Gustav Freytag
Bilder aus der deutschen Vergangenheit
Gustav Freytag

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XXXI
Aus den Lehrjahres des deutschen Bürgers

(1790)

Verschiedene Grundlagen für Sittlichkeit und Tatkraft bei Adel, Bürgern und Bauern. Charakteristisches im Leben des Landadels. Die Frömmigkeit der Landleute. Das gebildete Bürgertum. Vorzüge der lateinischen Schule und der Universitätsbildung. Mißbehagen gegenüber dem Leben. – Die Empfindsamkeit und ihre Wandlungen von 1750–1790. – Aus dem Leben einer Familie von aufsteigender Lebenskraft. – Die Kinderjahre von Ernst Friedrich Haupt

Man durfte um 1790 annehmen, daß eine Stadtgemeinde, an welcher kräftiger Fortschritt gerühmt wurde, in protestantischer Gegend lag. Denn sehr ungleich stand Bildung und gesellschaftlicher Zustand in den protestantischen und katholischen Landen, jedem Reisenden auffällig. Aber auch in derselben protestantischen Landschaft, innerhalb einer Stadtmauer sind die Gegensätze in der Bildung sehr auffallend. Der äußere Unterschied der Stände beginnt sich zu verringern, ein innerer Gegensatz ist fast größer geworden. Der Edelmann, der gebildete Bürger und wieder der Handwerker mit dem Bauern stehen in drei getrennten Kreisen, jedem sind die Quellen für Sittlichkeit und Tatkraft andere, so daß sie uns erscheinen wie aus verschiedenen Jahrhunderten zusammengesetzt.

Noch tummelte sich am leichtesten und sichersten der Adel. Auch in ihm war ernster Geist, ein reiches Wissen nicht mehr selten, aber die Masse lebte vorzugsweise einem behaglichen Genuß, die Frauen im ganzen mehr als die Männer durch die Poesie und die großen wissenschaftlichen Kämpfe der Zeit angeregt. Schon waren die Gefahren, welche eine abschließende Stellung bereitet, gerade in den anspruchsvollsten Kreisen der deutschen Grundbesitzer sehr sichtbar; der hohe und niedere Reichsadel war verhaßt und verspottet. Noch spielte er den kleinen Souverän in grotesken Formen, liebte sich mit einem Hofstaat zu umgeben, von Gesellschaftsherren und Damen herab bis zum Türmer, dessen Horn oft bis über die engen Landesgrenzen die Kunde trug, daß der Herr sein Mittagsmahl einnehme, und bis zum Hofzwerg herab, der vielleicht in phantastischem Aufzug allabendlich sein unförmliches Haupt im Familienzimmer verneigte und anmeldete, es sei Zeit zu Bett zu gehen. Aber der Familienbesitz war nicht festzuhalten, ein Acker, ein Waldstück nach dem andern fiel in die Hände der Gläubiger, die Geldverlegenheiten nahmen in vielen Familien kein Ende, und es nützte nichts, die schadhafte Zugbrücke aufzuziehen, um sich vor den modernen Feinden zu schützen, welche ein Erkenntnis des Reichskammergerichts oder des Reichshofrats überbrachten. Viele vom Reichsadel zogen sich in die Hauptstädte der geistlichen Staaten. In den fränkischen Bistümern, am Rhein, im Münsterland bildeten sie eine Aristokratie, welche dem herben Urteil der Zeitgenossen nicht weniger reichen Stoff gab. Ihre Familien waren herkömmlich im Besitz der reichen Domstifter und Prälaturen, sie vorzugsweise blieben sklavische Nachahmer des französischen Geschmacks in Tafel, Garderobe, Equipagen, aber ihr schlechtes Französisch, Dünkel und fade Unwissenheit wurden ihnen häufig vorgeworfen.

Auch die Ärmeren des landsässigen Adels waren in den Händen der Juden, zumal im östlichen Deutschland. Aber noch ging durch die Hände des Adels um 1790 der größte Teil des Geldes, welches seinen Kreislauf im Land machte. Auf ihren Gütern herrschten sie wie Souveräne, als die gnädigen Herren des Landes, die Gutswirtschaft aber besorgte gewöhnlich der Amtmann. Selten bildete sich ein gutes menschliches Verhältnis zwischen den Herren und den tatsächlichen Verwaltern ihres Vermögens, deren Pflichttreue damals nicht in dem besten Ruf stand. Zwischen den Gutsherrn und den frohnenden Bauern gestellt, suchten die Verwalter häufig von beiden zu gewinnen, nahmen Geld von den Landleuten und erließen ihnen Hofdienste und bedachten beim Verkauf der Produkte sich nicht weniger als den Herrn.

Die Wintermonate verlebte der Landadel gern in der Hauptstadt seiner Landschaft, im Sommer war das modische Vergnügen Besuch der großen und kleinen Bäder. Dort wurde alle Stattlichkeit, deren die Familie mächtig war, entfaltet. Viel wurde auf Pferde und glänzende Wagen geachtet, der Adel benutzte noch gern sein Vorrecht, vierspännig zu fahren, dann fehlten auch wohl die Läufer nicht, welche vor den Rossen hertrabten, in bunter theatralischer Kleidung, mit Kaskett, die große Knallpeitsche übergehängt, in Schuhen und weißen Strümpfen. Bei Abendgesellschaften oder nach dem Theater hielt eine lange Reihe glänzender Wagen, viele mit Vorreitern, in den Straßen, und achtungsvoll sah der kleine Mann auf den Glanz der Herren. Noch unterschieden sie sich auch in der Kleidung durch reichere Stickerei, die weiße Plüme rund um den Hut, auf Maskeraden schätzten sie immer noch vorzugsweise den rosafarbenen Domino, den Friedrich II. 1743 für ein Privilegium des Adels erklärt hatte. Manche der Reicheren unterhielten auch Kapellen, kleine Konzerte waren häufig, und auf dem Gut wurde am Sonntag früh unter den Fenstern der Hausfrau der Morgengruß geblasen. Ein verhängnisvolles Vergnügen war das Spiel, zumal in den Bädern. Dort trafen die deutschen Gutsbesitzer damals am häufigsten mit Polen zusammen, den leidenschaftlichsten Hasardespielern Europas. Aber auch deutschen Gutsbesitzern begegnete zuweilen, daß sie Wagen und Pferde im Spiel verloren und in einem Mietwagen, verschuldet, nach Hause reisten. Solches Unglück wurde mit gutem Anstand getragen, sobald als möglich vergessen. – Im Glauben war ein großer Teil des Landadels noch orthodox wie die Mehrzahl der Dorfpfarrer, die freieren Seelen aber hingen häufig in den Formen der alten französischen Aufklärung. Noch immer sandte Paris seine Modepuppen und Bilder, Hüte, Bänder und Roben durch das vergnügte Deutschland. Aber auch die Mode bereitete allmählich auf die große Umwandlung vor, die Fischbeinröcke und Wülste fielen von den eleganten Damen ab, sie erhielten sich nur an den Höfen bei großer Cour, die Schminke wurde stark angefochten, dem Puder war der Krieg erklärt, die Gestalten wurden schmäler und dünner, auf dem Haupt schwebte über kleinen krausen Locken der idyllische Strohhut. Auch den Männern war der gestickte Rock mit Kniehosen, seidenen Strümpfen, Schnallenschuhen und dem kleinen Galanteriedegen nur noch die Festtracht, schon hatte der deutsche Kavalier mit der Freude an englischen Pferden und Bereitern auch den Rundhut, Stiefeln und Sporen erworben und wagte mit der Reitgerte in das Damenzimmer zu treten.

Häufig ist in den Familien des Adels ein unbefangener Lebensgenuß, fröhliche Sinnlichkeit ohne große Feinheit, viel höfliche Zuvorkommenheit und gute Laune, und die Virtuosität, welche jetzt immer weiter ostwärts zu weichen scheint, ein guter Erzähler zu sein, Anekdoten und zierliche Reden zwanglos der Unterhaltung einzuflechten, aber auch kleine Eulenspiegeleien geschickt zu wagen. Die Moral dieser Kreise, oft bitter gescholten, war doch, wie es scheint, nicht schlechter als sie unter Genießenden zu sein pflegt. Die Naturen waren wenig zum Grübeln geneigt, in der Regel nicht durch schwere Gewissensbisse beunruhigt, auch das Ehrgefühl war dehnbar, doch mußten gewisse Rücksichten beobachtet werden. Innerhalb dieser Grenzen war man tolerant, in Spiel, Wein und Herzenssachen durften sich Herren, ja auch Damen noch manches erlauben, ohne streng verurteilt zu werden, selten wurde dadurch ihr Leben gestört. Man ertrug, was nicht zu ändern war, mit Anstand und fand sich auch nach leidenschaftlichen Verirrungen schnell wieder zurecht. Die Virtuosität, das Leben des Tages angenehm zu fassen, war damals gewöhnlicher als jetzt; ebenso dauerhaft war die Lebenskraft, ein kräftiger, rühriger, unbefangener Sinn, der frische Laune bis in das späteste Alter zu bewahren weiß, und der nach einem Leben reich an Vergnügungen und nicht frei von Konflikten zwischen Pflicht und Neigung ein frohes und respektiertes Alter durchsetzt. Noch jetzt sind ältere Bilder aus jener Zeit nicht ganz unerhört, Männer und Frauen, deren naive Frische und unbefangene Heiterkeit im höchsten Alter erfreuen.

Unter dem Adel saß das Landvolk und der kleine Bürger, aber auch der niedere Beamte mit der Auffassung des Lebens, welche im Anfang des Jahrhunderts über die Deutschen geherrscht hatte. Noch war ihr Leben arm an Farben. Man täuscht sich, wenn man meint, daß um das Ende des Jahrhunderts die Aufklärung bereits vieles in den Hütten der Armen, zumal auf dem Land gebessert hatte. In den Dörfern waren allerdings Schulen, aber häufig war der Lehrer ein früherer Bedienter des Gutsherrn, ein armer Schneider oder Leinweber, der sich so wenig als möglich von seinem Handwerk trennen wollte, vielleicht seine Frau den Unterricht besorgen ließ. Sogar die Polizei des flachen Landes war noch ohnmächtig, die Umhertreiber auf dem Land waren eine schwer zu tragende Last. Zwar fehlte es nicht an den strengsten Verordnungen gegen das umlaufende Gesindel: Dorfwachen auch bei Tag, Straßenreiter; jeder Bettler sollte sofort angehalten und nach seinem Geburtsort geschafft werden; aber die Dorfwache wachte nicht, die Gemeinden scheuten die Unkosten des Transports oder fürchteten gar die Rache der Aufgegriffenen, die Straßenreiter achteten lieber auf die Fuhrleute, welche verbotene Wege fuhren, weil diese Strafe bezahlen konnten. Sogar in Kursachsen wurde darüber geklagt.

Noch hing der Landmann treu an seiner Kirche, in den Hütten der Armen wurde viel gebetet und gesungen, häufig war fromme Schwärmerei, immer noch erstanden Erweckte und Propheten unter dem Landvolk. Zumal in den Gebirgslandschaften, wo die Industrie sich massenhaft in ärmlichen Hütten festgesetzt hatte, unter Holzarbeitern, Webern und Spitzenklöpplern des Erzgebirges und der schlesischen Bergtäler war ein frommer, gottergebener Sinn lebendig. Wenige Jahre später, als die Kontinentalsperre die Industrie der Armen vernichtete, bewiesen sie unter Hunger und Entbehrungen, die oft an das Leben gingen, daß ihnen ihr Glaube die Fähigkeit zu dulden und zu entsagen gab.

Zwischen dem Adel und der Masse des Volkes stand nach der Auffassung jener Jahre das höhere Bürgertum: Gelehrte, Beamte, Geistliche, große Kaufleute und Industrielle. Auch sie waren von dem Volk durch ein Privilegium geschieden, dessen Bedeutung unsere Zeit nicht mehr versteht: sie waren militärfrei. Der härteste Druck, welcher auf den Söhnen des Volkes lastete, ihre Kinder empfanden ihn nicht. Auch der fähige Sohn des Bauern oder Handwerkers durfte studieren, aber dann lag ihm ob, vorher eine Prüfung zu bestehen, »das Genieexamen«, ob sich auch seine Befreiung vom Heerdienst lohne. Dem Sohn des Studierten oder Kaufmanns aber galt es für besonders schmachvoll, wenn er nach gelehrter Schulbildung so weit herunterkam, daß er den Werbern in die Hände fiel. Sogar der menschenfreundliche Kant verweigerte einen Gelehrten zur Beförderung zu empfehlen, weil er die »Niederträchtigkeit« gehabt habe, seinen Soldatenstand so lange ruhig zu ertragen.

In diesem Kreise, der sich auch äußerlich durch Tracht und Lebensweise vom Bürgersmann unterschied, war damals bereits der beste Teil der nationalen Kraft zu finden. Er war im Besitz der freiesten Bildung jener Zeit. Er umschloß Dichter und Denker, erfindende Künstler und Gelehrte, alle, welche auf irgendeinem Gebiet des geistigen Lebens als Belehrende und Beurteilende Einfluß gewannen. Ihm hatten sich viele vom Adel angeschlossen, die selbst Beamte wurden oder ein reicheres Geistesleben hatten. Sie waren zuweilen Mitarbeiter, häufig geistvolle Begleiter und wohltuende Förderer der idealen Interessen.

In jeder Stadt bestanden jetzt die Honoratioren aus solchen Gebildeten. Sie waren Schüler des großen Philosophen von Königsberg, ihre Seele war angefüllt mit den poetischen Gestalten der großen Dichter, mit den hohen Resultaten der Altertumswissenschaft. Aber in ihrem Leben war noch ein Moment von Strenge und Ernst, nicht leicht und fröhlich wurde die Pflicht geübt. Die Auffassung der Wirklichkeit schwankte zwischen idealen Forderungen und einer ängstlichen, oft kleinlichen Pedanterie, welche sie auffallend und nicht immer zum Vorteil von dem Edelmann unterschied.

Es ist eine Eigenheit der modernen Bildung, daß die treibende geistige Kraft sich in der Mitte der Nation, zwischen der Masse und den erblich Privilegierten ausbreitet, nach beiden Seiten belebend und umformend; je mehr sich ein Kreis irdischer Interessen von dem gebildeten Bürgertum isoliert, desto weiter entfernt er sich von allem, was dem Leben Licht, Wärme und sicheren Halt verleiht. Wer in Deutschland eine Geschichte der Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft schreibt, der behandelt in der Tat die Familiengeschichte des gebildeten Bürgertums.

Und sucht man das Besondere, was die Männer dieses Kreises verbindet und von anderen unterscheidet, so ist es nicht zumeist ihre praktische Tätigkeit in glücklicher Mitte, sondern ihre Bildung durch die lateinische Schule. Darin liegt der unübertreffliche Vorzug, das letzte Geheimnis ihres Einflusses. Niemand durfte das bereitwilliger anerkennen, als der Kaufmann und Industrielle, der sich von unten heraufgearbeitet hatte und in ihren Kreis getreten war.

Mit Verwunderung erkannte er, wie seine Söhne unter der Beschäftigung mit lateinischer und griechischer Grammatik eine Schärfe und Präzision im Denken und Sprechen erhielten, die selten andere Tätigkeit dem heranwachsenden Mann gewährt. Die naturwüchsige Logik, welche in dem kunstvollen Bau der alten Sprachen so ausgezeichnet zutage kommt, weckte schon früh den Scharfsinn und förderte das Verständnis aller geistigen Bildungen, die Masse des fremdartigen Sprachstoffs kräftigte unübertrefflich das Gedächtnis. [...]

Das Wichtigste von allem aber war die besondere Methode des Lernens auf lateinischen Schulen und Universitäten. Nicht das gedankenlose Aufnehmen eines überlieferten Stoffes, sondern das Selbstsuchen und Selbstfinden ist das Lebenweckende in jedem Lernen. In den höheren Klassen des Gymnasiums und auf der Universität wurde der Studierende der Vertraute der suchenden Gelehrten. Gerade die Streitfragen, welche seine Zeit am meisten bewegten, die Forschungen, welche als unbeendet am kräftigsten anspannten, wurden ihm am liebsten mitgeteilt. So drang der Jüngling als ein frei Suchender in den Mittelpunkt des grünenden Lebens ein, und wie sehr ihn sein späterer Beruf von eigenem Forschen entfernt hielt, er hatte das beste und letzte Wissen, die höchsten Resultate seiner Zeit in sich aufgenommen und war sein ganzes Leben lang in den großen Fragen der Wissenschaft und des Glaubens zum Urteil befähigt, indem er allen neuen Bildungsstoff nach den Gesichtspunkten, die er gewonnen, annahm oder abwies. Auch daß die gelehrte Schule für das praktische Leben so wenig vorbereite, war keine stichhaltige Klage. Der Kaufmann, der seine Söhne von der Universität auf den Stuhl des Kontors nahm, bemerkte sehr bald, daß sie vieles nicht gelernt hatten, was jüngeren Lehrlingen sehr geläufig war, daß sie aber in der Regel mit spielender Leichtigkeit das Fehlende nachholten.

Dieser unendliche Segen der gelehrten Bildung war am Ende des 18. Jahrhunderts, seit die Philosophie und die Altertumswissenschaften hohe Bedeutung gewonnen hatten, der entscheidende Vorzug des deutschen Mittelstandes. In ihm liegt das Geheimnis der unsichtbaren Herrschaft, welche das gebildete Bürgertum seit dieser Zeit über das nationale Leben ausgeübt hat, Fürsten und Volk umbildend, sich nachziehend.

Um 1790 hatte diese Methode der Bildung so großen Wert und Bedeutung gewonnen, daß man wohl diese Jahre die fleißige Abiturientenzeit des deutschen Volkes nennen darf. Eifrig wurde gelernt, überall trat an die Stelle des alten Mechanismus anregende selbsttätige Arbeit. Menschenfreundlich rangen die Gelehrten danach, jedem Teil des Volkes Lehranstalten zu schaffen, welche seiner Bildungsstufe entsprachen, neue Methoden des Unterrichts zu erfinden, durch welche mit geringen Lehrkräften die größten Resultate erreicht werden konnten. Belehren, bilden, aus der Unwissenheit herausheben, war der allgemeine Ruf. Nicht vorzugsweise, weil dies der gesamten Nation nützlich war. Denn in der frohen Empfindung eines idealen Inhalts standen die Gebildeten dem Volk gegenüber. Die Schönheit, welche sie genossen, die großen Gefühle, durch welche sie erhoben wurden, sie waren dem armen Volk versagt.

Freilich im stillen Herzen empfanden sie selbst ein Mißbehagen. Die Tatsachen des Lebens, welches sie umgab, standen oft in schneidendem Gegensatz zu den idealen Forderungen, welche sie stellten. Wenn der Bauer wie ein Lasttier arbeitete, der Soldat vor ihren Fenstern Spießruten lief, dann blieb, so schien es ihnen, nichts übrig, als das Studierzimmer zu schließen und Auge und Sinn in Zeiten zu versenken, wo solche Barbarei nicht verletzte. Denn noch war unerprobt, was die Vereinigung Gleichgesinnter zu großen Genossenschaften im Staat, in den Kommunen, in jedem Kreise praktischer Interessen umzuformen vermöge. [...]

Noch war die Weichheit der Empfindung und das Bedürfnis, auch bei unbedeutender Veranlassung große Gefühle zu haben, nicht aus den Seelen geschwunden. Aber diese herrschende Anlage des 18. Jahrhunderts, welche ihre Absenker bis auf die Gegenwart fortgetrieben hat, war um 1790 bereits durch einen stärkeren Gehalt des geistigen Lebens gebändigt. Auch die Empfindsamkeit hatte seit der Zeit, wo sie aus dem Pietismus in das Leben kroch, ihre kleine Geschichte gehabt. Zuerst war die arme deutsche Seele von allem stark affiziert worden, sie hatte sich leicht jämmerlich gefühlt und einen anspruchslosen Genuß dann gefunden, die Tränen auf der eigenen Wange zu beobachten. Dann wurde ihr die Gefühlsseligkeit burschikoser und herzhafter.

Wenn lustige Gefährten im Jahre 1750 mit der Extrapost durch ein Dorf kamen, wo die Einwohner vielleicht den Kirchhof mit Rosenstöcken bepflanzt hatten, so regte der Gegensatz zwischen dieser Blume der Liebe und dem Grabe die Phantasie der Reisenden so auf, daß sie eine Flasche Wein kauften, auf den Kirchhof gingen und, in dem Vergleich von Gräbern und Rosen schwelgend, ihren Wein austranken.Der Zecher war Klopstock mit seinen Freunden. Die studentenhafte Roheit, welche in solchem Behagen lag, wurde überwunden, als die Sitte feiner und das Leben nachdenklicher geworden war. Wenn um 1770 zwei Brüder in sonnigem Tal unter blühenden Obstbäumen durch die Landschaft des Rheins fahren, dann ergreift wohl der eine die Hand des andern, um ihm durch einen sanften Druck seinen Dank für die vielen Freuden zu bezeugen, die er in seiner Begleitung genießt; die beiden blicken einander voll zärtlicher Rührung an, eine selige Träne der ruhigen Empfindung steigt in beider Augen, und sie fallen einander um den Hals oder, wie man damals sagte, sie segnen die Gegend mit dem heiligen Kusse der Freundschaft.Die Reisenden sind Fritz Jacobi und sein Bruder. – Und wenn zu derselben Zeit eine Gesellschaft einen lieben Freund erwartet – nebenbei bemerkt, einen glücklichen Gatten und Familienvater –, so sind auch hier die Empfindungen weit mannigfaltiger und die Beschaulichkeit, mit welcher sie genossen werden, weit größer als bei uns. Der Hausherr eilt mit einem andern Gast dem anrollenden Wagen an die Haustür entgegen, der ankommende Freund steigt bewegt und etwas betäubt ab. Unterdes kommt die liebenswürdige Hausfrau, welche allerdings von dem neuen Gast in früherer Zeit bewundert worden ist, ebenfalls die Treppe herab. Der Angekommene hat sich bereits mit einer Art von Unruhe nach ihr erkundigt und scheint äußerst ungeduldig, sie zu sehen; jetzt erblickt er sie und schauert vor Erregung zurück, kehrt sich dann zur Seite, wirft mit einer zitternden und zugleich heftigen Bewegung seinen Hut hinter sich auf die Erde und schwankt zu der Hausfrau hin. Alles dieses wird von einem so außerordentlichen Ausdruck begleitet, daß die Umstehenden sich an allen Nerven davon erschüttert fühlen. – Die Hausfrau geht ihrem Freund mit ausgebreiteten Armen entgegen; er aber, anstatt ihre Umarmung anzunehmen, ergreift ihre Hände und bückt sich, um sein Gesicht darein zu verbergen; die Dame neigt sich mit einer himmlischen Miene über ihn und sagt mit einem Ton, den keine Clairon und keine Dubois nachzuahmen fähig sind: »O ja, Sie sind es – Sie sind noch immer mein lieber Freund!« – Der Freund, von dieser rührenden Stimme geweckt, richtet sich etwas in die Höhe, blickt in die weinenden Augen seiner Freundin und läßt dann sein Gesicht auf ihren Arm zurücksinken. Keiner von den Umstehenden kann sich der Tränen enthalten: dem unbeteiligten Berichterstatter strömen sie die Wangen herunter, er schluchzt und ist außer sich.Der Ankommende ist Wieland, die Wirte Sophie Laroche und ihr Gatte, der Erzähler wieder Fritz Jacobi. – Und nachdem dies hervorsprudelnde Gefühl sich etwas gelegt hat, fühlen sich alle unaussprechlich glücklich, drücken einander oft die Hände und erklären die Stunden solchen Beisammenseins für die schönsten des Lebens. Und die sich so gebärdeten, waren immer noch maßvolle Menschen, sie sahen mit Verachtung auf die Affektation herab, der die Schwächeren verfielen, welche über ein Nichts weinten und aus Tränen und Gefühlen einen Lebensberuf machten, wie der verschrobene Leuchsenring.

Aber kurz darauf erhielt das gefühlvolle Wesen einen harten Stoß. Goethe hatte im Werther das traurige Schicksal eines Jünglings dargestellt, der in diesen Stimmungen unterging; er hatte die Empfindsamkeit selbst weit edler und mäßiger gefaßt, als sie in seinen Zeitgenossen lebte. Zunächst freilich wurde seine Erzählung für die weicheren Naturen ein bildendes Buch, nach welchem sich ihre Gefühlsseligkeit ins Hohe und Poetische hineinzog. Ungeheuer war die Wirkung, Tränen flossen stromweise, die Werthertracht wurde ein beliebtes Kostüm empfindsamer Herren, Lotte der berühmteste Frauencharakter jener Jahre. In demselben Jahre 1774 beredete sich zu Wetzlar eine Anzahl zarter Seelen, Männer in hohen Ämtern und Damen, eine Feierlichkeit am Grabe des armen Jerusalem anzustellen. Sie versammelten sich des Abends, lasen den Werther, sangen die klagenden Arien und Gesänge auf den Toten. Man weinte tapfer, endlich um Mitternacht ging der Zug nach dem Kirchhof. Jeder war schwarz gekleidet, mit dunklem Flor im Gesicht, ein Wachslicht in der Hand. Wer dem Zug begegnete, hielt ihn für eine Prozession des höllischen Satans. Auf dem Kirchhof schloß man einen Kreis um das Grab des Toten, sang, wie berichtet wird, das Lied: »Ausgelitten hast du, ausgerungen«, ein Redner hielt dem Verblichenen eine Lobrede und sprach davon, daß Selbstmord aus Liebe erlaubt sei. Zuletzt wurde das Grab mit Blumen bestreut. Die Wiederholung wurde durch eine prosaische Obrigkeit verhindert.Der Erzähler ist Laukhardt in seiner Lebensbeschreibung; es ist kein Grund, solchen Mitteilungen des unordentlichen Mannes zu mißtrauen.

Aber der tragische Ausgang der Goetheschen Erzählung erschreckte auch den gesunden Menschenverstand. Das war kein Spiel mehr mit Blumen und Täubchen, es war erschütternder Ernst. Wenn ein anständiger Beamtensohn zu solcher Ausschweifung wie Selbstmord kommen konnte, dann hörte der Spaß auf. So wurde dasselbe Werk für kräftigere Naturen der Anfang einer Reaktion und leidenschaftlichen literarischen Polemik, wobei der Deutsche allmählich mit Ironie auf diesen Kreis von Stimmungen blicken lernte, ohne freilich ganz frei davon zu werden.

Denn es war nur eine Variation derselben Grundstimmung, wenn die Seelen, welche der Tränen und Seufzer müde geworden waren, sich zur Erhabenheit hinaufstimmten. Auch das Ungeheure erschien bewundernswert: in Hyperbeln sprechen, das Gemeinste mit einem Aufwand von Kraft sagen, das Unbedeutende mit der Miene tun, als ob es etwas Unerhörtes sei, wurde eine Zeitlang Modetorheit der literarischen Kreise. Aber auch die Kraftmänner verloren sich. Um 1790 sah man wieder mit Lächeln auf die nächste Vergangenheit zurück und befriedigte sein Gemüt bei der hausbackenen und nüchternen Weise, in welcher Lafontaine und Iffland die Rührung handhabten.

Aus dieser Zeit soll hier das Aufwachsen einer Kinderseele dargestellt werden. Es ist ein – nicht gedruckter – Bericht über die eigene früheste Jugend, den ein besonders kräftiger Mann seiner Familie hinterlassen hat. Er enthält durchaus nichts Ungewöhnliches, nur anspruchslose Erzählung über die Entwicklung eines Knaben durch Lehre und Haus, wie sie in tausend Familien jener Jahre stattfand. Aber gerade das Gemeingültige der Mitteilung macht sie besonders geeignet, den Anteil des Lesers zu erwerben. Sie gibt zugleich einen belehrenden Einblick in das Leben einer Familie von aufsteigender Lebenskraft.

In den ersten Regierungsjahren Friedrichs des Großen lag zu Kleuden bei Leipzig ein armer Lehrer auf dem Totenbett; langer Ärger und Verfolgungen, die er durch seinen Vorgesetzten, einen heftigen Pfarrherrn, erduldet, hatten ihn auf das Krankenlager geworfen. Der geistliche Gegner suchte die Versöhnung mit dem Sterbenden; er gelobte dem Lehrer Haupt, für seine unerzogenen Kinder Sorge zu tragen, und er hielt Wort. Er brachte einen Sohn in das große Handelshaus Frege, welches damals im Aufblühen war. Der junge Haupt erwarb sich das Vertrauen seines Chefs; als er selbst eine Handlung in Zittau begründen wollte, machte das Haus Frege dem Vermögenslosen ein Darlehn von zehntausend Talern. Das Jahr darauf schrieb der neue Kaufmann seinem Gläubiger, wie energisch der Aufschwung seines Geschäftes sei, und daß er, um nicht in größte Verlegenheit zu kommen, dieselbe Summe noch einmal bedürfe. Der frühere Prinzipal sandte ihm das Doppelte. Nach acht Jahren hatte der Zittauer Kaufmann das ganze Darlehn zurückgezahlt; an dem Tage, wo er die letzte Summe absandte, trank er in seinem Haus die erste Flasche Wein. Der Sohn dieses Mannes, Ernst Friedrich Haupt – er, welcher hier von seiner Schulzeit im Vaterhause erzählen soll – studierte die Rechte und wurde Syndikus, später Bürgermeister in seiner Vaterstadt Zittau, ein Mann von gewaltigem Wesen und tiefem Sinn und selbst Gelehrter von umfangreichem Wissen; eine kleine Sammlung lateinischer Gedichte – Übersetzungen Goethischer –, welche von ihm gedruckt sind, gehört zu den feinsten und elegantesten Mustern dieser Gattung von Poesie. Ernst war auch sein Leben. Seine großartige Kraft arbeitete unter immerhin beschränkten Verhältnissen mit einem Eifer, welcher sich selbst nie genugtat. Aber die Wucht seines energischen Wesens wurde bei den Anfängen der politischen Bewegungen im Jahre 1830 der jungen Demokratie unter den Bürgern lästig. Gerade in seiner Heimat fiel die Agitation in die Hände eines unholden Mannes, der später sich selbst durch schlechte Taten ein klägliches Ende bereitete. In dem Taumel der ersten Bewegung ließ sich die Bürgerschaft das treue Verhältnis, in dem sie durch dreißig Jahre zu ihrem Vorstand gestanden hatte, verderben. Der stolze und strenge Mann wurde durch Lieblosigkeiten und Undank in tiefster Seele erschüttert, er zog sich vor jeder öffentlichen Tätigkeit zurück, und keine Bitten und nicht die aufrichtige Reue, die seinen Mitbürgern nach kurzer Zeit kam, vermochten ihn, die herbe Kränkung jener Jahre zu vergessen, die sein Leben bis in das Mark ergriffen hatte. Wenn er still vor sich hinsehend durch die Straßen ging, eine schöne finstere Greisengestalt, dann – so erzählen Augenzeugen – zogen die Leute mit scheuer Ehrfurcht von allen Seiten die Mützen, er aber schritt, ohne rechts und links zu sehen, durch den Haufen. Von da an lebte er als Privatmann seiner Wissenschaft. – Sein Sohn, Moriz Haupt, Professor an der Universität zu Berlin, wurde einer unserer größten Philologen, einer unserer reinsten Männer.

So beginnt ein tüchtiger Mann aus der Zeit der Väter den Bericht über seine ersten Lehrjahre.


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