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Fünftes Kapitel

Soames handelt

Ein versiegelter Brief in der Handschrift des Mr. Polteed blieb ungeöffnet in Soames' Tasche während der zwei Stunden anhaltender Aufmerksamkeit in Sachen der ›New Colliery Company‹, mit der es beinah seit dem Rücktritt des alten Jolyon als Vorsitzender gehapert hatte und kürzlich so rasch abwärts gegangen war, daß jetzt nichts als eine Liquidation übrig blieb. Er nahm den Brief beim Lunch in seinem Klub heraus, der ihm der Mahlzeiten wegen heilig war, die er früh in den siebziger Jahren dort mit seinem Vater eingenommen hatte, weil James es gern sah, daß er dorthin kam, um die Art seines künftigen Lebens kennen zu lernen.

Hier, in einer entlegenen Ecke vor einer Platte Hammelbraten und Kartoffelbrei, las er:

›Sehr geehrter Herr!

Ihrer Anregung folgend, haben wir die Sache pünktlich am andern Ende mit befriedigendem Erfolg wieder aufgenommen. Beobachtungen von 47 haben uns instand gesetzt, 17 im Green Hotel, Richmond, festzustellen. Die beiden trafen sich, wie beobachtet wurde, in der vergangenen Woche täglich im Richmondpark. Bisher ist nichts durchaus Entscheidendes bemerkt worden. Aber im Verein mit dem, was wir am Anfang des Jahres in Paris erfuhren, bin ich überzeugt, daß wir das Gericht jetzt befriedigen könnten. Wir werden natürlich mit der Beobachtung der Sache fortfahren, bis wir von Ihnen hören.

Hochachtungsvoll
Claud Polteed.‹

Soames las den Brief zweimal durch und winkte dem Kellner.

»Nehmen Sie dies fort, es ist kalt.«

»Soll ich etwas anderes bringen, Sir?«

»Nein. Bringen Sie mir den Kaffee in das andere Zimmer.«

Und nachdem er bezahlt hatte, was er nicht gegessen, ging er ohne Zeichen des Erkennens an zwei Bekannten vorüber hinaus.

›Das Gericht befriedigen!‹ dachte er, als er mit dem Kaffee vor sich an dem kleinen runden Marmortisch saß. Dieser Jolyon! Er goß sich den Kaffee ein, süßte ihn und trank ihn aus. Er würde ihn in den Augen seiner Kinder erniedrigen! Mit diesem festen Entschluß stand er auf und empfand zum ersten Male, wie nachteilig es war, sein eigener Anwalt zu sein. Er konnte diese skandalöse Sache nicht in seinem eigenen Büro führen. Er mußte seine innerste Privatehre einem Fremden anvertrauen, einem andern amtlichen Vertreter in schimpflichen Familienhändeln. Zu wem konnte er gehen? Linkman und Laver in der Budge Row vielleicht – sie waren zuverlässig, nicht zu angesehen, nur eine Grüßbekanntschaft. Doch bevor er zu ihnen ging, mußte er Polteed noch einmal sprechen. Bei diesem Gedanken überkam Soames jedoch ein Moment der Schwäche. Sein Geheimnis preisgeben? Wie die Worte finden? Sich der Verachtung und heimlichem Gelächter aussetzen? Aber schließlich, der Mensch wußte ja schon – o ja, er wußte es! Und in dem Gefühl, daß er jetzt ein Ende machen müsse, nahm er eine Droschke nach dem Westen.

Bei diesem heißen Wetter stand das Fenster von Mr. Polteeds Zimmer wirklich offen, und nur ein feinmaschiges Drahtnetz sollte das Eindringen der Fliegen verhüten. Zwei oder drei hatten versucht hereinzukommen und waren gefangen, so daß sie in der Erwartung, sogleich verschlungen zu werden, daran zu kleben schienen. Polteed, der der Richtung des Blicks seines Klienten folgte, stand, sich entschuldigend, auf und schloß das Fenster.

›Affektierter Esel!‹ dachte Soames. Wie alle, die im wesentlichen an sich selbst glauben, fand er sich in die Sache und sagte mit seinem leisen schiefen Lächeln: »Ich erhielt Ihren Brief, jetzt werde ich handeln. Vermutlich wissen Sie, wer die Dame, die Sie beobachten lassen, tatsächlich ist?«

Mr. Polteeds Ausdruck in diesem Augenblick war ein Meisterstück. Er sagte deutlich: »Aber was denken Sie? Nur berufliches Wissen, ich versichere Sie – verzeihen Sie, bitte!« Er machte eine leise Bewegung mit der Hand, als wolle er sagen: ›So etwas – so etwas kommt bei uns schon vor!‹

»Gut denn,« sagte Soames, seine Lippen netzend, »dann ist nichts weiter zu sagen nötig. Ich gebe Linkman und Laver, Budge Row, Anweisung, die Sache zu übernehmen. Ihre Zeugenaussage brauche ich nicht, aber senden Sie ihnen um fünf Uhr freundlichst Ihren Bericht und fahren Sie fort, die äußerste Verschwiegenheit zu bewahren.«

Mr. Polteed schloß die Augen halb, wie um anzudeuten, daß er seinem Wunsche sofort nachkommen werde.

»Sind Sie überzeugt,« fragte Soames mit plötzlicher Energie, »daß es genügt?«

Mr. Polteed zuckte fast unmerklich die Achseln.

»Sie können es riskieren,« murmelte er, »mit dem, was wir haben, und im Hinblick auf die menschliche Natur können Sie es riskieren.«

Soames erhob sich. »Sie müssen nach Mr. Linkman fragen. Danke, behalten Sie Ihren Platz.« Er konnte es nicht ertragen, Mr. Polteed wie sonst zwischen sich und die Tür gleiten zu sehen. Im Sonnenschein in der Piccadilly trocknete er sich die Stirn. Das war das schlimmste von allem gewesen – er konnte Fremde besser vertragen. Und er ging in die City zurück, zu tun, was ihm noch bevorstand.

An diesem Abend in Park Lane, als er seinen Vater beim Essen beobachtete, übermannte ihn sein altes Sehnen nach einem Sohn – einem Sohn, der ihn beim Essen beobachten sollte, wenn es bergab mit ihm ging, den er auf seine Knie setzen konnte, wie James es einst mit ihm zu tun gepflegt; einen Sohn, den er selbst gezeugt, der ihn verstehen konnte, weil er vom selben Fleisch und Blut war – ihn verstehen und ihn trösten, und der reicher und kultivierter sein würde als er, weil er in besserer Lage anfangen konnte. Alt werden, wie diese hagere, graue, gebrechlich dünne Gestalt, die dort saß – und ganz allein sein mit Besitztümern, die sich um einen häuften; an nichts Interesse haben, weil es keine Zukunft hatte und von ihm an Hände, Münder und Augen kommen würde, an denen ihm nicht das geringste lag! Nein! Jetzt wollte er es erzwingen und frei sein, um zu heiraten und einen Sohn zu haben, für den er sorgen konnte, bevor er ein so alter, alter Mann war wie sein Vater, dessen sehnsüchtiger Blick bald auf seinem Kalbsbries, bald auf seinem Sohne ruhte.

In dieser Stimmung ging er zu Bett. Doch während er warm zwischen den feinen Leinentüchern lag, die Emily vorsorglich angeschafft hatte, war er von Erinnerungen und Qualen heimgesucht. Er war besessen von Irenens Bild, meinte ihren Körper fast zu fühlen. Weshalb war er jemals so töricht gewesen, sie wiederzusehen und sich von dieser Flut mitreißen zu lassen, sodaß es schmerzte, an sie zu denken – mit diesem Mann, diesem Manne, der sie ihm stahl!


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