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Fünftes Kapitel

James hat Gesichte

Der Butler öffnete ihm selbst die Tür und hielt Soames, nachdem er sie wieder leise geschlossen hatte, auf der inneren Matte zurück.

»Dem Herrn geht es gar nicht gut, Sir,« murmelte er. »Er wollte nicht zu Bett gehen, bevor Sie kämen. Er ist noch im Speisezimmer.«

Soames fragte in dem gedämpften Ton, der jetzt im Hause üblich war:

»Was fehlt ihm, Warmson?«

»Nervös, Sir, denke ich. Mag sein, daß es das Begräbnis war, es mag auch der Besuch von Mrs. Dartie heute nachmittag sein. Ich glaube, er hörte etwas. Ich brachte ihm ein Glas Glühwein hinein. Die gnädige Frau ist eben nach oben gegangen.«

Soames hängte seinen Hut an ein Hirschgeweih aus Mahagoniholz.

»Gut, Warmson, Sie können zu Bett gehen, ich bringe ihn selbst nach oben.« Und er ging ins Speisezimmer.

James saß am Kamin in einem großen Armstuhl, um die Schultern einen sehr leichten warmen Schal aus Kamelhaar über dem Rock, auf den sein langer weißer Bart herabfiel. Sein weißes, noch sehr dichtes Haar leuchtete im Schein der Lampe, etwas Feuchtigkeit aus seinen starren, hellgrauen Augen benetzte die Wangen, die noch eine ganz gute Farbe hatten, und lange tiefe Furchen liefen bis zu den Mundwinkeln an den glattrasierten Lippen, die sich leise murmelnd bewegten. Seine langen Beine, dünn wie Krähenbeine, in wollenen Beinkleidern, waren fast im rechten Winkel gebogen, und auf einem Knie bewegte sich unablässig eine spindeldürre Hand mit gespreizten Fingern und blanken, zugespitzten Nägeln. Neben ihm, auf einem niedrigen Stuhl, stand ein halb geleertes Glas Glühwein mit kleinen Bläschen betaut. Dort hatte er, mit Unterbrechung der Mahlzeiten, den ganzen Tag gesessen. Mit seinen achtundachtzig Jahren war er organisch noch ganz gesund, litt aber furchtbar bei dem Gedanken, daß niemand ihm je etwas sagte. Es war in der Tat unbegreiflich, wie er dahinter gekommen war, daß Roger an diesem Tage beerdigt worden war, denn Emily hatte es ihm verschwiegen. Sie verschwieg ihm immer alles. Emily war erst siebzig! James hatte einen Groll auf die Jugend seiner Frau. Zuweilen kam ihm der Gedanke, daß er sie nie geheiratet hätte, wenn er gewußt, daß sie soviele Jahre vor sich haben würde, wo er so wenige hatte. Es war unnatürlich. Sie würde noch fünfzehn oder zwanzig Jahre leben, nachdem er gegangen war, und eine Menge Geld ausgeben; sie hatte immer extravagante Gelüste. Womöglich würde sie einen dieser Motorwagen kaufen wollen. Cicely und Rachel und all die jungen Leute radelten jetzt auf diesen Zweirädern, weiß Gott, wohin. Und nun war Roger gestorben. Er wußte nicht – konnte nichts sagen! Die Familie begann sich aufzulösen. Soames würde wissen, wieviel sein Onkel hinterlassen hatte. Merkwürdig, daß er an Roger als Soames' Oheim und nicht als seinen eigenen Bruder dachte. Soames! Er war mehr denn je der einzige feste Punkt in einer schwindenden Welt. Soames war sorgsam, er war ein reicher Mann, aber er hatte niemand, dem er sein Geld hinterlassen konnte. Das war es! Na, er wußte nicht! Und dann war da dieser Chamberlain! James' politische Grundsätze stammten nämlich aus der Zeit zwischen 70 und 85, wo dieser ›spitzbübische Radikale‹ der Hauptstachel in der Seite des Besitzes war, und er mißtraute ihm trotz seines Umschwenkens bis auf den heutigen Tag, er würde das Land in Ungelegenheit bringen und das Geld zum Sinken, ehe er sich's versah. Ein wahrer Heißsporn dieser Mann! Wo blieb Soames nur? Er war natürlich zu dem Begräbnis gegangen, das sie versucht hatten ihm zu verheimlichen. Er wußte es wohl, er hatte ja die Beinkleider seines Sohnes gesehen. Roger! Roger in seinem Sarge! Er erinnerte sich, wie Roger, wenn sie auf dem Bock der alten Kutsche im Jahre 1824 zusammen aus der Schule kamen, in den Wagenkasten stieg und einschlief. James kicherte leise. Ein komischer Bursche, dieser Roger – ein Original! Merkwürdig! Jünger als er selbst, und in seinem Sarg! Die Familie fing an sich aufzulösen. Da war Val, der nach Oxford sollte; er besuchte ihn jetzt nie. Er würde dort einen schönen Batzen Geld kosten. Es war ein leichtsinniges Zeitalter. Und all die schönen Groschen, die seine vier Enkelkinder ihn kosten würden, tanzten vor James' Augen. Er mißgönnte ihnen das Geld nicht, aber ihn verdroß die Gefahr, die der Verbrauch dieses Geldes mit sich bringen könnte, ihn verdroß die Verminderung der Sicherheit. Und jetzt, wo Cicely geheiratet hatte, konnte sie auch Kinder bekommen. Er wußte nicht – konnte nichts sagen! Niemand hatte einen andern Gedanken in diesen Tagen als Geld auszugeben, herumzujagen und ›sich einen guten Tag‹ zu machen, wie man es nennt. Ein Motorwagen fuhr am Fenster vorüber. Gräßliches, plundriges Ding, und macht solch ein Getöse! Aber so ging es, das Land kam auf den Hund. Die Leute sind in solcher Eile, daß sie sich nicht einmal um Stil kümmern konnten – so etwas Fesches wie seine Kalesche mit den Braunen wog doch all diese neumodischen Dinger auf. Und Konsols zu 116! Es mußte eine Menge Geld im Lande sein. Und nun kam dieser alte Krüger! Sie hatten versucht ihm den alten Krüger zu verheimlichen. Aber er wußte es, das würde eine schöne Bescherung geben da draußen! Er hatte auch gewußt wie es kommen würde, als dieser Gladstone – er war jetzt tot, Gott sei Dank! – nach jener schrecklichen Geschichte in Majuba solchen Unfug trieb. Er würde sich nicht wundern, wenn das Reich zersplitterte und zum Teufel ging. Und diese Vision des Reiches, das zum Teufel ging, füllte eine volle Viertelstunde mit Wallungen höchst ernsten Charakters aus. Er hatte ihretwegen nur ein kärgliches Frühstück gegessen, doch erst nach dem Frühstück war das wahre Unheil über ihn gekommen. Er hatte ein wenig geschlummert, als er Stimmen – leise Stimmen vernahm. Ach! Sie sagten ihm nie was! Es waren die Winifreds und ihrer Mutter. ›Monty!‹ Dieser Dartie – immer dieser Darty! Die Stimmen waren verstummt, und James war allein geblieben, mit gespitzten Ohren wie die eines Hasen, und einer Furcht, die in seinen Eingeweiden wühlte. Weshalb ließen sie ihn allein? Weshalb kamen sie nicht und sagten es ihm? Und ein fürchterlicher Gedanke, der lange Jahre in ihm gespukt hatte, fuhr ihm wieder durch den Sinn. Dartie hatte Bankrott gemacht – betrügerischen Bankrott, und um Winifred und die Kinder zu retten, würde er – James – zahlen müssen! Konnte er – konnte Soames ihn zu einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung umwandeln? Nein, das konnte er nicht! Das war es! Mit jeder Minute, bevor Emily zurückkam, wurde das Gespenst drohender. Es konnten ja Fälschungen vorgekommen sein! Den Blick auf den zweifelhaften Turner mitten an der Wand gerichtet, litt James Qualen. Er sah Dartie schon im Gefängnis, seine Enkel in der Gosse und sich selbst im Bett. Er sah den zweifelhaften Turner, den er bei Jobson gekauft hatte, und das ganz majestätische Gebäude des Besitzes in Trümmern. Im Geiste sah er Winifred unmodisch gekleidet und hörte Emilys Stimme sagen: ›Rege dich nicht auf, James!‹ Immer sagte sie, rege dich nicht auf. Sie hatte keine Nerven, er hätte nie eine Frau heiraten sollen, die achtzehn Jahre jünger war als er. Dann sagte Emilys wirkliche Stimme:

»Hast du ein gutes Schläfchen gemacht, James?«

Schläfchen! Er war wie auf der Folter, und sie fragte ihn das!

»Um was handelt es sich bei Dartie?« fragte er und seine Augen starrten sie an.

Emily verlor nie ihre Selbstbeherrschung.

»Was hast du gehört?« fragte sie sanft.

»Was ist's mit Dartie?« wiederholte James. »Er hat Bankrott gemacht.«

»Unsinn!«

James machte eine große Anstrengung und erhob sich zu voller Höhe seiner storchähnlichen Gestalt.

»Du sagst mir nie was,« sagte er, »er hat Bankrott gemacht.«

Die Zerstreuung dieser fixen Idee schien Emily das erste, was in diesem Augenblick zu tun war.

»Er hat nicht Bankrott gemacht,« sagte sie fest. »Er ist nach Buenos Aires gegangen.«

Hätte sie gesagt, ›er ist auf den Mars gegangen,‹ so wäre der Schlag für James nicht lähmender gewesen; sein Vorstellungsvermögen, das ganz auf britische Staatspapiere eingestellt war, konnte weder diesen Ort noch den andern fassen.

»Wozu ist er dort hingegangen?« sagte er. »Er hat kein Geld. Was hat er genommen?«

Durch Winifreds Bericht innerlich erregt und aufgestachelt durch die beständige Wiederholung dieser Jeremiaden sagte Emily ruhig:

»Er nahm Winifreds Perlen und eine Tänzerin mit.«

»Wie?« rief James und setzte sich.

Sein plötzliches Zusammenklappen beunruhigte sie, sie strich ihm über die Stirn und sagte:

»Rege dich nicht auf, James!«

Ein dunkles Rot hatte sich über James' Wangen und Stirn gelegt.

»Ich habe sie bezahlt,« sagte er zitternd, »er ist ein Dieb! Ich – ich wußte, wie es kommen würde. Er wird mein Tod sein, er –« die Worte fehlten ihm und er saß ganz still da. Emily, die ihn so gut zu kennen glaubte, war beunruhigt und ging an den Seitentisch, wo sie etwas Riechsalz stehen hatte. Sie konnte in der hageren, zitternden Gestalt den hartnäckigen Forsytegeist nicht gegen das Übermaß von Erregung kämpfen sehen, das durch diese Beschimpfung Forsytescher Grundsätze hervorgerufen war – den Forsytegeist tief innen nicht sagen hören: ›Du darfst dich nicht so aufregen. Du wirst dein Frühstück nicht verdauen. Du wirst einen Anfall bekommen!‹ Ungesehen von ihr wirkte das besser bei James als Riechsalz.

»Nimm dies,« sagte sie.

James schob es zur Seite.

»Wie konnte Winifred ihn ihre Perlen nehmen lassen?« fragte er. Emily sah, daß die Krise vorüber war.

»Sie kann meine haben,« sagte sie tröstend. »Ich trage sie nie. Sie sollten sich lieber scheiden lassen.«

»Da haben wir's!« sagte James. »Scheiden lassen! Wir hatten nie eine Scheidung in der Familie. Wo ist Soames?«

»Er wird wohl gleich hier sein.«

»Nein, das wird er nicht,« sagte James beinah wütend, »er ist zum Begräbnis. Du denkst, ich weiß von nichts.«

»Ja,« sagte Emily ruhig, »du solltest dich nicht so aufregen, wenn wir dir etwas sagen.« Und indem sie seine Kissen aufschüttelte und das Riechsalz neben ihn gestellt hatte, verließ sie das Zimmer.

James aber saß da und sah im Geiste schon Winifred vor dem Ehescheidungsgericht und den Namen der Familie in den Zeitungen vor sich, sah die Erde auf Rogers Sarg fallen, Val seinem Vater nacharten, die Perlen, die er bezahlt hatte und nie wiedersehen würde, sah Geld auf vier Prozent sinken und das Land auf den Hund kommen. Und als der Nachmittag zum Abend wurde, die Teezeit vorüber war und die Essenszeit, wurden diese Visionen immer drohender und wirrer – ihm sagte keiner was, und selbst wenn nichts von all seinem Reichtum übrig bliebe, würde ihm auch keiner was sagen. Wo blieb Soames nur? Weshalb kam er nicht herein? ... Seine Hand griff nach dem Glühweinglas, er hob es, um zu trinken, und sah seinen Sohn dastehen und ihn anschauen. Ein leiser Seufzer der Erleichterung entschlüpfte seinen Lippen, und das Glas niedersetzend, sagte er:

»Da bist du ja! Dartie ist nach Buenos Aires gegangen.«

Soames nickte. »Ganz gut,« sagte er, »daß wir ihn los sind.«

Eine Welle der Besänftigung breitete sich über James' Hirn. Soames wußte. Soames war der einzige von ihnen allen, der Verstand hatte. Weshalb konnte er nicht kommen und zu Haus leben? Er hatte keinen Sohn. Und er sagte kläglich:

»Ich werde nervös in meinem Alter. Ich wünschte, du wärst mehr zu Haus, mein Junge.«

Wieder nickte Soames. Die Maske seines Gesichts verriet kein Verständnis, aber er ging näher zu ihm hin und berührte wie zufällig die Schulter seines Vaters.

»Ich soll dich von Timothy und den Tanten grüßen,« sagte er. »Es verlief alles in bester Ordnung. Ich war bei Winifred. Ich werde die Sache in die Hand nehmen.« Und er dachte: Ja, und du darfst nichts davon erfahren.'

James blickte auf. Sein langer weißer Backenbart bebte, sein dünner Hals zwischen den Spitzen seines Kragens sah sehr dürr und kahl aus.

»Es ging mir sehr schlecht den ganzen Tag,« sagte er, »sie sagen mir nie was.«

Soames' Herz zuckte.

»Es ist alles in Ordnung. Kein Grund sich Sorgen zu machen. Willst du jetzt hinaufgehen?« und er schob seine Hand unter den Arm seines Vaters.

James erhob sich gehorsam und zitternd und sie gingen zusammen langsam durch das Zimmer, das der Schein des Feuers hell erleuchtete, und auf die Treppe hinaus. Sehr langsam stiegen sie hinauf.

»Gute Nacht, mein Junge,« sagte James an der Tür seines Schlafzimmers.

»Gute Nacht, Vater,« antwortete Soames. Seine Hand strich am Ärmel unter dem Schal entlang; es schien beinah nichts darin zu sein, so dünn war der Arm. Er wandte sich von dem Licht der sich öffnenden Tür ab und ging die Treppe hinauf, die zu seinem Schlafzimmer führte.

›Ich muß einen Sohn haben,‹ dachte er, als er auf dem Rande seines Bettes saß, › ich muß einen Sohn haben.‹


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