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Vierzehntes Kapitel

Eine seltsame Nacht

Soames wartete verdrießlich auf den Frühling – keine leichte Aufgabe für jemand, der sich sagen muß, daß die Zeit entflieht, die Vögel im Busch seiner Hand nicht näher sind und nirgends ein Ausweg aus dem Spinnennetz in Sicht ist. Mr. Polteed hatte nichts zu berichten, ausgenommen, daß die Beobachtung fortgesetzt wurde – und eine Menge Geld kostete. Val und sein Vetter waren in den Krieg gegangen, von wo günstige Nachrichten kamen, Dartie benahm sich so weit ganz gut, James hatte seine Gesundheit bewahrt, das Geschäft blühte beinah beängstigend – es gab nichts, das Soames quälte, außer, daß er ›aufgehalten‹ wurde und nach keiner Richtung hin Schritte unternehmen konnte.

Er mied Soho nicht gerade, denn er durfte sie nicht glauben lassen, daß er ›abgeschnappt‹ war, wie James sich ausgedrückt hätte – denn er würde vielleicht sehr bald wieder ›zuschnappen‹ wollen. Doch er mußte zurückhaltend und vorsichtig sein, so daß er oft an der Tür des Restaurants Bretagne vorüberging, ohne einzutreten, und in der Umgebung dieser Gegend umherwanderte, die ihm immer das Gefühl unrechtmäßigen Besitzes gab.

So wanderte er in einer Mainacht die Regent Street hinunter und kam in ein Gedränge, wie er es noch nie gesehen: eine johlende, pfeifende, tanzende, stoßende, groteske und fürchterlich lustige Menge, mit falschen Nasen und Mundharmonikas, Groschenpfeifen und langen Federn, eine ganz idiotische Ausstaffierung, dünkte ihn. Mafeking! Natürlich, es war ja Entsatz dahingekommen! Gut! Aber war das eine Entschuldigung? Wer waren diese Leute, was waren sie, woher waren sie in den Westen gekommen? Sie kitzelten sein Gesicht, pfiffen ihm in die Ohren. Mädchen riefen: »Verliere deine Perücke nicht!« Ein junger Bursche schlug ihm seinen Hut herunter, daß er ihn nur mit Mühe wieder erlangte. Schwärmer explodierten ihm vor der Nase, zwischen seinen Füßen. Er war verblüfft, erschöpft, beleidigt. Dieser Volksstrom kam von überall her, als hätten sich plötzlich Schleusen geöffnet und Wasser fließen lassen, von deren Existenz er wohl gehört, aber an die er nie geglaubt hatte. Dies also war die Bevölkerung, die unübersehbar lebendige Negation von Lebensart und Forsyteismus. Dies also war – Demokratie! Sie stank, gellte, war scheußlich! Im Osten, oder selbst in Soho, ja, vielleicht – aber hier in der Regent Street, in der Piccadilly! Wo war denn die Polizei? Bis zum Jahre 1900 hatte Soames mit seinen Tausenden von Forsytes nie das Ungetüm mit offenen Lidern gesehen; und als er jetzt hineinschaute, wollte er kaum seinen brennenden Augen trauen. Die ganze Sache war unglaublich! Diese Leute taten sich keinen Zwang an, sie schienen ihn für komisch zu halten; diese Schwärme von ihnen, roh, gemein, lachend – und was für ein Lachen! Nichts war ihnen heilig! Er hätte sich nicht gewundert, wenn ihnen eingefallen wäre die Fenster einzuschlagen. In Pall Mall, hinter den großartigen Klubs in die einzutreten die Leute sechzig Pfund bezahlten, schwärmte diese schreiende, pfeifende, tanzende Menge, Derwischen gleich, umher. Von den Klubfenstern schauten Leute seiner Art mit maßvollem Vergnügen auf sie herab. Es kam ihnen nicht zu Bewußtsein! Dies war ja Ernst – es konnte wer weiß was geschehen! Die Menge war fröhlich, eines Tages aber würde sie in anderer Stimmung sein! Er erinnerte sich einer lärmenden Rotte am Ende der achtziger Jahre, als er in Brighton wohnte; sie hatten alles zertrümmert und Reden gehalten. Aber es war mehr tiefes Staunen als Furcht, was er empfand. Sie waren hysterisch – das war nicht englisch! Und alles das wegen der Befreiung einer kleinen Stadt, sechstausend Meilen entfernt von hier. Zurückhaltung, Vorsicht! Diese Eigenschaften, die ihm fast teurer waren als das Leben, diese unentbehrlichen Attribute des Besitzes und der Kultur, wo waren sie? Es war nicht englisch! Nein, es war nicht englisch! So grübelte Soames, als er seinen Weg weiter verfolgte. Es war, als hätte er plötzlich jemand beim Herausschneiden eines wichtigen Dokuments aus seinen Akten ertappt, oder ein lauerndes, schleichendes Ungeheuer erblickt, das seinen Schatten vorauswarf. Ihnen fehlte Solidität, ihnen fehlte Ehrfurcht! Es war, wie die Entdeckung, daß neun Zehntel des englischen Volkes Ausländer waren. Und wenn dem so war – dann konnte allerlei geschehen!

Am Hydepark Corner stieß er auf George Forsyte, sehr sonnverbrannt von den Rennen, mit einer falschen Nase in der Hand.

»Hallo, Soames!« sagte er. »Hier hast du eine Nase!«

Soames antwortete mit einem bleichen Lächeln.

»Bekam sie von einem dieser Spaßvögel,« fuhr George fort, der offenbar von einem Dinner kam; »geriet in Streit mit ihm, weil er versuchte, mir den Hut herunterzuschlagen. Nächstens werden wir mit diesen Burschen zu kämpfen haben, sie werden verdammt frech – alles Radikale und Sozialisten. Sie wollen unser Hab und Gut. Du kannst das Onkel James sagen, dann wird er wieder besser schlafen.«

›In vino veritas‹, dachte Soames, aber er nickte nur und ging weiter über den Hamilton-Platz. Es waren nur ein paar Lärmmacher in Park Lane, sie waren nicht sehr laut. Er blickte zu den Häusern empor und dachte: ›Schließlich sind wir doch das Rückgrat des Landes. Sie werden uns nicht so bald über den Haufen werfen, Besitz ist neun Zehntel des Gesetzes.‹

Doch als er die Tür von seines Vaters Haus hinter sich schloß, schwand dieser ganze sonderbar fremdartige Spuk beinah ebenso vollständig aus seinem Gedächtnis, als hätte er davon geträumt und erwachte in dem saubern Morgenkomfort seines Sprungfedermatratzenbettes.

In der Mitte des großen leeren Wohnzimmers blieb er stehen.

Eine Frau! Jemand, mit dem man etwas besprechen kann. Man hatte ein Recht darauf! Hol's der Teufel! Man hatte ein Recht darauf!


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