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Sechstes Kapitel

Jolyon schwankt

Ein kleines Privathotel über einem sehr bekannten Restaurant in der Nähe des Gare St. Lazare war Jolyons Absteigequartier in Paris. Er haßte seine Forsyte-Landsleute im Ausland – sie schienen ihm höchst lächerlich mit ihrem ewigen Rennen in die Oper, Rue de Rivoli und Moulin Rouge. Es war ihnen anzusehen, daß sie nur gekommen waren, um so bald wie möglich irgendwo anders zu sein, und das ärgerte ihn. Aber kein anderer Forsyte kam in die Nähe seines Schlupfwinkels, wo er ein Holzfeuer in seinem Schlafzimmer hatte und der Kaffee vorzüglich war. Paris gefiel ihm im Winter immer besser. Der beißende Geruch des Holzfeuers und gerösteter Kastanien, die Klarheit des winterlichen Sonnenscheins an hellen Tagen, die offenen Cafés, die dem schneidend kalten Winter Trotz boten, die biedere lebhafte Menge auf den Boulevards, alles das waren ihm Zeichen dafür, daß Paris im Winter eine Seele hatte, die wie ein Zugvogel im Hochsommer davonflog.

Er sprach gut französisch, hatte einige Freunde, kannte kleine Lokale, wo man gut essen und sonderbare Typen beobachten konnte. Er fühlte philosophisch in Paris, die Schneide seiner Ironie wurde schärfer, das Leben verlief hier reibungslos und ohne Ziel, ward zu einem Bündel schmackhafter Genüsse, einer Dunkelheit, von Strahlen wechselnden Lichts durchschossen.

Als er in der ersten Woche des Dezember beschloß, nach Paris zu gehen, war er weit entfernt davon, sich einzugestehen, daß Irenens Anwesenheit ihn beeinflußte. Er war noch nicht zwei Tage dort, als er erkannte, daß der Wunsch, sie zu sehen, mit der Hauptgrund dazu gewesen war. In England läßt man das natürlich nicht gelten. Er hatte gedacht, daß es gut wäre, mit ihr über das Vermieten ihrer Wohnung und andere Angelegenheiten zu sprechen, in Paris aber wußte er es sogleich besser. Am dritten Tage schrieb er an sie und erhielt eine Antwort, die seine Nerven in freudigen Aufruhr brachte:

›Mein lieber Jolyon!

Es wird mich glücklich machen, Sie zu sehen.

Irene.‹

An einem hellen Tage machte er sich mit einem Gefühl auf den Weg in ihr Hotel, wie er es oft hatte, wenn er ein Bild aufsuchte, das er liebte. Keine Frau hatte bisher, soviel er sich erinnerte, dies seltsam sinnliche und doch unpersönliche Gefühl in ihm erweckt. Es würde ein Fest für seine Augen sein, er würde von ihr gehen und sie nicht besser kennen, aber seinen Augen morgen freudig wieder dieses Fest bereiten. Dies war sein Gefühl, als sie ihm in dem verschossenen zierlichen Sprechzimmer eines stillen Hotels nahe am Flusse entgegen kam, nachdem ein kleiner Page sie mit dem Wort ›Madame‹ angemeldet hatte und verschwunden war. Ihr Gesicht, ihr Lächeln, ihre Haltung waren ganz wie er es sich vorgestellt, und der Ausdruck ihres Gesichts sagte deutlich: ›Ein Freund!‹

»Nun,« sagte er, »was für Nachrichten, Sie arme Verbannte?«

»Gar keine.«

»Nichts von Soames?«

»Nichts.«

»Ich habe die Wohnung für Sie vermietet, und als guter Verwalter bringe ich Ihnen etwas Geld. Wie gefällt Ihnen Paris?«

Während er sie so ausfragte, meinte er, nie so zarte, sensitive Lippen gesehen zu haben; die untere bog sich ein klein wenig aufwärts, und an der oberen war an einem Mundwinkel ein kaum sichtbares Grübchen. Es war, als entdecke er die Frau in einer bisher beinah unpersönlich bewunderten Statue. Sie gab zu, daß es ein wenig schwierig sei, allein in Paris zu sein; und doch wäre Paris so voll eigenen Lebens, daß sie sich oft fühlte wie in einer Einöde. Übrigens seien die Engländer augenblicklich nicht beliebt!

»Darunter werden Sie wohl kaum zu leiden haben,« sagte Jolyon. »Wahrscheinlich werden Sie auf die Franzosen Eindruck machen.«

»Das hat seine Nachteile.«

Jolyon nickte.

»Dann müssen Sie mir erlauben, Sie herumzuführen, während ich hier bin. Wir wollen morgen damit beginnen. Kommen Sie, dinieren Sie mit mir in meinem Lieblingsrestaurant, dann gehen wir in die Opéra-Comique.

Das war der Anfang täglicher Zusammenkünfte.

Jolyon fand bald heraus, daß für jemand, der unbeirrt seiner Neigung nach zu leben wünscht, Paris der einzige Ort war, in dem man freundschaftlich mit einer hübschen Frau verkehren konnte. Wie eine Offenbarung kam es über ihn und sang in seinem Herzen wie ein Vogel: ›Elle est ton rêve! Elle est ton rêve!‹ Zuweilen schien es ihm ganz natürlich, zuweilen beinah lächerlich – ein schlimmer Fall für ältliche Liebhaber. Einst von der Gesellschaft ausgestoßen, hatte er seitdem niemals Rücksicht auf konventionelle Moral genommen, aber der Gedanke an eine Liebe, die sie nie erwidern konnte – und wie sollte sie auch bei seinem Alter? – kam kaum über sein Unterbewußtsein hinaus. Die Einsamkeit und Öde ihres Lebens verdroß ihn, und als er merkte, daß seine Anwesenheit ihr ein Trost war und die vielen kleinen Ausflüge ihr Vergnügen machten, hütete er sich sorgfältig, etwas zu sagen oder zu tun, was dies Vergnügen hätte stören können. Wie eine verdorrte Pflanze Wasser aufsaugt, trank sie seine Gegenwart in sich hinein. Soviel sie wußte, kannte niemand außer ihm ihre Adresse; sie war unbekannt in Paris, und er nur wenig bekannt, so daß eine Vorsicht unnötig schien bei diesen Spaziergängen, Gesprächen, Besuchen von Konzerten, Gemälde-Galerien, Theatern, kleinen Diners, Ausflügen nach Versailles, St. Cloud und sogar Fontainebleau. Und die Zeit verflog – ein voller Monat ohne Vergangenheit und Zukunft. Was in seiner Jugend sicher ungestüme Leidenschaft gewesen wäre, war jetzt vielleicht ein ebenso tiefes Gefühl, aber viel sanfter und gemäßigter, durch seine Bewunderung, seine Hoffnungslosigkeit und Ritterlichkeit in beschützende Kameradschaft umgewandelt, wenigstens solange sie da war, lächelnd und glücklich in ihrer Freundschaft und für ihn immer schöner und ihm geistig näher: denn ihre Lebensphilosophie, mehr auf Empfindung als Vernunft gegründet, schien wunderbar mit der seinen Schritt zu halten; sie war voll ironischen Mißtrauens, empfänglich für Schönheit, fast leidenschaftlich hilfreich und tolerant, konnte aber in instinktivem Starrsinn verharren, dessen er als Mann nicht fähig war. Und während dieses ganzen gemeinsam verlebten Monats verließ ihn das Gefühl des ersten Tages, wie er es beim Anschauen eines bewunderten Kunstwerkes gehabt, ein beinah unpersönliches Verlangen, niemals ganz. Aus Furcht, seine Sorglosigkeit einzubüßen, schob er den Gedanken an die Zukunft – die so unerbittlich mit der Gegenwart zusammenhing – weit von sich; aber er machte Pläne, eine solche Zeit einst wieder an Orten zu verleben, die noch schöner waren, wo die Sonne heiß war und es merkwürdige Dinge zu sehen und zu malen gab. Ein Telegramm am 20. Januar machte allem rasch ein Ende:

›Habe mich als Freiwilliger gemeldet – Jolly.‹

Jolyon erhielt es gerade, als er im Begriff war, Irene im Louvre zu treffen. Er fiel aus allen Himmeln. Während er hier schwelgte und die Zeit verträumte, hatte sein Junge, dem er Ratgeber und Führer sein sollte, diesen großen Schritt zu Gefahr, Mühsal, vielleicht sogar Tod getan. Er war in tiefster Seele verstört und erkannte plötzlich, wie fest Irene in seinem Dasein wurzelte. So, durch Trennung bedroht, konnte das Band zwischen ihnen – denn es war eine Art Band geworden – nicht länger unpersönlich bleiben. Mit dem ruhigen Genießen der Dinge im allgemeinen, merkte Jolyon, war es für immer vorbei. Er sah sein Gefühl, wie es wirklich war, als eine Art Bezauberung. Das war vielleicht lächerlich, aber so wahr, daß es sich früher oder später doch verraten hätte. Allein jetzt, schien ihm, konnte er, durfte er eine solche Eröffnung nicht machen. Die Nachrichten von Jolly standen dem unerbittlich im Wege. Er war stolz, daß Jolly sich hatte anwerben lassen; stolz auf seinen Jungen, weil er für sein Land kämpfen wollte; denn auch auf Jolyons Parteinahme für die Buren hatte die Schwarze Woche ihren Stempel gedrückt. Und so war das Ende vor dem Anfang erreicht! Glücklicherweise aber hatte er sich nie etwas merken lassen!

Als er in die Galerie kam, stand sie vor der ›Jungfrau am Felsen‹, anmutig, versunken, lächelnd und unbewußt. › Muß ich aufgeben das zu sehen?‹ dachte er. ›Es wäre zu viel verlangt, solange sie erlaubt, daß ich sie sehe.‹ Er stand unbemerkt da und beobachtete sie, prägte sich ihre Gestalt ein und beneidete das Bild, auf dem ihr Blick so lange prüfend ruhte. Zweimal wandte sie den Kopf dem Eingang zu, und er dachte: ›Das gilt mir!‹ Schließlich ging er auf sie zu.

»Sehen Sie her!« sagte er.

Sie las das Telegramm und er hörte sie seufzen.

Der Seufzer galt ebenfalls ihm! Seine Lage war wirklich grausam! Um seinem Sohne treu zu bleiben, mußte er ihr die Hand schütteln und gehen. Um dem Gefühl in seinem Herzen treu zu bleiben, mußte er zumindest sagen, welch, ein Gefühl es war! Konnte sie, würde sie das Schweigen verstehen, mit dem er auf das Bild starrte?

»Ich fürchte, ich muß sofort nach Haus reisen,« sagte er endlich. »Ich werde alles dies furchtbar vermissen.«

»Ich ebenfalls; aber natürlich müssen Sie fort.«

»Also!« sagte Jolyon und streckte seine Hand aus.

Als er ihrem Blick begegnete, übermannte ihn fast eine Flut von Gefühlen.

»So ist das Leben!« sagte er. »Seien Sie vorsichtig, meine Liebe!«

Beine und Füße versagten beinahe, als weigere sich sein Gehirn, ihn von ihr fort zu führen. An der Tür sah er sie die Hand heben und die Finger mit den Lippen berühren. Er lüftete feierlich den Hut und blickte nicht zurück.


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