Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Ein Sommertag

In den Tagen, die dem ersten Spaziergang mit Irene im Richmondpark folgten, kam Jolyon sein Junge selten aus dem Sinn. Es waren keine weiteren Nachrichten eingetroffen; Nachfragen beim Kriegsministerium hatten keinen Erfolg, noch konnte er erwarten, vor mindestens drei Wochen von June und Holly etwas zu hören. In diesen Tagen fühlte er, wie unvollkommen seine Vorstellung von Jolly und welch ein Dilettant von Vater er gewesen war. Nicht eine Erinnerung, in der Zorn eine Rolle spielte; nicht eine an Wiederversöhnung, weil nie ein Bruch stattgefunden hatte; noch auch eine vertrauliche Aussprache von Herz zu Herz, nicht einmal, als Jollys Mutter starb. Nichts als halb ironische Zuneigung. Er hatte sich aus Furcht, seine Freiheit zu verlieren oder der seines Jungen ins Gehege zu kommen, zu sehr gescheut, sich in irgend einer Richtung preiszugeben.

Nur in Irenens Gegenwart fand er Erleichterung, aber ihn verwirrte die stetig wachsende Wahrnehmung, wie geteilt sein Empfinden zwischen ihr und seinem Sohne war. Mit Jolly war für ihn all sein Sinn für Fortsetzung und sozialen Glauben verknüpft, den er in seiner Jugend und dann während der Schuljahre und des Universitätslebens seines Jungen so tief eingesogen – all sein Streben nicht zu berühren, was Vater und Sohn von einander erwarteten. Mit Irene war all seine Freude an Schönheit und Natur verknüpft. Und er schien immer weniger und weniger zu wissen, was stärker in ihm war. Aus dieser sentimentalen Erstarrung wurde er jedoch eines Nachmittags, gerade als er im Begriff war, sich nach Richmond aufzumachen, rauh durch einen jungen Mann erweckt, der mit einem Zweirad und einem merkwürdig bekannten Gesicht leise lächelnd auf ihn zukam.

»Mr. Jolyon Forsyte? Bitte!« Er übergab Jolyon einen Brief, schob das Rad auf den Weg und fuhr davon. Bestürzt öffnete Jolyon das Schreiben.

›Vorladung in Scheidungssachen Forsyte contra Forsyte und Forsyte!‹ Einem Gefühl von Scham und Abscheu folgte augenblicklich die Reaktion: ›Was willst du denn?! Das ist ja, was du brauchst, und du magst es nicht!‹ Aber sie hatte es sicher ebenfalls erhalten, und er mußte sofort zu ihr gehen. Er überlegte, während er unterwegs war. Es war eine ironische Geschichte! Denn was die Heilige Schrift auch von dem Herzen sagen mochte, es gehörte mehr als nur Sehnsucht dazu, das Gesetz zu befriedigen. Sie konnten diese Klage sehr gut abweisen oder es wenigstens in gutem Glauben versuchen. Aber der Gedanke daran empörte Jolyon. War er auch nicht wirklich ihr Liebhaber, so wünschte er doch, es zu sein, und er wußte, daß sie bereit war, zu ihm zu kommen. Ihr Antlitz hatte es ihm gesagt. Allein er hatte keine übertriebene Vorstellung von ihrem Gefühl für ihn. Sie hatte ihre große Leidenschaft gehabt, und er konnte in seinem Alter keine zweite von ihr erwarten. Aber sie hatte Vertrauen zu ihm, empfand Zuneigung für ihn, und sie mußte fühlen, daß er eine Zuflucht für sie war. Da sie wußte, daß er sie anbetete, würde sie ihn sicherlich nicht bitten, die Klage abzuweisen. Dem Himmel sei Dank, hatte sie nicht die verrückte britische Gewissenhaftigkeit, die um des Verzichts willen auf Glück verzichtet! Sie würde sich freuen, auf diese Weise frei zu werden – nach siebzehn Jahren lebendigen Todes! Und daß es vor die Öffentlichkeit kam, war nicht zu vermeiden. Die Abweisung der Klage würde die Schande nicht von ihnen nehmen. Jolyon hatte völlig das Gefühl eines Forsyte, dessen Privatleben bedroht ist: Sollte das Gesetz gegen ihn sein, dann wenigstens mit gutem Grund. Die Vorstellung, vor den Schranken der Wahrheit gemäß zu beschwören, daß es zu keiner Gebärde, nicht einmal einem Wort der Liebe zwischen ihnen gekommen war, schien ihm überdies erniedrigender als stillschweigend die Schande, ein Ehebrecher zu sein, auf sich zu nehmen – viel erniedrigender im Hinblick auf das Gefühl in seinem Herzen und ebenso peinlich und schlimm für seine Kinder. Der Gedanke, für seine Zusammenkünfte in Paris und die Spaziergänge im Richmondpark vor einem Richter und zwölf Durchschnittsengländern irgend einen Vorwand zu finden, wenn er konnte, war ihm entsetzlich. Die Brutalität und heuchlerische Strenge dieser Sittenrichter, die Wahrscheinlichkeit, daß man ihnen nicht glauben würde – die Idee allein, sie, die er als Verkörperung der Natur und der Schönheit betrachtete, dort vor all den argwöhnischen Augen stehen zu sehen, war ihm fürchterlich. Nein, nein! Die Abweisung der Klage bedeutete nur eine Sensation für London und reißenden Absatz der Zeitungen. Tausendmal besser anzunehmen, was Soames und die Götter schickten!

›Außerdem,‹ dachte er ehrlich, ›wer weiß, ob ich, selbst um meines Jungen willen, diesen Zustand noch länger hätte ertragen können? Jedenfalls kommt ihr Hals endlich aus der Schlinge!‹ So vertieft, hatte er die große Hitze kaum bemerkt. Der Himmel hatte sich bezogen, war purpurn mit kleinen Streifen von Weiß darin. Ein schwerer Regentropfen drückte ein kleines Sternmuster in den Staub des Weges, als er in den Park eintrat. ›Hu!‹ dachte er, ›Gewitter! Hoffentlich kommt sie mir nicht entgegen; es fängt schon an zu regnen!‹ Aber da sah er Irene schon auf das Tor zukommen. ›Wir müssen rasch zurück nach Robin Hill,‹ dachte er.

Der Sturm war um vier Uhr über ›The Poultry‹ gekommen und hatte den Schreibern in allen Büros eine willkommene Zerstreuung gebracht. Soames trank gerade eine Tasse Tee, als ihm ein Billett übergeben wurde:

›Sehr geehrter Herr!

Forsyte c. Forsyte und Forsyte

Ihren Instruktionen gemäß erlauben wir uns Ihnen mitzuteilen, daß wir den Beklagten in Robin Hill respektive Richmond heute persönlich die Vorladung zugestellt haben.

Hochachtungsvoll
Linkman & Laver.‹

Einige Minuten starrte Soames auf das Billett. Gleich nachdem er jene Instruktionen gegeben hatte, war er in Versuchung gewesen, sie zu widerrufen. Es war so schmachvoll, solch eine Schande! Die Beweise und was er gehört hatte, waren ihm nie wirklich entscheidend erschienen; immer weniger glaubte er, daß die beiden bis zu diesem Punkt vorgegangen waren. Dies aber würde sie natürlich dazu treiben, und er litt bei dem Gedanken. Diesem Manne sollte ihre Liebe gehören, wo es ihm nicht gelungen war, sie zu gewinnen! War es zu spät? Gab es jetzt, wo sie durch diese Klage aufgeschreckt waren, kein Mittel, sie auseinander zu bringen? ›Aber wenn ich nicht sofort handle,‹ dachte er, ›wird es zu spät, wo sie dies Ding da nun bekommen haben. Ich will ihn aufsuchen. Ich gehe zu ihm!‹

Und krank vor nervöser Erregtheit schickte er nach einer der neumodischen Motordroschken. Es konnte lange dauern, den Mann zu Fall zu bringen, und Gott weiß zu welcher Entscheidung sie nach solch einem Schlag kommen konnten! ›Wäre ich so ein theatralischer Esel,‹ dachte er, ›so müßte ich eigentlich eine Peitsche oder eine Pistole oder dergleichen mitnehmen!‹ Er nahm statt dessen aber in der Absicht, sie unterwegs zu lesen, ein Bündel Akten in Sachen ›Magentie contra Wake‹ mit. Allein er öffnete es nicht einmal, sondern saß ganz still, ließ sich schütteln und rütteln und merkte nichts von dem Luftzug hinten am Halse, noch dem Maschinölgeruch. Er mußte sich nach Jolyons Haltung richten; die Hauptsache war den Kopf oben zu behalten!

London hatte bereits begonnen, seine Arbeiter auszuspeien, als er sich der Putney Bridge näherte; der Ameisenhaufe war in Bewegung nach außerhalb. Was für eine Menge Ameisen, die alle einen Lebensunterhalt brauchen und ängstlich bemüht sind, in dem großen Getriebe etwas zu erhaschen! Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben dachte Soames: › Ich könnte alles gehen lassen, wenn ich wollte! Nichts könnte mir etwas anhaben; ich könnte ihnen ein Schnippchen schlagen, leben wie ich wollte – mich amüsieren!‹ Nein! Man konnte nicht leben wie er es getan, und dann alles fallen lassen – sich dem Wohlleben hingeben, sein Geld vergeuden und den Ruf, den er sich erworben. Das Leben eines Mannes gipfelte in dem, was er besaß und zu besitzen strebte. Nur Toren dachten anders – Toren, Sozialisten und Wüstlinge!

Die Droschke fuhr jetzt an Villen vorüber, es ging sehr schnell. ›Fünfzehn Meilen die Stunde, glaube ich!‹ überlegte er, ›das wird die Leute anspornen außerhalb der Stadt zu leben!‹ und er dachte daran, wie es auf die Grundstücke in London wirken würde, die sein Vater besaß – er selbst hatte sich nie zu dieser Art der Anlage verstehen können, als Sammler hatte er alle flüssigen Mittel für seine Bilder gebraucht. Und die Droschke eilte weiter, den Hügel hinter Wimbledon Common hinunter. Diese Zusammenkunft! Sicher würde ein Mann von über zweiundfünfzig mit erwachsenen Kindern, ein Maler in gesicherter Stellung, nicht unverständig sein. ›Er wird nicht Schande über seine Familie bringen wollen,‹ dachte er, ›er liebte seinen Vater wie ich den meinen, und sie waren Brüder. Diese Frau zerstört alles – was ist es nur in ihr? Ich bin nie dahinter gekommen.‹ Die Droschke bog ab, fuhr am Rande eines Waldes entlang, und er hörte einen späten Kuckuck rufen, beinah den ersten, den er in diesem Jahr gehört. Er war jetzt dem Platz fast gegenüber, den er ursprünglich für sein Haus gewählt hatte und der so ohne weiteres von Bosinney zu Gunsten seiner eigenen Wahl verworfen wurde. Er wischte sich mit dem Taschentuch über Gesicht und Hände und atmete tief, um eine feste Haltung zu gewinnen. ›Kopf oben behalten,‹ dachte er, ›Kopf oben behalten!‹

Die Droschke bog in den Fahrweg ein, der sein eigener hätte sein können, und er vernahm Töne von Musik. Er hatte Jolyons Töchter ganz vergessen.

»Ich komme vielleicht gleich wieder heraus,« sagte er zu dem Kutscher, »oder ich werde vielleicht auch einige Zeit aufgehalten.« Und er klingelte.

Als er dem Mädchen durch die Vorhänge in die innere Halle folgte, empfand er eine Erleichterung bei dem Gedanken, daß der Anprall dieser Begegnung durch June oder Holly gemildert werden würde, von denen eine wohl da drinnen spielte, und sah daher mit größtem Erstaunen Irene am Klavier und Jolyon zuhörend in einem Armstuhl sitzen. Beide erhoben sich. Das Blut stieg Soames zu Kopf, und sein Vorsatz, sich nach diesem oder jenem zu richten, war völlig vergessen. Der Blick seiner Farmer-Vorfahren – der mürrischen Forsytes unten an der See – starrte aus seinem Gesicht.

»Sehr hübsch!« sagte er.

Er hörte Jolyon murmeln:

»Dies ist wohl kaum der Ort – wir wollen ins Arbeitszimmer gehen, wenn es dir recht ist.« Und beide gingen mit ihm durch die Öffnung des Vorhangs. In dem kleinen Zimmer, in das er ihnen folgte, stand Irene an dem offenen Fenster und Jolyon dicht neben ihr an einem großen Stuhl. Soames schlug die Tür laut hinter sich zu; das Geräusch trug ihn durch all die Jahre zurück zu dem Tage, wo er Jolyon die Haustür vor der Nase zugeschlagen hatte – sie ihm vor der Nase zugeschlagen, weil er sich in seine Angelegenheiten gemischt hatte.

»Nun,« sagte er, »was habt ihr hierzu zu sagen?«

Der Mann hatte die Frechheit zu lächeln.

»Was wir heute erhalten haben, nimmt dir das Recht zu fragen. Ich hätte gedacht, du wärst froh, deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.«

»O!« sagte Soames; »glaubst du! Ich kam, dir zu sagen, daß ich mich unter Preisgebung aller Einzelheiten der Schande von ihr scheiden lassen werde, wenn ihr nicht schwört, einander von jetzt an zu meiden.«

Er war erstaunt über seinen Redefluß, weil er im Herzen stammelte und seine Hände zuckten. Keiner von ihnen antwortete; aber in ihren Gesichtern glaubte er Verachtung zu lesen. »Nun, Irene – und du?« sagte er.

Ihre Lippen bewegten sich, aber Jolyon legte seine Hand auf ihren Arm.

»Laß sie,« sagte Soames wütend. »Irene, willst du es schwören?«

»Nein.«

»So! und du!«

»Noch weniger!«

»Dann bist du also schuldig, nicht wahr?«

»Ja, schuldig!« Es war Irene, die das mit ihrer klaren Stimme sagte, mit jener unnahbaren Miene, die ihn so oft bis zur Raserei gebracht hatte, und ganz außer sich, rief er:

»Du bist ein Teufel!«

»Hinaus! Verlasse dieses Haus, oder ich schlag dich nieder!«

Dieser Bursche wagte so zu sprechen! Wußte er denn, wie nahe er daran war, sich den Hals zu brechen?

»Ein Testamentsvollstrecker, der anvertrautes Gut angreift!« sagte er. »Ein Dieb, der die Frau seines Vetters stiehlt.«

»Nenne mich wie du willst. Du hast dein Teil gewählt, und wir das unsrige. Hinaus!«

Hätte Soames eine Waffe mitgebracht, so würde er sie in diesem Augenblick wohl gebraucht haben.

»Das sollst du mir bezahlen!« sagte er.

»Wird mich sehr freuen.«

Bei dieser grausamen Verdrehung dessen, was er mit seinen Worten gemeint, obendrein noch von dem Sohn des Mannes, der ihm den Spottnamen ›Der reiche Mann‹ gegeben, blickte Soames wild umher. Es war lächerlich!

Hier standen sie, durch eine geheime Gewalt zurückgehalten, Gewalt zu brauchen. Kein Schlag möglich, kein Wort, das traf. Aber er konnte nicht, wußte nicht, wie er umkehren und fortgehen sollte. Seine Augen hefteten sich an Irenens Gesicht – es war wohl das letzte Mal, daß er dies verhängnisvolle Antlitz sah – kein Zweifel, das letzte Mal!

»Du wirst,« sagte er plötzlich, »ich hoffe, du wirst ihn behandeln wie du mich behandelt hast –«

Er sah sie zurückfahren, und mit einem Gefühl, das nicht ganz Triumph und nicht ganz Erleichterung war, riß er die Tür auf, ging durch die Halle und stieg in seine Droschke. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen in die Polster. Nie im Leben war er mörderischer Gewalt so nahe gewesen, hatte nie so seine Zurückhaltung vergessen, die seine zweite Natur war. Er hatte eine Empfindung von Nacktheit, des Entblößtseins, als hätte alle Kraft ihn verlassen – als wäre das Leben sinnlos, als weigere das Hirn sich zu arbeiten. Die Sonne strömte zu ihm herein, aber er fror. Die Szene, die er durchgemacht, war ihm schon entglitten, was vor ihm lag, wollte nicht Gestalt annehmen, er vermochte nichts zu fassen; und er erschrak, als hinge er über dem Rande eines Abgrunds, als müsse er bei einer weiteren Bewegung den Verstand verlieren. ›Das ist nichts für mich,‹ dachte er; ›ich darf das nicht – es ist nichts für mich.‹ Die Droschke eilte weiter, und in mechanischer Folge kamen sie an Bäumen, Häusern, Leuten vorbei, doch alles war ohne Sinn. ›Ich fühle mich sehr sonderbar,‹ dachte er, ›ich werde ein türkisches Bad nehmen. Ich – war nahe daran zu unterliegen, so geht es nicht weiter.‹ Die Droschke rasselte ihren Weg zurück über die Brücke, Fulham Road hinauf und den Hydepark entlang.

»Ins Türkische Bad,« sagte Soames.

Merkwürdig, daß an einem so warmen Sommertag Hitze so angenehm sein sollte! Als er in den heißen Raum trat, begegnete er George Forsyte, der rot und strahlend gerade herauskam.

»Hallo!« sagte George; »wozu trainierst du dich? Du hast nicht viel zuzusetzen.«

Narr! Soames ging mit seinem schiefen Lächeln an ihm vorüber. Als er dalag und seine Haut bei den ersten Anzeichen der Transpiration eifrig rieb, dachte er: ›Mögen sie lachen! Ich kümmere mich nicht darum! Ich vertrage keine Heftigkeit! Es bekommt mir nicht!‹


 << zurück weiter >>