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Zwölftes Kapitel

An der Forsytebörse

Soames gehörte zwei Klubs an, ›The Connoisseurs‹, den er auf seiner Karte vermerkte und selten besuchte, und ›The Remove‹, der nicht auf seiner Karte stand und den er häufig besuchte. Er hatte sich diesen liberalen Vereinigungen vor fünf Jahren angeschlossen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß deren Mitglieder, was Herz und Beutel anbetraf, wenn auch nicht grundsätzlich, jetzt fast alle richtige Konservative waren. Onkel Nicholas hatte ihn dort eingeführt. Das schöne Lesezimmer war im Stile Adams ausgestattet.

Als er an diesem Abend eintrat, warf er einen Blick auf die Telegramme aus Transvaal und sah dann, daß Konsols seit heute morgen sehr gefallen waren. Er kehrte um, das Lesezimmer aufzusuchen, als eine Stimme hinter ihm sagte:

»Alles gut abgelaufen, Soames.«

Es war Onkel Nicholas in einem Schoßrock, mit seinem speziellen Stehkragen und einer schwarzen Krawatte, die durch einen Ring gezogen war. Herrgott! Wie jung und frisch er aussah mit seinen zweiundachtzig Jahren!

»Ich glaube, Roger hätte sich gefreut,« fuhr sein Onkel fort. »Die Sache ging sehr gut. Blackleys? Ich will es mir notieren. Buxton war nicht für mich. Ich bin empört über diese Buren – und dieser Chamberlain treibt das Land in den Krieg. Was sagst du dazu?«

»Es mußte so kommen,« murmelte Soames.

Nicholas strich mit der Hand über seine glatt rasierten Wangen, die sehr rosig aussahen nach seiner Sommerkur. Diese Sache hatte alle seine liberalen Grundsätze wieder aufgefrischt.

»Ich traue diesem Burschen nicht, er ist ein verwegener Heißsporn. Grundstücke werden heruntergehen, wenn der Krieg ausbricht. Du wirst Schwierigkeiten mit Rogers Häusern haben. Ich habe ihm immer gesagt, sich einiger von ihnen zu entledigen. Er war ein eigensinniger Starrkopf.«

›Ihr konntet euch beide sehen lassen!‹ dachte Soames. Aber er stritt nie mit einem Onkel und blieb auf die Art der ›schlaue Kopf‹ für sie und der Verwalter ihres Besitzes.

»Ich erfuhr bei Timothy,« sagte Nicholas, »daß Dartie auf und davon ist. Das wird eine Erlösung für deinen Vater sein. Er war ein elender Geselle.«

Wieder nickte Soames. Wenn es etwas gab, worin die Forsytes wirklich übereinstimmten, war es die Ansicht über den Charakter Montague Darties.

»Seht euch nur vor,« sagte Nicholas, »sonst taucht er wieder auf. Winifred sollte lieber kurzen Prozeß machen, sage ich. Es hat keinen Zweck zu behalten, was nicht taugt.«

Soames blickte ihn von der Seite an. Erbittert durch die Unterredung, die er eben gehabt, meinte er eine persönliche Anspielung aus diesen Worten herauszuhören.

»Ich führe ihre Sache,« sagte er kurz.

»Na,« sagte Nicholas, »der Wagen wartet, ich muß nach Haus. Ich fühle mich recht elend. Grüße deinen Vater.«

Und nachdem er die Bande des Bluts auf diese Weise wieder erneuert hatte, ging er mit seinem jugendlichen Gang die Stufen hinunter und ließ sich vom Portier in seinen Pelz einhüllen.

›Ich habe Onkel Nicholas nie anders als ›sehr elend‹ gekannt,‹ dachte Soames bei sich, ›oder ihn anders als unverwüstlich gesehen. Welch eine Familie! Nach ihm zu urteilen, habe ich noch achtunddreißig Jahre der Gesundheit vor mir. Nun, ich bin nicht gesonnen, sie zu vergeuden.‹ Darauf trat er an den Spiegel und schaute sein Gesicht darin an. Abgesehen von einer Linie oder zweien und drei oder vier grauen Haaren in seinem kleinen dunkeln Schnurrbart war er doch nicht mehr gealtert als Irene? Auf der Höhe des Lebens – er und sie auf der Höhe des Lebens! Und ein phantastischer Gedanke schoß in ihm auf. Er war absurd! Idiotisch! Doch er kam immer wieder. Und sehr beunruhigt durch diese stete Wiederkehr, wie man es bei wiederholten Kälteschauern ist, die einem Fieberanfall vorangehen, setzte er sich auf die Wage. Nur ein Unterschied von zwei Pfund in zwanzig Jahren. Wie alt war sie? Beinah siebenunddreißig – nicht zu alt, ein Kind zu haben – durchaus nicht zu alt! Siebenunddreißig am neunten des folgenden Monats. Er wußte ihren Geburtstag genau – er hatte immer gewissenhaft daran gedacht, selbst an den letzten, kurz bevor sie ihn verließ, als er fast die Gewißheit hatte, daß sie ihm untreu war. Vier Geburtstage in seinem Hause. Er hatte sich darauf gefreut, weil er durch seine Geschenke einen Schimmer von Dankbarkeit, einen leisen Anflug von Wärme erhoffte. Ausgenommen allerdings auf jenen letzten Geburtstag – der ihn verleitet hatte, zu gewissenhaft zu sein! Und in Gedanken wandte er sich rasch ab. Erinnerung häuft welke Blätter auf begrabene Taten, darunter sie viel weniger verletzend sind für das Gefühl. Und dann dachte er plötzlich: ›Ich könnte ihr ein Geschenk zu ihrem Geburtstag senden. Schließlich sind wir doch Christen! Könnte ich nicht – könnten wir uns nicht wieder vereinigen!‹ Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Annette! Ach, aber zwischen ihm und Annette stand die Notwendigkeit dieses verwünschten Scheidungsprozesses! Doch wie?

›Ein Mann kann diese Dinge immer durchsetzen, wenn er alles auf sich nimmt,‹ hatte Jolyon gesagt.

Weshalb aber sollte er, eine ›Säule des Gesetzes‹, den Skandal auf sich nehmen, wo seine ganze Karriere auf dem Spiele stand? Das war zuviel verlangt. War Donquichotterie! Zwölf Jahre Trennung, in denen er keine Schritte getan, sich frei zu machen, nahmen ihm die Möglichkeit, ihr Verhältnis zu Bosinney als Scheidungsgrund zu benutzen. Da er früher nichts unternommen hatte, sich zu befreien, war anzunehmen, daß er einverstanden gewesen, selbst wenn die Beweise jetzt beizubringen waren, was mehr als zweifelhaft schien. Überdies würde sein Stolz ihm nie gestatten, sich auf diese alte Geschichte zu berufen, er hatte zuviel dadurch gelitten. Nein! Nur ein neues Vergehen ihrerseits konnte – aber sie hatte es geleugnet, und – beinah – hatte er es geglaubt. Er war machtlos! Völlig machtlos!

Mit einem Gefühl seelischen Unbehagens erhob er sich von dem eingedrückten roten Samtsitz. Er fürchtete keinen Schlaf zu finden bei diesen Gedanken, nahm daher wieder Hut und Mantel und ging hinaus, dem Osten zu. Am Trafalgar Square bemerkte er eine ungewöhnliche Bewegung vom ›Strand‹ her. Es waren Zeitungsverkäufer, die so laut schrien, daß kein Wort zu verstehen war. Er blieb stehen, um zu hören, und einer von ihnen kam heran.

›Extrablatt! Ultimatum von Krüger! Kriegserklärung!‹ Soames kaufte das Blatt. Sein erster Gedanke war: ›Die Buren begehen Selbstmord.‹ Sein zweiter: ›Hab ich noch irgend etwas, das verkauft werden müßte?‹ Wenn es so wäre, hatte er die Gelegenheit verpaßt – morgen würde es in der City sicher einen ›Krach‹ geben. Er schob diesen Gedanken energisch von sich. Dies Ultimatum war unverschämt – er war eher bereit, Geld zu verlieren, als sich das bieten zu lassen. Ihnen war eine Lehre nötig, und sie sollten sie haben; aber es würde mindestens drei Monate dauern, mit ihnen fertig zu werden. Es waren keine Truppen draußen. Immer hinter der Zeit, die Regierung! Der Teufel hole diese Zeitungsratten! Welchen Zweck hatte es, die Leute aufzuwecken? Zum Frühstück morgen war auch noch Zeit genug dazu. Und er dachte mit Beunruhigung an seinen Vater. Sie würden es in Park Lane ausrufen. Er winkte eine Droschke heran, stieg ein und hieß den Kutscher dorthin fahren.

James und Emily waren eben hinaufgegangen, um zu Bett zu gehen, und nachdem er Warmson die Nachricht mitgeteilt hatte, schickte Soames sich an, ihnen zu folgen, blieb aber zögernd stehen und sagte:

»Wie denken Sie darüber, Warmson?«

Der Butler unterbrach das Bürsten des Zylinders, den Soames abgelegt hatte, und sagte, sein Gesicht ein wenig vorneigend, mit leiser Stimme:

»Ja, Sir, sie werden kein Glück haben, natürlich, aber man sagt, daß sie gute Schützen seien. Ich habe einen Sohn bei den Dragonern.«

»Sie, Warmson? Ich wußte gar nicht, daß Sie verheiratet sind?«

»Nein, Sir. Ich spreche nicht davon. Ich glaube, er muß mit hinaus.«

Es überraschte Soames zu entdecken, daß er so wenig von jemand wußte, den er so gut zu kennen glaubte, schlimmer aber war die Entdeckung, daß der Krieg einen persönlich berühren konnte. Im Jahre des Krimkrieges geboren, war er erst zum Bewußtsein erwacht, als der indische Aufstand vorüber war; seitdem waren die vielen kleinen Kriege des britischen Reiches ausschließlich militärisch gewesen, standen in gar keinem Zusammenhang mit den Forsytes und allem, für das sie eintraten im Staat. Dieser Krieg würde sicher keine Ausnahme machen. Aber im Geiste nahm er eilig die ganze Familie durch. Zwei von den Haymans waren in irgend eine Freiwilligentruppe eingetreten, wie er gehört hatte – das war immer ein angenehmer Gedanke, denn die Freiwilligentruppen nahmen eine gewisse Ausnahmestellung ein; sie trugen oder pflegten eine blaue Uniform mit Silber zu tragen, und sie waren zu Pferde. Und Archibald, erinnerte er sich, war eine Zeitlang beim Militär gewesen, hatte es aber wieder aufgegeben, weil sein Vater, Nicholas, so aufgebracht darüber gewesen war, daß er ›seine Zeit damit vergeudete, so geckenhaft in Uniform umherzustolzieren‹. Kürzlich hatte er irgendwo gehört, daß der Älteste des jungen Nicholas, der jüngste Nicholas, Freiwilliger geworden war. ›Nein,‹ dachte Soames und stieg langsam die Treppen hinauf, ›es ist nichts daran!‹

Er stand im Flur vor dem Schlaf- und Ankleidezimmer seiner Eltern und überlegte, ob er eben einmal hineinschauen und ihnen ein beruhigendes Wort sagen sollte oder nicht. Er öffnete das Flurfenster und horchte. Das Getöse von Piccadilly war alles, was er hörte, und unwillkürlich kam ihm der Gedanke, daß, ›wenn es so weiter ginge mit diesen Motorwagen, die Häuser darunter leiden würden‹; doch als er im Begriff war, in sein Zimmer hinaufzugehen, das immer für ihn bereit stand, vernahm er von weither den heiseren überstürzten Ruf eines Zeitungsverkäufers. Da war es, und dicht vor dem Hause! Er klopfte an die Tür seiner Mutter und ging hinein.

Sein Vater saß aufrecht im Bett und spitzte die Ohren unter dem weißen Haar, das Emily so schön verschnitten hielt. Er sah rosig aus und außerordentlich sauber in seinen weißen Bettüchern und Kissen, aus denen seine hohen, hageren Schultern ragten. Nur seine grauen, mißtrauischen Augen unter den welken Lidern blickten vom Fenster auf Emily, die in ein Tuch gehüllt auf und ab ging und auf den Gummiball drückte, der an einer Riechflasche befestigt war. Das Zimmer roch schwach nach zerstäubtem Eau de Cologne.

»Alles in Ordnung!« sagte Soames, »es ist kein Feuer. Die Buren haben den Krieg erklärt, das ist alles!«

Emily hielt mit dem Zerstäuben inne.

»O!« war alles, was sie sagte, während sie auf James blickte.

Auch Soames blickte auf seinen Vater. Er nahm es anders auf, als sie erwartet hatten, als arbeite ein Gedanke in ihm, der ihnen unbekannt war.

»Hm!« murmelte er plötzlich, »ich werde nicht erleben das Ende davon zu sehen!«

»Unsinn James! Es wird zu Weihnachten vorüber sein.«

»Wie kannst du das wissen?« erwiderte James rauh. »Eine schöne Geschichte übrigens – zu dieser Zeit, in der Nacht noch dazu!« Er sank in Schweigen, und seine Frau und sein Sohn warteten wie hypnotisiert darauf, daß er sagen sollte: ›Ich weiß nicht – ich kann nichts sagen; ich wußte, wie es kommen würde!‹ Aber er sagte es nicht. Die grauen Augen schweiften umher, offenbar sahen sie nichts im Zimmer; dann bewegte es sich unter den Betttüchern und er zog die Knie plötzlich hoch empor.

»Sie sollten Roberts hinausschicken. Es kommt alles von diesem Gladstone und seinem Majuba.«

Die beiden Zuhörer bemerkten etwas Ungewöhnliches in seiner Stimme, etwas von wirklicher Angst. Es war, als habe er gesagt: ›Ich werde das alte Land nie wieder friedlich und sicher sehen. Ich werde sterben, bevor ich weiß, daß es gesiegt hat.‹ Und trotz des Gefühls, daß James nicht ermutigt werden durfte, sich aufzuregen, waren sie doch gerührt. Soames ging an das Bett und streichelte die Hand seines Vaters, die lang und von Adern durchzogen aus den Bettüchern hervorsah.

»Merke dir, was ich sage!« sagte James. »Konsols werden auf Pari heruntergehen. Und sicherlich wird Val hingehen und sich anwerben lassen.«

»Ach was, James!« rief Emily, »du sprichst, als wäre Gefahr vorhanden.«

Ihre tröstende Stimme schien James diesmal zu besänftigen.

»Nun,« murmelte er, »ich sagte euch, wie es kommen würde. Ich weiß nicht, natürlich – mir sagt keiner was. Schläfst du hier mein Junge?«

Die Krisis war vorüber, er würde sich jetzt zu seinem normalen Grad von Besorgnis zusammenraffen. Nachdem Soames ihn versichert hatte, daß er im Hause schlafen werde, drückte er ihm die Hand und ging in sein Zimmer hinauf.

Der folgende Nachmittag sah das größte Gewimmel bei Timothy, dessen sie sich seit Jahren erinnerten. Bei nationalen Gelegenheiten wie dieser, war es allerdings kaum zu vermeiden, dorthin zu gehen. Nicht daß irgend Gefahr drohte, oder vielmehr gerade genug, um einander zu versichern, daß keine zu fürchten war.

Nicholas war schon früh gekommen. Er hatte Soames gestern abend gesprochen – Soames hatte gesagt, es habe so kommen müssen. Dieser alte Krüger müsse wohl kindisch geworden sein – er war sicherlich nah an fünfundsiebzig! (Nicholas war zweiundachtzig.) Was sagte Timothy dazu? Nach Majuba hatte er einen Anfall gehabt. Diese Buren waren eine anmaßende Gesellschaft! Die dunkelhaarige Francie mit ihrer Widerspruchslust, wie sie sich für den freien Geist einer Tochter Rogers ziemte, war unmittelbar nach ihm gekommen und mischte sich ein:

»Gauner und Halunken! Onkel Nicholas. Was für eine ›Sorte‹, diese ›Uitlander‹!« Was für eine Sorte, in der Tat! Ein neuer Ausdruck, der von ihrem Bruder George stammen könnte.

Tante Juley fand, daß Francie so nicht sprechen dürfe. Der Sohn der lieben Mrs. MacAnder sei doch auch einer, und niemand könne ihn anmaßend nennen. Darauf erwiderte Francie mit einem ihrer Anstoß erregenden und so oft wiederholten mots:

»Ach, sein Vater ist ein Schotte und seine Mutter eine falsche Katze.«

Tante Juley hielt sich die Ohren zu, jedoch zu spät, und Tante Hester lächelte; Nicholas aber war verstimmt – Witze, die nicht von ihm stammten, waren nicht nach seinem Geschmack. In diesem Augenblick kam Mary Tweetyman, der der junge Nicholas fast unmittelbar folgte. Als Nicholas seinen Sohn sah, erhob er sich.

»Ich muß gehen,« sagte er, »Nick wird euch sagen, wer das Rennen gewinnen wird.« Und mit diesem Hieb für seinen Ältesten der als ein Muster der Pflichttreue und Direktor einer Versicherungsgesellschaft ebensowenig dem Sport huldigte wie sein Vater, verabschiedete er sich. Der liebe Nicholas! Was für ein Rennen meinte er denn? Oder war es nur einer seiner Späße? Er war ein wundervoller Mann bei seinem Alter! Wieviel Stückchen Zucker, liebe Marian, und wie geht es Giles und Jesse? Tante Juley nahm an, daß ihre Truppe jetzt viel damit zu tun haben werde, die Küste zu bewachen, obwohl die Buren natürlich keine Schiffe hatten. Doch man konnte nie wissen, was die Franzosen tun würden, wenn sie die Chance hatten, namentlich seit diesem schauderhaften Faschodaschreck, der Timothy so fürchterlich aufgeregt hatte, das Schreckliche bei der Sache sei die Undankbarkeit der Buren, nachdem alles für sie getan worden war – Dr. Jameson in Gefangenschaft, und er wäre so nett, hatte Mrs. MacAnder immer gesagt. Und Sir Alfred Milner haben sie hingeschickt, um mit ihnen zu reden – solch einen klugen Mann! Sie wisse nicht, was sie eigentlich wollten!

Nun aber kam eine jener köstlichen Überraschungen, wie große Veranlassungen sie zuweilen mit sich bringen:

›Miß June Forsyte.‹

Die Tanten Juley und Hester hatten sich zitternd vor erloschenem Groll, alter Liebe, die wieder aufwallte, und Stolz über die Rückkehr der verlorenen June, sogleich erhoben. Nein, diese Überraschung! – Die liebe June – nach so vielen Jahren! Und wie gut sie aussah! Gar nicht verändert! Es lag ihnen fast auf der Zunge, hinzuzufügen ›und wie geht es dem lieben Großvater?‹ weil sie in diesem überwältigenden Augenblick vergessen hatten, daß der arme liebe Jolyon schon sieben Jahre in seinem Grabe lag.

Die zarte, kleine June mit ihren ausgeprägten Zügen, den lebhaften Augen und ihrem flammenden Haar, immer die mutigste und offenherzigste von allen Forsytes, setzte sich auf einen vergoldeten Stuhl mit perlengesticktem Sitz, als wären nicht zehn Jahre – zehn Jahre Reisen, Unabhängigkeit und Aufopferung für ihre ›lahmen Enten‹ vergangen, seitdem sie zuletzt hier gewesen. Diese lahmen Enten aus der letzten Zeit waren alle Maler, Radierer oder Bildhauer, so daß ihre Ungeduld den Forsytes und ihren hoffnungslosen unkünstlerischen Ansichten gegenüber noch lebhafter geworden war. Sie hatte in der Tat fast aufgehört zu glauben, daß ihre Familie existierte und sah sich nun mit einer geradezu herausfordernden Miene in dem Kreise um, die überaus unbehaglich auf die Anwesenden wirkte. Sie hatte nicht erwartet außer den armen ›lieben Alten‹ von den andern jemand anzutreffen; und weshalb sie gekommen war, sie zu sehen, wußte sie kaum, es sei denn, daß sie sich ihrer auf dem Wege von der Oxford Street nach ihrem Atelier an der Latimer Road plötzlich reuevoll als zweier vernachlässigter ›lahmer Enten‹ erinnert hatte.

Tante Juley unterbrach abermals das Schweigen: »Wir sprachen eben davon, meine Liebe, wie schrecklich die Sache mit den Buren ist! Und welch ein unverschämter Patron dieser Krüger!«

»Unverschämt!« sagte June. »Ich finde, er hat ganz recht. Was haben wir uns da hineinzumischen? Wenn er all die elenden ›Uitlander‹ vertriebe, geschähe es ihnen ganz recht. Sie sind nur hinter dem Gelde her.«

Das erstaunte Schweigen wurde von Francie unterbrochen.

»Wie? Bist du Pro-Bure?« (sicherlich die erste Anwendung dieses Ausdrucks.)

»Ja, weshalb lassen wir sie denn nicht in Ruhe?« erwiderte June, gerade als das Mädchen in der offenen Tür Mr. Soames Forsyte meldete. Staunen über Staunen! Die Begrüßung war durch die Neugierde zu sehen, wie June und er dieses Zusammentreffen aufnehmen würden, beinahe flüchtig, denn man argwöhnte sehr, wenn es auch nicht als gewiß galt, daß sie einander seit jener alten bedauerlichen Geschichte ihres Verlobten mit Soames' Frau, nicht begegnet waren. Man sah, daß ihre Hände sich nur eben berührten und sie einander flüchtig von der Seite ansahen. Tante Juley kam ihnen sofort zu Hilfe:

»Die liebe June ist so originell. Denke dir, Soames, sie findet, die Buren wären nicht zu tadeln.«

»Sie wollen nur ihre Unabhängigkeit,« sagte June, »und warum sollten sie die nicht haben?«

»Weil,« erwiderte Soames und lächelte ein wenig nachsichtig, »sie sich mit unserer Oberhoheit einverstanden erklärt hatten.«

»Oberhoheit!« wiederholte June verächtlich, »uns würde die Oberhoheit von irgend jemand auch nicht gefallen.«

»Sie hatten praktische Vorteile dadurch,« erwiderte Soames, »ein Kontrakt ist ein Kontrakt.«

»Kontrakte sind nicht immer gerecht,« brauste June auf, »und wenn sie es nicht sind, sollten sie gebrochen werden. Die Buren sind die weitaus Schwächeren. Wir hätten es uns leisten können, großmütig zu sein.«

Soames zuckte die Achseln. »Das ist sentimental,« sagte er.

Tante Hester, der nichts schrecklicher war als irgend eine Art von Uneinigkeit, beugte sich hier vor und gab dem Gespräch entschlossen eine andere Richtung.

»Wie herrlich das Wetter ist für diese Jahreszeit.«

Aber June war nicht abzulenken.

»Ich weiß nicht, weshalb Gefühl verspottet werden soll. Es ist das beste von allem in der Welt.« Sie blickte herausfordernd umher, und Tante Juley mußte wieder vermitteln:

»Hast du kürzlich wieder Bilder gekauft, Soames?«

Ihr unvergleichlicher Instinkt, das Falsche zu treffen, hatte sie nicht im Stiche gelassen. Soames schoß die Röte ins Gesicht. Den Namen seiner neuesten Erwerbungen zu nennen hieße sich der äußersten Verachtung auszusetzen. Denn sie kannten alle Junes Vorliebe für ›Genies‹, die noch nicht anerkannt waren, und ihre Verachtung für ›Erfolg‹, wenn sie die Hand nicht im Spiele dabei hatte.

»Eins oder zwei,« murmelte er.

Aber Junes Gesicht hatte sich verändert, der Forsyte in ihr sah eine Chance für sich. Weshalb sollte Soames nicht einige Bilder von Eric Cobbley – ihrer neuesten ›lahmen Ente‹ kaufen? Und schnell entschlossen ging sie zum Angriff über: Kannte Soames seine Werke? Sie waren so wundervoll. Er sei der kommende Mann.

Gewiß, Soames kannte seine Sachen. Seiner Ansicht nach waren sie ›Kitsch‹ und würden nie ein Publikum finden.

June flammte auf.

Natürlich würden sie das nicht, es sei das letzte, was zu wünschen wäre! »Ich glaube, du wärst ein Bilderkenner, nicht ein Bilderhändler.«

»Natürlich ist Soames ein Kenner,« sagte Tante Juley hastig; »er hat einen wunderbaren Geschmack – er kann immer vorher sagen, was Erfolg haben wird.«

»Oh!« sagte June und sprang von dem perlengestickten Stuhl auf, »ich hasse diese Art von Erfolg. Warum können die Leute nicht Dinge kaufen, weil sie ihnen gefallen?«

»Du meinst,« sagte Francie, »weil sie dir gefallen?«

Und in der kurzen Pause, die nun eintrat, hörte man den jungen Nicholas sagen, daß Violet (seine Vierte) Unterricht im Pastellzeichnen nehme, er aber nicht wisse, ob es einen Zweck habe.

»Lebewohl, Tantchen, ich muß nun weiter,« sagte June, küßte die Tanten und sah sich dabei trotzig im Zimmer um. Dann verabschiedete sie sich und ging. Alle atmeten erleichtert auf.

Die dritte Überraschung kam, ehe noch jemand Zeit gehabt zu sprechen:

»Mr. James Forsyte.«

James kam leicht auf seinen Stock gestützt und in seinen Pelz gehüllt herein, der ihm einen unwahrscheinlichen Umfang gab.

Alle erhoben sich. James war so alt, und er war fast zwei Jahre nicht bei Timothy gewesen.

»Es ist heiß hier,« sagte er.

Soames befreite ihn von seinem Pelz und konnte sich dabei nicht enthalten, sein ganzes Auftreten zu bewundern. James setzte sich, ganz Knie, Ellbogen, Rock und Backenbart.

»Was hat das zu bedeuten?« sagte er.

Obgleich scheinbar kein Sinn in den Worten war, wußten doch alle, daß sie sich auf June bezogen. Seine Augen suchten das Gesicht seines Sohnes.

»Ich dachte, es sei besser selbst zu kommen und zu hören. Was haben sie Krüger geantwortet?«

Soames zog seine Abendzeitung hervor und las die Überschrift.

»Augenblickliches Eingreifen unserer Regierung – Kriegszustand!«

»Ah!« sagte James und seufzte. »Ich fürchtete, sie würden ausreißen wie der alte Gladstone. Diesmal werden wir sie unterkriegen.«

Alle starrten ihn an. James! Der immer aufgeregt, immer nervös und ängstlich war! James mit seinem fortwährenden: ›Ich sagte euch, wie es kommen würde!‹ seinem Pessimismus und seinen vorsichtigen Kapitalsanlagen. Diese Entschiedenheit des ältesten der lebenden Forsytes hatte etwas Unnatürliches.

»Wo ist Timothy?« fragte James. »Er sollte jetzt gut aufpassen!«

Tante Juley sagte, daß sie es nicht wisse; Timothy habe beim Frühstück heute wenig gesprochen. Tante Hester stand auf und ging hinaus, und Francie sagte ziemlich maliziös:

»Die Buren geben uns eine harte Nuß zu knacken, Onkel James.«

»Hm!« murmelte James. »Woher hast du deine Informationen? Mir sagt keiner was.«

Der junge Nicholas bemerkte mit seiner sanften Stimme, daß Nick (sein Ältester) beginne, jetzt regelrecht gedrillt zu werden.

»Ach!« murmelte James und starrte vor sich hin. Seine Gedanken waren bei Val. »Er muß auf seine Mutter acht geben,« sagte er, »er hat keine Zeit für Drill und dergleichen mit einem solchen Vater.« Diesen rätselhaften Worten folgte Schweigen, bis er zu sprechen fortfuhr:

»Was hat June hier gewollt?« Und seine Augen ruhten argwöhnisch auf allen nach der Reihe. »Ihr Vater ist jetzt ein reicher Mann.« Die Unterhaltung kam auf Jolyon und wann sie ihn zuletzt gesehen hatten. Wahrscheinlich reiste er ins Ausland und kam mit allerlei Leuten zusammen, da seine Frau jetzt tot war; seine Aquarelle fanden Anerkennung, und er hatte Erfolg. Francie ging so weit zu sagen:

»Ich hätte Lust, ihn wiederzusehen, er war doch ein lieber Mensch.«

Tante Juley erinnerte sich, wie er eines Tages auf ihrem Sofa geschlafen hatte, wo James jetzt saß. Er ist immer sehr liebenswürdig gewesen, was meinte Soames dazu?

Da alle wußten, daß Jolyon Irenens Berater war, fühlten sie das Heikle dieser Frage und sahen Soames voller Interesse an. Ein leises Rot bedeckte seine Wangen.

»Er wird grau,« sagte er.

Wirklich? hatte Soames ihn gesehen? Soames nickte, und die Röte schwand.

James sagte plötzlich: »Na – ich weiß nicht, ich kann nichts sagen.«

Es drückte genau das Gefühl jedes einzelnen der Anwesenden aus, daß überall etwas dahinter steckte, und niemand antwortete. Noch in diesem Augenblick kehrte Tante Hester zurück.

»Timothy,« sagte sie, »Timothy hat eine Karte gekauft, und er hat drei – er hat drei Flaggen hineingesteckt.«

Timothy hatte –! Ein Seufzer ging durch die Gesellschaft.

Wenn Timothy in der Tat bereits drei Flaggen hineingesteckt hatte, so – war das ein Zeichen, wozu eine Nation imstande ist, wenn sie aufgerüttelt wurde. Der Krieg war so gut wie vorüber.


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