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Zweites Kapitel

Ein Mann von Welt geht ab

Daß ein Mann von Welt, der so dem Wechsel des Glücks unterworfen war wie Montague Dartie noch in dem Hause leben konnte, das er wenigstens seit zwanzig Jahren bewohnte, wäre noch merkwürdiger, wenn nicht Miete, Zinsen, Abgaben und Reparaturen des Hauses von seinem Schwiegervater bestritten worden wären. Durch diese einfache, wenn auch großmütige Maßnahme hatte James Forsyte dem Leben seiner Tochter und Enkel eine gewisse Stabilität gesichert. Denn ein sicheres Dach über dem Kopf eines so flotten Sportmannes wie Dartie ist etwas Unschätzbares. Bis zu den Ereignissen der letzten wenigen Tage war er dieses ganze Jahr fast unnatürlich solide gewesen. Es kam daher, daß er einen halben Anteil an einer Stute von George Forsyte erworben hatte, der zum Entsetzen Rogers, der jetzt verstummt im Grabe lag, endgültig zum Turf gegangen war. SIeeve-links, von Martyr, aus der Shirt-on-fire von Suspender war eine rotbraune Stute, dreijährig, die aus verschiedenen Gründen niemals ihre wahre Form gezeigt hatte. Mit dem halben Besitz dieses hoffnungsvollen Tieres war aller Idealismus, der irgendwo latent in Dartie lag, zutage getreten und hatte ihn die letzten Monate völlig im Zaume gehalten. Besitzt jemand etwas Gutes, für das er leben kann, so ist es erstaunlich, wie vernünftig er wird, und was Dartie besaß, war wirklich gut – die besten Chancen, drei zu eins, für ein Herbstrennen, das öffentlich mit fünfundzwanzig zu eins angeschlagen war. Der altmodische Himmel war eine armselige Sache daneben, und er hatte auf die Shirt-on-fire-Tochter gewettet. Aber wieviel mehr als seine Wette hing von der Suspender Enkelin ab! In dem wankelmütigen Alter von fünfundvierzig Jahren, eine Klippe für Forsytes, – und wenn es sich hier vielleicht auch weniger von einem andern Alter unterschied, sogar eine Klippe für einen Dartie – hatte Montague seine Neigung augenblicklich einer Tänzerin geschenkt. Es war keine gemeine Leidenschaft, aber ohne Geld, und zwar ohne viel Geld, wäre es wahrscheinlich eine Liebe geblieben, die so luftig gewesen wäre, wie ihre Röckchen; und Dartie hatte nie Geld, da er in kläglicher Abhängigkeit von dem lebte, was er Winifred abbetteln oder von ihr borgen konnte. Sie war eine Frau von Charakter, die nicht von ihm ging, weil er der Vater ihrer Kinder war und sie noch eine leise Bewunderung für die jetzt schwindende Schönheit seiner Erscheinung hegte, die sie in ihrer Jugend entzückt hatte. Sie, wie alle, die ihm etwas liehen, und seine Verluste beim Kartenspiel und bei Rennen (es ist merkwürdig, wie manche Leute ihre Verluste auszunutzen verstehen) waren seine ganzen Subsistenzmittel, denn James war jetzt zu alt und zu nervös, um behelligt werden zu dürfen, und Soames hart wie Stein und unzugänglich. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß Dartie monatlang von der Hoffnung gelebt hatte. Aus Geld an sich hatte er sich nie etwas gemacht, hatte die Forsytes mit ihren vorsichtigen Vermögensanlagen immer verachtet, wenn er sich auch bemühte, soviel Gebrauch davon zu machen wie er konnte. Was er an dem Gelde liebte, waren – was man sich dafür kaufen konnte – persönliche Genüsse.

»Keinem echten Sportsmann liegt etwas am Gelde,« pflegte er zu sagen, wenn er sich, sobald er merkte, daß es vergeblich war, es mit fünfhundert Pfund zu versuchen, fünfundzwanzig lieh. Er war köstlich, dieser Montague Dartie, ein ›Juwel‹, wie George Forsyte sagte.

Der Morgen des Rennens am letzten Tage des September brach klar und strahlend an, und Dartie, der die Nacht vorher nach Newmarket gefahren war, zog karrierte Hosen an und stieg auf eine Anhöhe, um seine Hälfte der Stute ihren Endgalopp machen zu sehen. Wenn sie gewann, würde er seine dreitausend in der Tasche haben – ein kärglicher Lohn freilich für die Mäßigkeit und Geduld dieser letzten Wochen voll Hoffnung, wo sie für dieses Rennen vorbereitet wurde. Doch mehr hatte er nicht daran wenden können. Sollte er es ›ablegen‹ bei acht zu eins, bis wohin sie gekommen war? Das war sein einziger Gedanke, während die Lerchen über ihm sangen, die grasigen Wiesen süß dufteten und die schöne Stute, den Kopf hin und her werfend und wie Atlas glänzend, vorüber kam. Schließlich, wenn er verlor, würde es nicht an ihm sein zu zahlen, und wenn er es ›ablegte‹, würde es seinen Gewinn auf fünfzehnhundert reduzieren – kaum genug, sich eine Tänzerin zu leisten. Noch mächtiger aber im Blute aller Darties war das Verlangen nach einer richtigen Spannung. Er wandte sich zu George und sagte: »Sie ist ein Renner. Sie gewinnt sicherlich; ich lasse das ganze stehen.« Georg, der jeden Pfennig und noch einige dazu ›abgelegt‹ hatte und auf Gewinn rechnete, wie es auch enden mochte, grinste ihn von seiner massigen Höhe aus mit den Worten an: »Ei, ei, du Wilder!« denn nach einer bewegten Lehrzeit, über die Roger ihm murrend mit seinem Geld hinweggeholfen hatte, kam sein Forsyteblut ihm in der Eigenschaft als Besitzer jetzt gut zu statten.

Es gibt Momente der Enttäuschung im Menschenleben, vor denen der empfindsame Berichterstatter zurückschreckt. Es mag genügen zu sagen, daß die Sache schlecht ausging. SIeeve-Iinks brach zusammen. Darties Wette war verloren.

Was war zwischen diesen Ereignissen und dem Tage, wo Soames sich nach der Green Street begab, nicht alles geschehen!

Wenn ein Mann mit der Konstitution von Montague Dartie aus triftigen Gründen monatelang Enthaltsamkeit geübt hat und unbelohnt bleibt, flucht er nicht Gott und stirbt, sondern er flucht Gott und lebt zum Leidwesen seiner Familie.

Winifred – eine tapfere Frau, wenn auch ein wenig zu modern – die seine Streiche genau einundzwanzig Jahre ertragen hatte, hätte nie geglaubt, daß er tun würde, was er jetzt getan. Wie so viele Ehefrauen, meinte sie das Schlimmste zu wissen, doch sie hatte ihn noch nicht in seinem fünfundvierzigsten Jahre kennen gelernt, wo er fühlte, wie andere Männer auch, daß es für ihn hieß, jetzt oder nie. Als sie am zweiten Oktober den Inhalt ihres Schmuckkastens untersuchte, war sie entsetzt zu bemerken, daß die Krone und der Glanz ihres Frauenlebens – die Perlen, die Montague ihr im Jahre 86 nach der Geburt Benedikts geschenkt und die James, um einen Skandal zu vermeiden, im Frühling 87 bezahlen mußte, verschwunden waren. Sie zog ihren Mann sogleich zu Rate. Er ging leicht über die Sache hinweg. Sie würden sich schon wiederfinden! Erst als sie scharf sagte: »Gut, Monty, ich werde selbst zur Polizei gehen,« willigte er ein die Sache in die Hand zu nehmen. Ach! Daß die festesten entschlossensten Vorsätze, die zur Ausführung gelegentlicher Unternehmungen notwendig sind, durch Trinken vereitelt werden konnten! In dieser Nacht kam Dartie ohne jede Spur von Rücksicht lärmend nach Haus. Unter normalen Verhältnissen hätte Winifred einfach ihre Tür verschlossen und ihn seinen Rausch ausschlafen lassen, aber die quälende Ungewißheit über ihre Perlen hatte sie veranlaßt auf ihn zu warten. Während er einen kleinen Revolver aus der Tasche nahm und damit an den Eßtisch trat, sagte er unvermittelt zu ihr, daß ihm nicht das geringste daran liege, ob sie lebe, solange sie sich ruhig verhalte; er selbst aber habe das Leben satt. Winifred, die an der anderen Seite des Tisches stand, erwiderte:

»Sei kein Clown, Monty. Bist du auf der Polizei gewesen?«

Den Revolver auf seine Brust gerichtet, hatte Dartie mehrmals abgedrückt. Aber er war nicht geladen. Mit einer Verwünschung ließ er ihn fallen und murmelte: »Um der Kinder willen,« dann sank er in einen Sessel. Winifred, die den Revolver aufgehoben hatte, gab ihm etwas Sodawasser. Der Trank hatte eine magische Wirkung. Das Leben habe ihm übel mitgespielt, Winifred hätte ihn nie verstanden. Wenn er nicht das Recht habe, die Perlen zu nehmen, die er ihr geschenkt hatte, wer denn sonst? Die kleine Spanierin habe sie bekommen. Wenn Winifred etwas dagegen habe, würde er – ihr – den Hals umdrehen. Was war denn dabei?

Winifred, die in harter Schule Selbstbeherrschung gelernt hatte, schaute ihn an und sagte: »Die Spanierin? Meinst du das Mädchen, das wir im ›Pandemonium‹-Ballett tanzen sahen? Also du bist ein Dieb und ein Schuft.« Es war der letzte Strohhalm eines schwer beladenen Gewissens gewesen. Dartie sprang von seinem Sessel auf, und sich der Heldentaten seiner Knabenzeit erinnernd, ergriff er den Arm seiner Frau und verdrehte ihn. Winifred ertrug die Pein mit Tränen in den Augen, aber ohne einen Laut. Sie wartete einen Moment der Schwäche ab und riß sich los; dann, mit dem Tisch zwischen sich und ihm sagte sie zwischen den Zähnen: »Du bist ein Lump, Monty!« Sie ließ Dartie mit Schaum auf seinem dunkeln Schnurrbart zurück und ging nach oben, und nachdem sie ihre Tür verschlossen und den Arm in heißem Wasser gebadet hatte, lag sie die ganze Nacht wach und dachte an ihre Perlen, die den Hals einer andern schmückten, und an den Lohn, den ihr Mann vermutlich dafür erhalten hatte.

Der Mann von Welt erwachte mit einem Gefühl für diese Welt verloren und der vagen Erinnerung ›Lump‹ genannt worden zu sein. In dem Sessel, wo er geschlafen hatte, saß er eine halbe Stunde in der Morgendämmerung da – vielleicht die elendste halbe Stunde, die er jemals verlebt hatte, denn selbst für einen Dartie hat das Ende etwas Tragisches. Und er wußte, daß es für ihn gekommen war. Nie wieder würde er in seinem Eßzimmer schlafen und bei dem Licht erwachen, das durch die Vorhänge drang, die Winifred mit James' Geld bei Nickens und Jarvey gekauft hatte. Nie wieder nach einer kalten Abreibung und einem heißen Bad eine geröstete Niere an diesem Tisch aus Rosenholz essen. Er nahm seine Brieftasche heraus. Vierhundert Pfund, in Fünfern und Zehnern, der Rest seines Anteils an Sleevelinks, die gestern abend, bar bezahlt, an George Forsyte verkauft worden war, als er beim Rennen gewonnen und die plötzliche Abneigung gegen das Tier nicht bemerkt hatte, die er selbst jetzt fühlte. Das Ballett ging übermorgen nach Buenos Aires, und er ging mit. Den vollen Wert für die Perlen hatte er noch nicht erhalten, er war erst bei der Suppe.

Er stahl sich nach oben. Ein Bad zu nehmen oder sich zu rasieren wagte er nicht (das Wasser war übrigens sicherlich kalt), wechselte die Kleider und packte verstohlen alles was er konnte ein. Es war hart so viele blinkende Stiefel zurückzulassen, aber etwas mußte geopfert werden. Dann trat er, in jeder Hand eine Reisetasche, in den Flur hinaus. Das Haus war sehr still – dieses Haus, in dem er seine vier Kinder gezeugt hatte. Es war ein sonderbarer Augenblick vor dem Zimmer seiner Frau, die er einst bewundert, wenn nicht vielleicht sogar geliebt hatte, und die ihn jetzt ›Lump‹ genannt. Er stählte sich an diesem Wort und ging auf den Zehen weiter; aber an der nächsten Tür war schwerer vorbei zu kommen. Es war das Zimmer, in dem seine Töchter schliefen. Maud zwar war ja in der Pension, aber Imogen lag wohl da drinnen, und Darties übernächtige Augen wurden feucht. Sie glich ihm am meisten von den vieren mit ihrem dunkeln Haar und ihren köstlich braunen Augen. Eben erwachsen, ein hübsches Ding! Er stellte die beiden Taschen hin. Diese beinah formelle Abdankung als Vater tat ihm weh. Das Morgenlicht fiel auf ein Gesicht, in dem wirkliche Bewegung arbeitete. Nichts so Falsches wie Reue bewegte ihn, nur ein reines väterliches Gefühl und das Melancholische des ›nie wieder‹. Er netzte seine Lippen, und eine völlige Unentschlossenheit lähmte einen Augenblick seine Beine in ihren karrierten Hosen. Es war hart – hart sein Heim verlassen zu müssen! »Verwünscht!« murmelte er, »ich dachte nie, daß es so weit kommen würde.« Geräusche über ihm kündigten ihm an, daß die Mädchen im Begriff waren aufzustehen. Und die beiden Taschen ergreifend, ging er auf den Zehenspitzen die Treppe hinunter. Seine Wangen waren naß, und das Bewußtsein davon war tröstlich, als bewiese es die Echtheit seines Opfers. Er zauderte ein wenig in den unteren Räumen, um alle Zigarren, die er besaß, einige Papiere, einen Claquehut, ein silbernes Zigarettenetui und einen Turfalmanach zusammenzupacken. Dann, nachdem er sich einen steifen Whisky und Sodawasser gemischt und eine Zigarette angezündet hatte, blieb er zögernd vor einer Photographie seiner beiden Töchter in einem silbernen Rahmen stehen. Sie gehörte Winifred. »Tut nichts«, dachte er, »sie kann eine andere machen lassen, und ich nicht!« Er steckte sie in die Tasche. Darauf setzte er seinen Hut auf, zog den Mantel an, nahm noch zwei andere, seinen besten Malaccarohrstock, einen Schirm, und öffnete die Haustür. Leise schloß er sie hinter sich, ging bedrückt wie nie zuvor in seinem Leben hinaus und zur nächsten Ecke, um auf eine vorüberkommende frühe Droschke zu warten ...

So hatte Montague Dartie im fünfundvierzigsten Jahr seines Lebens das Haus verlassen, das er sein eigen nannte ...

Als Winifred herunter kam und sich überzeugte, daß er sich nicht im Hause befand, war ihr erstes Gefühl ein dumpfer Zorn, daß er auf diese Weise den Vorwürfen entgangen war, die sie in den langen wachen Stunden so sorgfältig vorbereitet hatte. Er war wahrscheinlich mit jener Frau nach Newmarket oder Brighton gefahren. Widerlich! Da sie Imogen und den Dienstleuten gegenüber zu vollkommenem Schweigen gezwungen war und wohl wußte, daß die Nerven ihres Vaters eine solche Enthüllung nie vertragen würden, vermochte sie es sich nicht zu versagen, am Nachmittag zu Timothy zu gehen und den Tanten Hester und Juley die Geschichte von den Perlen anzuvertrauen. Erst am folgenden Morgen bemerkte sie das Fehlen der Photographie. Was bedeutete das nur? Eine sorgfältige Prüfung der von ihrem Manne zurückgelassenen Sachen rief den Gedanken in ihr wach, daß er für immer gegangen war. Als diese Annahme sich zu bestätigen schien, blieb sie ganz still mitten in seinem Ankleidezimmer mit all den aufgezogenen Schubfächern stehen und versuchte, sich über ihre Gefühle Rechenschaft zu geben. Es war keineswegs so einfach. War er auch ein ›Lump‹ so gehörte er doch zu ihr, und um nichts in der Welt wäre es ihr möglich gewesen, sich nicht als die Ärmere zu fühlen. Verwitwet und doch nicht Witwe zu zweiundvierzig Jahren, mit vier Kindern, ein Gegenstand des Klatsches, des Mitleids! Und er in den Armen einer spanischen Dirne. Schmerzlich, düster, unablässig lebten Erinnerungen und Gefühle, die sie längst tot gewähnt, wieder in ihr auf. Mechanisch schloß sie Schubfach um Schubfach, ging an ihr Bett, legte sich darauf und begrub ihr Gesicht in den Kissen. Sie weinte nicht. Was nützte das? Als sie sich erhob, um zum Lunch nach unten zu gehen, wußte sie, daß nur eines ihr wohltun würde, und das war Val zu Hause zu haben. Er – ihr ältester Sohn – der auf James' Kosten im nächsten Monat nach Oxford sollte, war in Littlehampton, um vor seinem Examen die ›letzten Galopps mit seinem Trainer zu absolvieren‹, wie er sich nach der Sprechweise seines Vaters ausgedrückt hatte. Sie ließ ein Telegramm an ihn absenden.

»Ich muß nach seinen Sachen sehen,« sagte sie zu Imogen, »ich kann ihn nicht irgendwie nach Oxford gehen lassen. Die jungen Leute dort sind so eigen.«

»Val hat Haufen von Sachen,« entgegnete Imogen.

»Ich weiß, aber sie müssen durchgesehen werden. Ich hoffe, er kommt.«

»Er wird kommen wie der Blitz, Mutter. Doch mit seinem Examen wird es wahrscheinlich schief gehen.«

»Da kann ich mir nicht helfen,« sagte Winifred. »Ich brauche ihn.«

Mit einem unschuldig verschmitzten Blick sah Imogen ihre Mutter an und schwieg. Es war natürlich Vaters wegen! Val kam ›wie der Blitz‹ um sechs Uhr.

Man denke sich eine Kreuzung zwischen einem Spitzbuben und einem Forsyte und man hat den jungen Publius Valerius Dartie. Ein Jüngling, der so genannt wird, konnte kaum anders ausschlagen. Als er geboren war, hatte Winifred im Taumel ihres Glücks und dem Verlangen nach etwas Besonderem beschlossen, ihren Kindern Namen zu geben, die sonst niemand hatte. Ein Glück – fand sie jetzt – daß sie Imogen nicht Thisbe genannt. Seinen Taufnamen aber hatte Val George Forsyte zu verdanken, der immer ein Spaßvogel war. Als Dartie nämlich nach der Geburt seines Sohnes und Erben bei einem Mittagessen Winifreds Einfall erwähnte, hatte George gesagt:

»Nenne ihn Cato, das wäre verdammt pikant!« Er hatte eben auf ein Pferd dieses Namens gewonnen.

»Cato!« hatte Dartie erwidert – »sie sind zu Hause ein wenig ›heikel‹, das ist kein christlicher Name.«

»Heda, Sie!« rief George einem Kellner in Kniehosen zu. »Bringen Sie mir das Konversationslexikon aus der Bibliothek, Buchstabe C.«

Der Kellner brachte den Band.

»Hier hast du's!« sagte George, und zeigte mit seiner Zigarre darauf, »Cato – Publius Valerius nach Virgil aus Lydien. Das ist, was du brauchst. Publius Valerius ist christlich genug.«

Als er nach Haus kam, teilte Dartie es Winifred mit. Sie war entzückt. Es war so ›chic‹. Und so wurde das Kind Publius Valerius genannt, obwohl es später durchsickerte, daß der minderwertige Cato sie dazu veranlaßt hatte. Im Jahre 1890 jedoch, als der kleine Publius fast zehn Jahre alt war, kam das Wort ›chic‹ aus der Mode und Vernunft an dessen Stelle; Winifred begann Zweifel zu hegen. Sie wurden durch den kleinen Publius selbst noch verstärkt, als er nach seinem ersten Schuljahr zurückkam und erklärte, er habe das Leben satt – denn sie nannten ihn Pubby. Kurz entschlossen wechselte Winifred sofort die Schule und änderte den Namen in Val, während sie Publius, sogar als Anfangsbuchstabe, fortließ.

Zu neunzehn war er ein geschmeidiger, sommersprossiger Jüngling mit einem breiten Mund, hellen Augen, langen, dunkeln Wimpern und einem einnehmenden Lächeln, der genau wußte, was er nicht wissen durfte und nicht ahnte, was er tun sollte. Es gab wenige Knaben, die so dicht davor gestanden hatten relegiert zu werden – er war ein liebenswürdiger Taugenichts. Nachdem er seine Mutter geküßt und Imogen gekniffen hatte, rannte er, immer drei Stufen nehmend, die Treppe hinauf, kleidete sich zu Tisch um und kam, vier nehmend, wieder herunter. Es tue ihm schrecklich leid, aber sein ›Trainer‹, der ebenfalls hergekommen sei, habe ihn eingeladen, im ›Oxford und Cambridge‹ mit ihm zu essen, es ginge nicht gut fortzubleiben – es würde den alten Jungen verletzen. Unglücklich, aber voll Stolz ließ Winifred ihn gehen. Sie hätte ihn gern zu Haus behalten, aber es war doch sehr angenehm zu wissen, daß sein Lehrer ihn so gern mochte. Mit einem Augenzwinkern für Imogen sagte er, als er hinausging:

»Übrigens, Mutter, könnte ich zwei Kibitzeier haben, wenn ich zurückkomme? – die Köchin hat welche gebracht. Das ist ein so guter Abschluß. Ach, und dann – hast du etwas Geld? – ich mußte mir einen Fünfer von dem alten Knaben leihen.«

Winifred sah ihn mit zärtlichem Vorwurf an und erwiderte:

»Du gehst leichtfertig mit Geld um, mein Lieber. Aber du brauchtest es ihm heute abend, wo du sein Gast bist, nicht zurückzuzahlen.« Wie hübsch und schlank er aussah in seiner weißen Weste und mit den dunkeln dichten Wimpern.

»Ja, aber wir gehen vielleicht ins Theater, Mutter, und ich denke, die Billetts müßte ich bezahlen, er hat es immer knapp, weißt du.«

Winifred gab ihm eine Fünfpfundnote und sagte:

»Gut, du könntest es ihm zurückgeben, aber dann brauchst du die Billetts nicht auch zu bezahlen.«

Val steckte das Geld ein.

»Wenn ich das tue, kann ich es gar nicht,« sagte er. »Gute Nacht, Mama!«

Den Hut vergnügt aufgestülpt, ging er erhobenen Hauptes fort, die Luft von Piccadilly schnuppernd, einem jungen Jagdhund ähnlich, der eben losgelassen wird. Feine Sache! Nach dem muffigen Nest da unten!

Er fand seinen ›Lehrer‹ zwar nicht im ›Oxford und Cambridge‹, aber im ›Goats-Klub‹. Dieser ›Lehrer‹ war ein Jahr älter als er, ein hübscher junger Mann mit schönen braunen Augen und weichem schwarzen Haar, einem kleinen Mund, ovalem Gesicht, lässig, untadelig, kühl in gewissem Maße, einer jener jungen Leute, die mühelos einen moralischen Einfluß auf ihre Gefährten ausüben. Er war ein Jahr vor Val von der Schule weggejagt worden, hatte das Jahr in Oxford verlebt, und Val sah fast einen Glorienschein um sein Haupt. Er hieß Crum, und niemand war gewandter im Geldausgeben als er. Es schien der einzige Zweck seines Lebens zu sein – und das blendete den jungen Val, in dem doch ab und zu der Forsyte zum Vorschein kam, der gern gewußt hätte, wofür das Geld vertan wurde.

Sie speisten schweigsam, stilvoll und mit Geschmack. Nachdem sie zwei Flaschen getrunken hatten, verließen sie, eine Zigarre rauchend, den Klub und nahmen eine Loge im ›Liberty‹. Für Val war der Klang der komischen Lieder und der Anblick entzückender Beine durch die drückende Furcht Crums lässiges Dandytum niemals zu erreichen, verdunkelt und beeinträchtigt. Seine Selbstkritik war erwacht, und dabei ist einem nie sehr wohl zumute. Sicherlich hatte er einen zu breiten Mund, nicht den besten Westenschnitt, keinen Vorstoß an seinen Hosen, und seine lavendelfarbenen Handschuhe hatten keine dünnen schwarzen Stiche auf der Rückseite. Außerdem lachte er zu viel – Crum lachte nie, er lächelte nur und zog dabei die geraden schwarzen Brauen ein wenig hoch, so daß sie einen Giebel über seinen schweren Lidern bildeten. Nein, er würde niemals werden wie Crum. Aber es war doch ein lustiges Schauspiel, und Cynthia Dark einfach fabelhaft. Zwischen den Akten regalierte Crum ihn mit Einzelheiten aus Cynthias Privatleben, und Val kam zu der bittern Erkenntnis, daß Crum, wenn er wollte, hinter die Kulissen gehen konnte. Er sehnte sich geradezu danach zu sagen: ›Nimm mich doch mit!‹ wagte es aber seiner Unzulänglichkeit wegen nicht, und das verdarb ihm den letzten Akt oder zwei ganz. Als sie hinauskamen, sagte Crum: »Es ist eine halbe Stunde vor Schluß, laß uns noch ins ›Pandemonium‹ gehen.« Sie nahmen eine Droschke für die kurze Strecke, lösten Eintrittskarten, die siebeneinhalb Shilling kosteten, weil es kurz vor Schluß war, und gingen hinein. Gerade in diesen Kleinigkeiten, dieser äußersten Gleichgültigkeit in Bezug auf Geld, zeigte sich Crums so bestechende Gewandtheit. Das Ballett war fast zu Ende und der Verkehr in den Wandelgängen dadurch beeinträchtigt. Männer und Frauen drängten sich in drei Reihen vor der Rampe. Das Gepränge und Gewirr auf der Bühne, das Halbdunkel, das Gemisch von Tabakrauch und Frauenduft, all dies sonderbar lockende Durcheinander, das zu solchen Wandelgängen gehört, begann den jungen Val von seinen Grübeleien zu befreien. Er schaute einer jungen Frau bewundernd ins Gesicht, sah, daß sie nicht jung war, und wandte sich schnell wieder fort. Nichts im Vergleich mit Cynthia Dark! Der Arm der jungen Frau streifte unbefangen den seinen, er spürte einen Duft von Moschus und Reseda. Val warf einen Seitenblick auf sie. Vielleicht war sie doch jung. Ihr Fuß trat auf den seinen, sie bat um Verzeihung. Er sagte:

»Bitte, keine Ursache; ein ganz hübsches Ballett, nicht wahr?«

»Ach, es langweilt mich, Sie nicht auch?«

Val lächelte – sein breites, so einnehmendes Lächeln.

Noch nicht ganz überzeugt – ging er nicht weiter. Der Forsyte in ihm verlangte größere Gewißheit. Und auf der Bühne wirbelte das Ballett sein Kaleidoskop von Schneeweiß, Smaragdgrün, Lachsrot und Violett und schien plötzlich zu einer leise flimmernden Pyramide zu gefrieren. Rauschender Beifall, und es war aus! Kastanienbraune Vorhänge hatten alles verdeckt. Der Halbkreis von Männern und Frauen um die Rampe löste sich, der Arm der jungen Frau preßte seinen. Ein kleiner Tumult schien sich um einen Mann mit einer rosa Nelke zu konzentrieren; Val warf verstohlen noch einen Blick auf die junge Frau, die dorthin schaute. Drei Männer gingen schwankend Arm in Arm. Der eine in der Mitte mit der rosa Nelke und einem dunklen Schnurrbart trug eine weiße Weste; er taumelte ein wenig beim Gehen. Crums Stimme sagte langsam und gelassen: »Schau dir den ›Fallot‹ da an, der ist bezecht!« Val drehte sich um. Der ›Fallot‹ hatte seinen Arm freigemacht und zeigte direkt auf sie. Crum, gelassen wie immer, sagte:

»Er scheint dich zu kennen!«

Der ›Fallot‹ rief: »Hallo! Seht, Kinder! da ist mein junger Halunke von Sohn!«

Val schaute hin. Es war sein Vater! Er wäre am liebsten in den roten Teppich gesunken. Nicht wegen der Begegnung an diesem Ort, nicht einmal, weil sein Vater betrunken war, sondern wegen Crums Ausdruck ›Fallot‹, den er in diesem Augenblick wie durch eine himmlische Offenbarung als richtig erkennen mußte. Ja, sein Vater sah wie ein ›Fallot‹ aus mit seiner guten Figur, der rosa Nelke und seinem breitspurigen, selbstbewußten Gang. Und ohne ein Wort duckte er sich hinter die junge Frau und schlüpfte hinaus. Er hörte ›Val‹ hinter sich herrufen und rannte die teppichbelegten Stufen an den ›Rausschmeißern‹ vorbei auf die Straße hinaus.

Sich seines Vaters zu schämen ist vielleicht die bitterste Erfahrung, die ein junger Mann durchmachen kann. Val hatte das Gefühl, während er davonlief, daß seine Karriere zu Ende war, bevor sie noch begonnen hatte. Wie konnte er nach Oxford unter all diese jungen Leute, diese vornehmen Freunde Crums, die erfahren würden, daß sein Vater ein ›Fallot‹ war! Und plötzlich haßte er Crum. Wer, zum Teufel, war denn eigentlich dieser Crum? Wäre er jetzt bei ihm gewesen, so hätte er ihm sicherlich einen Denkzettel gegeben. Sein eigener Vater – sein Vater! Es würgte ihn im Halse und er steckte die Hände tief in die Taschen seines Überrocks. Der Teufel hole Crum! Er hatte die tolle Idee zurückzulaufen, seinen Vater zu suchen und Arm in Arm mit ihm an Crum vorüber zu gehen, gab sie aber sogleich wieder auf und setzte seinen Weg die Piccadilly entlang fort. Ein junges Mädchen stellte sich vor ihn hin. »Nicht so böse, Liebling!« Er wich zurück, ging an ihr vorüber und ward plötzlich ganz kühl. Wenn Crum jemals ein Wort sagte, wollte er ihm, weiß Gott, den Kopf einschlagen, und dann hätte es ein Ende. Sehr zufrieden mit diesem Gedanken ging er etwa hundert Schritt weiter, dann aber verlor er allen Trost für sich. Es war nicht so einfach. Er erinnerte sich, wie in der Schule, wenn Eltern hinkamen, die nicht ganz dem Maßstab entsprachen, der betreffende Knabe hinterher darunter zu leiden hatte. Weshalb hatte seine Mutter seinen Vater geheiratet, wenn er ein ›Fallot‹ war? Es war bitter unrecht – verwünscht niederdrückend für einen jungen Mann, einen ›Fallot‹ zum Vater zu haben. Das schlimmste aber war, daß es ihm jetzt, wo Crum den Ausdruck gebraucht hatte, scheinen wollte, als habe er unbewußt längst gefühlt, daß sein Vater nicht ganz ›einwandfrei‹ sei. Es war die widerwärtigste Geschichte, die ihm je passiert war – die je einem jungen Mann passiert war! Und niedergeschlagen, wie nie zuvor, kam er nach Haus und öffnete die Tür mit einem geschmuggelten Drücker. Im Eßzimmer standen einladend seine Kibitzeier mit etwas Brot und Butter, und ein wenig Whisky in einer Karaffe – gerade genug für ihn, wie Winifred gedacht hatte, um sich als Mann zu fühlen. Schon der Anblick machte ihn krank, und er ging hinauf.

Winifred hörte ihn vorübergehen und dachte: »Der liebe Junge ist zurück. Gott sei Dank! Wenn er seinem Vater nachgeriete, wüßte ich nicht, was ich tun sollte! Aber er wird es nicht – er gleicht mir. Der liebe Val!«


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