehr kurze Zeit, bis die Zungen eifrig wieder begannen ihr Interesse an dem Schauspiel zu bezeigen. Soames blieb gerade so lange, wie Annette Gefallen daran fand und ging dann mit ihr zum Essen zu seinem Vater nach Park Lane ...

James hatte den Morgen damit zugebracht, aus seinem Schlafzimmerfenster zu starren. Das letzte Schauspiel, das er sehen sollte – das letzte von so vielen! So war sie also gegangen! Nun, sie war eine alte Frau. Swithin und er hatten sie bei ihrer Krönung gesehen – ein schlankes junges Mädchen, kaum so alt wie Imogen. Sie war zuletzt sehr stark geworden. Jolyon und er hatten sie bei der Hochzeit mit diesem Deutschen, ihrem Gatten, gesehen – es war ganz gut mit ihm gegangen, bis er starb und sie mit einem Sohn zurückließ. Und er erinnerte sich der vielen Abende, wo er und seine Brüder mit ihren Freunden bei ihrem Wein und ihren Walnüssen die Köpfe über diesen Burschen in seiner jugendlichen Unerfahrenheit geschüttelt hatten. Und jetzt war er auf den Thron gekommen. Sie sagten, daß er zuverlässiger geworden war – er wußte nicht, – konnte nichts sagen! Er würde das Geld wohl noch springen lassen, ihn würde es nicht wundern! Was für eine Menge Leute da draußen waren! Es dünkte ihn gar nicht so lange, seit er und Swithin vor der Westminster-Abbey, wo sie gekrönt wurde, in der Menge gestanden und Swithin ihn hernach zu Cremorne mitgenommen hatte – ein flotter Bursch, dieser Swithin; nein, es schien nicht länger her zu sein, als das Jubiläumsjahr, wo er und Roger zusammen einen Balkon in der Piccadilly gemietet hatten. Jolyon, Swithin, Roger, alle waren dahin, und er würde neunzig sein im August! Und nun war Soames wieder verheiratet, mit einer Französin. Eine sonderbare Gesellschaft die Franzosen, aber ihre Frauen waren gute Mütter, hatte er gehört. Die Dinge ändern sich! Sie sagten, daß der deutsche Kaiser zur Beisetzung hier gewesen war, sein Telegramm an Krüger war auffallend geschmacklos. Er würde sich nicht wundern, wenn dieser Bursche einst Unfug triebe. Hm! Nun, sie mußten selbst für sich sorgen, wenn er gegangen war: er wußte nicht, wo er sein würde! Und nun hatte Emily Dartie zum Lunch eingeladen, mit Winifred und Imogen, um Soames' Frau kennen zu lernen – sie unternahm immer etwas. Und Irene lebte mit diesem Jolyon, sagten sie. Jetzt würde er sie wohl heiraten, nahm er an.

›Was hätte mein Bruder Jolyon zu alledem gesagt,‹ dachte er. Und die völlige Unmöglichkeit zu wissen, was sein älterer Bruder, zu dem er einst so aufgeblickt, gesagt hätte, quälte James so sehr, daß er von seinem Stuhl am Fenster aufstand und langsam, kraftlos im Zimmer auf und nieder zu gehen begann.

›Sie war ein hübsches Ding,‹ dachte er; ›ich mochte sie immer sehr gern. Vielleicht gefiel Soames ihr nicht – ich weiß nicht – ich kann's nicht sagen. Wir hatten nie Schwierigkeiten mit unsern Frauen.‹ Die Frauen hatten sich verändert – alles hatte sich verändert! Und nun war die Königin tot – ja, was war da zu tun! Eine Bewegung in der Menge bewog ihn, sich ans Fenster zu stellen, seine Nase an der Scheibe, wo sie von der Kälte ganz weiß wurde. Jetzt waren sie mit ihr bis zum Hydepark Corner gelangt – nun kamen sie vorüber! Weshalb kam Emily nicht hier nach oben, wo sie alles sehen konnte, anstatt soviel Wesens mit dem Lunch zu machen. Er vermißte sie in diesem Augenblick – vermißte sie! Durch die kahlen Zweige der Platanen konnte er den Zug sehen, konnte sehen, wie die Leute ihre Hüte abnahmen – er würde sich nicht wundern, wenn eine Menge von ihnen sich erkältete! Eine Stimme hinter ihm sagte:

»Du hast hier eine ausgezeichnete Aussicht, James!«

»Da bist du ja!« murmelte James, »weshalb bist du nicht früher gekommen? Du hättest es versäumen können.«

Und er schwieg und starrte mit aller Macht.

»Was ist das für ein Lärm?« fragte er plötzlich.

»Es ist kein Lärm,« erwiderte Emily, »was denkst du nur – sie werden doch nicht Vivat rufen.«

»Ich kann es hören.«

»Unsinn, James!«

Es kam kein Laut durch die Doppelfenster; was James hörte, war das Stöhnen im eigenen Herzen beim Anblick seines scheidenden Zeitalters.

»Sage mir nie, wo ich begraben werde,« sagte er plötzlich. »Ich will es nicht wissen.« Und er wandte sich vom Fenster. Da ging sie hin, die alte Königin; sie hat viel durchgemacht – sie wird froh sein, daß sie davon erlöst ist, sollte man meinen!

Emily nahm die Haarbürsten zur Hand.

»Es wird gerade noch Zeit sein, dein Haar zu bürsten,« sagte sie, »bevor sie kommen. Du mußt so gut aussehen, wie du kannst, James.«

»Ach!« sagte James; »sie sagen, daß sie hübsch sei.«

Die Begegnung mit seiner neuen Schwiegertochter fand im Speisezimmer statt. James saß am Kamin, als sie eintrat. Er legte die Hände auf die Lehne seines Armstuhls und erhob sich langsam. Vorgebeugt und tadellos in seinem Leibrock, dünn wie eine Linie im Euklid, nahm er Annettens Hand in die seine; und die ängstlichen Augen in seinem faltigen Gesicht, das jetzt seine Farbe verloren hatte, ruhten zweifelnd auf ihr. Aber im Widerschein ihrer blühenden Jugend kam wieder ein wenig Wärme in sie und seine Wangen.

»Wie geht's?« sagte er. »Ihr wart wohl dort, die Königin zu sehen, vermute ich? Kamt ihr gut herüber?« Auf diese Weise begrüßte er sie, von der er auf einen Enkel seines Namens hoffte, Annette starrte ihn an, wie alt, wie dünn und weiß und tadellos er war, und murmelte einige Worte auf französisch, die er nicht verstand.

»Ja, ja,« sagte er, »ihr wollt euern Lunch, glaube ich. Soames klingle doch; wir wollen auf Dartie nicht warten.« Aber gerade da langten sie an. Dartie hatte sich geweigert, sich zu inkommodieren, um ›the old girl‹ zu sehen. Mit einem frühen Cocktail neben sich hatte er vom Rauchzimmer des Iseeum Klubs aus alles mit angeschaut, so daß Winifred und Imogen genötigt waren, aus dem Park zurückzugehen und ihn dort abzuholen. Seine braunen Augen ruhten mit einem Starren beinah erstaunter Befriedigung auf Annette. Die zweite Schönheit, die dieser Soames aufgegabelt hatte! Was die Frauen nur an ihm finden mochten! Nun, sie würde ihm sicherlich wohl denselben Streich spielen wie die andere; dabei aber war er doch ein Glückspilz! Und er strich sich den Schnurrbart; in den neun Monaten der Green Street-Häuslichkeit hatte er beinah all sein Fleisch und seine Sicherheit wiedergewonnen. Trotz der freundlichen Anstrengungen Emilys, Winifreds gefaßter Ruhe, Imogens teilnehmender Freundlichkeit, Darties Aufgeblasenheit und James' Fürsorge für ihr Essen, war es doch, Soames fühlte es, kein Erfolg für seine junge Frau. Er ging sehr bald mit ihr fort.

»Dieser Monsieur Dartie,« sagte Annette in der Droschke, »je n'aime pas ce type-là!«

»Nein, wahrhaftig!« sagte Soames.

»Deine Schwester ist sehr liebenswürdig, und das Mädel ist hübsch. Aber dein Vater ist sehr alt. Ich glaube, deine Mutter muß es schwer mit ihm haben; ich möchte nicht an ihrer Stelle sein.«

Soames nickte zu der Scharfsichtigkeit, dem klaren, harten Urteil seiner jungen Frau; aber es beunruhigte ihn ein wenig. Ihn mochte wohl auch der Gedanke durchzuckt haben: ›Wenn ich achtzig bin, ist sie fünf und fünfzig und wird es schwer mit mir haben!‹

»Ich muß dich noch in ein anderes Haus meiner Verwandtschaft führen,« sagte er; »du wirst es komisch finden, aber wir müssen es abmachen, und dann wollen wir essen und ins Theater gehen.«

Auf diese Weise bereitete er sie auf Timothy und seine Schwestern vor. Aber bei ihnen war es anders. Sie waren entzückt, den lieben Soames nach so langer Zeit zu sehen; und das also war Annette!

»Du bist so hübsch, meine Liebe, beinah zu jung und hübsch für den lieben Soames, nicht wahr? Aber er ist sehr aufmerksam und sorgsam – solch ein guter Ehem –« Tante Juley hielt inne und drückte ihre Lippen auf Annettens Augen – sie beschrieb sie nachher Francie, die zufällig hinkam: »Sie sind kornblumenblau,« sagte sie, »so schön, ich mußte sie wirklich küssen. Ich muß sagen, Soames ist ein ausgezeichneter Kenner. In ihrer französischen Art, die aber nicht zu französisch ist – finde ich sie eben so hübsch – wenn auch nicht so vornehm, nicht so verführerisch – wie Irene. Denn sie war verführerisch, nicht wahr? mit der weißen Haut und den dunklen Augen, und dem Haar, couleur de – wie war es doch? Ich vergesse es immer.«

»Feuille morte,« erwiderte Francie.

»Natürlich, welke Blätter – merkwürdig. Ich erinnere mich, daß wir, als ich ein junges Mädchen war, bevor wir nach London kamen, einen jungen Fuchshund hatten; er hatte einen braunen Schopf auf dem Kopf und eine weiße Brust, und schöne braune Augen, und es war eine Lady.«

»Ja, Tantchen,« sagte Francie, »aber ich sehe nicht den Zusammenhang.«

»O!« erwiderte Tante Juley, ziemlich erregt, »er war so reizend, aber ihre Augen und ihr Haar, weißt du –« sie schwieg, wie ertappt bei einer Unzartheit. »Feuille morte,« fügte sie plötzlich hinzu. »Hester, vergiß es nicht!«

Es entstand eine große Debatte zwischen den beiden Schwestern, ob Timothy gerufen werden sollte, um Annette zu sehen.

»Ach, macht euch keine Umstände!« sagte Soames.

»Aber es macht garnichts aus, nur natürlich, daß Annette Französin ist, könnte ihn ein wenig aufregen. Er war so empört über Faschoda. Ich glaube, wir sollten es lieber nicht wagen, Hester. Es ist so hübsch, sie ganz für uns zu haben, nicht wahr? Und wie geht es dir, Soames? Bist du ganz hinweg über deine –«

Hester unterbrach sie schleunigst:

»Wie gefällt dir London, Annette?«

Soames wartete beunruhigt auf die Antwort. Sie kam, verständig, gelassen: »Oh! Ich kenne London, ich bin schon früher hier gewesen.«

Er hatte nie gewagt, über die Sache mit dem Restaurant mit ihr zu sprechen. Die Franzosen hatten andere Ansichten über Vornehmheit, und vor einer Beziehung dazu zurückzuschrecken, kam ihr vielleicht lächerlich vor; er hatte bis zu seiner Verheiratung gewartet, ehe er es erwähnte; und jetzt wünschte er es nie getan zu haben.

»Und welchen Teil kennst du am besten?« fragte Tante Juley.

»Soho,« sagte Annette einfach.

Soames preßte die Lippen zusammen.

»Soho?« wiederholte Tante Juley; »Soho?«

›Das wird die Runde durch die Familie machen,‹ dachte Soames.

»Es ist sehr französisch und interessant,« sagte er.

»Ja,« murmelte Tante Juley, »dein Onkel Roger hatte dort einst mehrere Häuser; er mußte immer die Mieter hinauswerfen, erinnere ich mich.«

Soames brachte das Gespräch auf Mapledurham.

»Natürlich,« sagte Tante Juley, »ihr werdet wohl sehr bald dorthin gehen, um euch einzurichten. Wir freuen uns alle so sehr auf die Zeit, wo Annette ein kleines liebes –«

»Juley,« rief Tante Hester verzweifelt, klingle nach dem Tee!«

Soames wagte nicht auf den Tee zu warten und ging mit Annette fort.

»Ich würde an deiner Stelle Soho nicht erwähnen,« sagte er in der Droschke. »Es ist ein ziemlich obskurer Teil von London, und du hast jetzt nichts mehr mit der Restaurantgeschichte zu tun; ich meine,« fügte er hinzu, »ich möchte gern, daß du nette Leute kennst, und Engländer sind furchtbare Snobs.«

Annettens klare Augen öffneten sich weit und ein leises Lächeln kam auf ihre Lippen.

»Ja?« sagte sie.

›Hm!‹ dachte Soames, ›das ist auf mich gemünzt!‹ und er sah sie scharf an. ›Sie hat einen guten Geschäftsinstinkt,‹ dachte er. ›Ich muß es ihr ein für allemal verständlich machen.‹

»Sieh mal, Anette! es ist sehr einfach, nur muß man es verstehen. Unsere Berufs- und freien Klassen dünken sich noch ein Stück über unsern Geschäftsklassen, ausgenommen natürlich die sehr Reichen. Es mag töricht sein, aber es ist so, siehst du. Es ist nicht ratsam, in England die Leute wissen zu lassen, daß du ein Restaurant hattest oder einen Laden oder überhaupt in irgend einem Geschäft tätig warst. Es mag außerordentlich achtungswert gewesen sein, aber es drückt dir gewissermaßen einen Stempel auf, du hast es nicht so gut und lernst nicht so nette Leute kennen – es hat keinen Zweck.«

»Ich verstehe,« sagte Annette, »in Frankreich ist es auch so.«

»So,« murmelte Soames ebenso erleichtert wie bestürzt, »es kommt natürlich nur auf die Klasse an.«

»Jawohl,« sagte Annette, »comme vous êtes sage.«

›Das ist alles ganz gut,‹ dachte Soames, indem er ihre Lippen beobachtete, ›nur ist sie ziemlich zynisch.‹ Seine Kenntnis des Französischen war noch nicht so, daß es ihm Kummer machen konnte, weil sie nicht ›tu‹ gesagt hatte. Er legte den Arm um sie und murmelte mit Anstrengung:

»Et vous êtes ma belle femme.«

Annette bekam einen kleinen Lachanfall.

»O, non,« sagte sie. »O, non! ne parlez pas français, Soames. Worauf freut sich die alte Dame, deine Tante, so?«

Soames biß sich auf die Lippen. »Gott weiß,« sagte er, »sie sagt immer so etwas,« aber er wußte es besser als Gott.


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