Gustav Freytag
Bilder aus der deutschen Vergangenheit
Gustav Freytag

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XIII
Ein fahrender Schüler

(1509 und folgende Jahre)

Charakteristisches des 16. Jahrhunderts. – Bewegung im Volk, Wandertrieb, aufregende Neuigkeiten, Landsknechte, Buchdruckerkunst. – Deutsche Gelehrsamkeit, die Humanisten, die lateinischen Schulen, die Kinder aus dem Volk als Schüler. – Erzählung des Thomas Platter. – Einfluß der lateinischen Schule auf das Volk

Wer in die Seele der Deutschen zu blicken versucht, zu jener Zeit, wo das 16. Jahrhundert emporstieg, der wird in den unteren Schichten des Volkes eine geheimnisvolle Unruhe erkennen, etwa wie bei den Wandervögeln, wenn der Frühling herannaht. Auch wurde dieser unbestimmte Drang häufig zur uralten deutschen Wanderlust. Die Zahl der Landläufer, junger und alter, der Kleinkrämer, Pilger, Bettler, fahrenden Schüler war sehr groß, durch alle deutschen Stämme bis in die Slawenländer des Ostens, nach Frankreich und vor allem nach Italien ging der abenteuerliche Zug. Vieles wirkte zusammen, die Armen unruhig, aufsässig, nach neuem begierig zu machen.

Wunderbare Nachrichten klangen aus der Ferne. Hinten im fernen Mittelmeer auf dem Wege nach Jerusalem, den deutsche Pilger noch alljährlich suchten, hatte sich ein neuer Stamm, ein neuer Glaube eingedrängt, unheimlich und grauenhaft. Jeder Pilger, der aus dem Süden kam, berichtete in den Herbergen von der wilden Streitkraft des Türken, von seiner Vielweiberei, von den Christenkindern, die er raubte und sich zu Sklaven erzog, von den Gefahren der christlichen Inseln und Seestädte. Und wieder auf der andern Seite tauchten der Phantasie aus dem Grauen des unendlichen Meeres neue Goldländer herauf, Landschaften wie das Paradies, braune Völker, die von Gott nichts wußten, eine unendliche Beute und Herrschaft für die gläubigen Christen. Dazu kamen die Botschaften aus Italien selbst, wie unzufrieden die Südländer mit dem Papst seien, wie arg die Simonie, wie lasterhaft die Fürsten der Kirche.

Und die von solchen Dingen zu erzählen wußten, in Stadt und Land, waren nicht mehr furchtsame Handelsleute, arme Pilger, sondern sonnenverbrannte feste Gesellen mit kühnem Antlitz und scharfer Wehr, Nachbarkinder und sichere Leute, die als Söldner des Kaisers nach Welschland gezogen waren, sich dort mit Italienern, Spaniern und Schweizern gerauft hatten und jetzt mit Beute zurückkehrten, Goldstücke im Säckel und goldene Ritterketten am Hals. Mit Ehrfurcht starrte die Jugend des Dorfes auf den Landsknecht, der seine Hellebarde vor der Schenke in den Boden stieß und die Herberge für sich und seine Gäste in Beschlag nahm wie ein Edelmann oder Fürst; denn er, der Bauernsohn, hatte die welschen Ritter unter seine Füße getreten; er hatte tief in die Geldkasse eines italienischen Fürsten gegriffen, er hatte für seine deutschen Hiebe vom Papst Ablaß vollauf bekommen, ja, wie man raunte, einen geheimen Segen, der ihn unverwundbar machte gegen Hieb und Stich. Eine Ahnung der eigenen Kraft und Tüchtigkeit zog nach langer Zeit zum erstenmal durch die Seele der Gemeinen. Auch sie waren Männer, in ihrer Hütte hing der Knebelspieß und an ihrem Gürtel das lange Messer. Und wie war ihre Lage in der Heimat! Ihre Hände und Gespanne forderte der adlige Junker für seinen Acker, ihm gehörte Holz und Wild im Wald, der Fisch im Wasser; selbst wenn der Bauer starb, nahm jener dem Erben das beste Haupt der Herde oder Geld dafür. Auch die Bauern hatte Christus durch seinen Tod erlöst und frei gemacht, und jetzt waren sie in der Mehrzahl eigene Leute des Gutsherrn. In jeder Fehde, die dem Junker auflag, waren sie die Opfer, dann fielen fremde Reisige in ihr Vieh, schossen gegen sie selbst den Bolzen und warfen sie in ein finsteres Loch, bis sie Lösegeld zahlten. Und wieder nach ihren Garben und nach jedem versteckten Gulden spähte die Kirche. Unredlich, listig und üppig wie die Welschen, war auch der Dechant, der mit den Jagdfalken, mit Dirnen und Reisigen durch ihr Dorf ritt; ihr Pfaffe, den zu wählen und zu entlassen sie kein Recht hatten, der ihre Weiber verführte oder in ärgerlichem Haushalt mit Wirtin und Kindern lebte; der Bettelmönch, der sich in ihre Küche einnistete und für sein Kloster das Fleisch im Rauchfang, die Eier im Korb verlangte. Eine dumpfe Gärung kam in die Landgemeinden des südlichen Deutschlands, schon am Ende des 15. Jahrhunderts begannen lokale Aufstände, Vorboten des Bauernkrieges.

Aber noch größere Einwirkung übte die neue Kunst, durch welche auch der Ärmste klug und gelehrt werden konnte. In der Mitte des letzten Jahrhunderts war am Rheinstrom erfunden worden, geschriebene Worte ins Tausendfache zu vervielfältigen. Schon seit mehreren hundert Jahren hatte man mit Holztafeln Muster gedruckt, manchmal einzelne Seiten Schrift darin ausgeschnitten, endlich ersann ein Bürger, daß man mit gegossenen Lettern ganze Bücher drucken könne. Es war für die nächste Folge wichtig, daß die neue Erfindung sich unabhängig vom geistlichen Stand, ja in Opposition gegen die mönchischen Abschreiber ausbildete, als eine Erfindung des Bürgerstandes. Denn sie gelangte dadurch sogleich zu der gesunden industriellen Stellung, welche Intelligenz und Technik des Handwerks zu geben vermochte, mit wunderbarer Schnelligkeit wurde sie durch die wandernden Gesellen in viele deutsche Städte und in das Ausland getragen. Ihr zur Seite der neue Bilderdruck von Holztafeln. Neben den großen Druckwerken des fünfzehnten Jahrhunderts, deren Technik wir noch jetzt bewundern, verbreiteten sich bald kleine, billige in den Häusern der Handwerker, ja in den Hütten der Bauern: Kalendertafeln, Arzneimittel gegen Krankheiten, Organisationen frommer Brüderschaften, moralische und Gebetbücher, dazwischen schnell kleine Staatsschriften und die komische Literatur: Fastnachtsscherze, Narrenstreiche, volkstümliche Gedichte. Der Trieb lesen zu lernen wurde mächtig, auch der Landmann erfuhr mit einer Genauigkeit, die der zufällige mündliche Bericht selten gehabt hatte, von einer geheimnisvollen Weissagung oder Geistererscheinung, einem Fastnachtsspiel zu Nürnberg; gläubig buchstabierte er neue Gebete und Verheißungen seiner Kirche und verwundert nahm er in sich auf, so deutlich, als hätte er's selbst gesehen, daß sich die Bayernherzöge der Gewalt des Königs Maximilian unterworfen hatten. Dem Volk war die Pforte geöffnet für geistigen Erwerb, und mit Eifer suchte die Masse ihr Heil in dieser Richtung.

Aber die alte Wissenschaft der Kirche, welche sonst den lernbegierigen Sohn des Volkes im Chor und Kreuzgang aufgenommen hatte, war in tiefem Verfall. Noch saß die Gelehrsamkeit des Mittelalters anspruchsvoll in den Lehrstühlen der deutschen Universitäten, aber sie war in geistlosen Formeln und scholastischer Spitzfindigkeit verknöchert. Die Kunde alter Sprachen war gering, Hebräisch und Griechisch fast unbekannt; in barbarischem Mönchslatein wurde geschrieben und gelehrt, die alten Quellen ernster Wissenschaft, Bibel und Kirchenväter, römische Historiker, Institutionen und Pandekten, die griechischen Texte des Aristoteles und der Schriftsteller über Natur und Heilkunde lagen in bestäubten Handschriften, nur die mittelalterlichen Erklärer und Systematiker wurden immer wieder erläutert, auswendig gelernt und bekämpft. So in Deutschland. In Italien aber war seit länger als hundert Jahren aus dem Studium einiger römischen und griechischen Dichter, Historiker und Philosophen eine Bildung aufgegangen, welche Adel der Seele und Freiheit fern von den Pfaden der christlichen Kirche suchte. Die Freude über die Schönheit lateinischer Sprache und Poesie, Bewunderung der gewandten Dialektik des Cicero, Erstaunen über das mächtige Leben des römischen Volkes erhob die Besten jenseits der Alpen. Behend rankte ihre Poesie, Geschichtsschreibung, Rechtskunde, Heilkunst an den antiken Stützen empor. Ja es schien dort, als sollte das alte römische Leben aus seinem Grabe wieder auferstehen, und ein zweihundertjähriger Kampf begann zwischen den Schatten des August und Virgil und dem Schatten des heiligen Petrus, der finster über der Siebenhügelstadt schwebte. Das geistliche Wesen, tyrannisch, beschränkt und sittenlos, wie es auch in Italien war, sank in tiefste Verachtung, die vornehmen Geistlichen selbst, arm an Zucht und Pflichtgefühl, wurden von dem Zauber der neuen Bildung ergriffen. Und die römische Kirche bot das seltsame Schauspiel, daß ihre höchsten Würdenträger den Glauben an den Gekreuzigten, dessen Stellvertreter auf Erden sie sein wollten, innerlich verlachten und die Gläubigkeit der Christen schamlos ausmünzten zur Befriedigung verruchter Sinnlichkeit oder ihres Familieninteresses.

Erst seit Erfindung des Bücherdrucks, während der Kriege, welche die Deutschen auf den Schlachtfeldern der Halbinsel ausfochten, kam die neue Humanistenbildung allmählich nach Deutschland. Aber sie fand hier ein anderes Volkstum. Der redliche Sinn und das einfache Gemüt der Deutschen verarbeitete sie nüchterner und doch inniger und so wie damals deutsche Art war, methodisch, zunftmäßig, maßvoll. Emsig wurde die lateinische Sprache, welche den Deutschen wie ein neuer Fund erschien, in lateinischen Schulen studiert und durch Lehrbücher verbreitet. Die angestrengte und lange Arbeit über der fremden Grammatik, welche in Deutschland nötig war, diente den Geistern zur Zucht. Scharfsinn und Gedächtnis wurden kräftig angestrengt, die logische Seite der Sprache wirkte stärker als die phonische, die Größe und Weisheit des antiken Inhalts mehr als die Schönheit und Eleganz der Form; die Gymnastik des lernenden Geistes in Deutschland mußte angestrengter sein, dafür war der Gewinn dauerhafter, schon deshalb, weil jetzt die Herrschaft über zwei grundverschiedene Sprachen gewonnen wurde. Eine Anzahl ernster Sprachlehrer verbreitete zuerst die neue Bildung. Jakob Wimpfeling schrieb seine lateinischen Lehrbücher für Knaben und Jünglinge, Alexander Hegius lehrte in Deventer, unter ihnen zahlreiche Schulmeister: Krato von Udenheim und Sapidus in Schlettstadt, Michaelis Hilspach zu Hagenau, so viele andere. Dazu der Dichter Heinrich Bebel in Tübingen, Konrad Celtes in Wien, der Jurist Ulrich Zasius in Freiburg und andere. In enger Verbindung mit ihnen standen fast alle kräftigen Talente Deutschlands, Sebastian Brant, Verfasser des »Narrenschiffs«, auch der große Prediger Johann Geiler von Kaisersberg, obgleich seine eigene Bildung noch in dem scholastischen Wesen wurzelte.

In kurzem war die deutsche Gelehrsamkeit der romanischen mehr als ebenbürtig. Für ihre vornehmsten Vertreter aber galten allgemein Johannes Reuchlin, der die erste hebräische Grammatik schrieb, und Erasmus von Rotterdam, der durch den Zauber seiner Bildung der ganzen Humanistenschule Deutschlands, wenige ausgenommen, das Gepräge eines feinen ironischen Geistes aufgedrückt hat. Auch die deutschen Humanisten ergossen ihre Begeisterung in lateinischen Versen, auch bei ihnen traten Jupiter, Minerva und der Sonnenlenker Sol wunderlich an die Stelle des Christengottes, der Jungfrau Maria und des großen Lichtes der mosaischen Urkunde. Auch sie wurden zuweilen durch die Bekanntschaft mit alter Philosophie bis zu heimlicher Spekulation über das Wesen der Gottheit geführt, auch sie standen sämtlich in geharnischter Opposition gegen die Verderbnisse der Römischen Kirche, aber ihre Opposition hatte einige Momente, welche sie von der italienischen unterschied. Sie wurde durch deutsche Gesinnung geadelt. Zwar galt manchem humanistischen Schullehrer die deutsche Sprache für eine barbarische, sie latinisierten ihre Namen und nahmen sich die Freiheit, in vertraulichen Briefen ihre Landsleute ungehobelt zu nennen; aber sie, die Vertreter römischer Wissenschaft, waren die eifrigsten Hasser italienischer List und Unsittlichkeit und des despotischen Hochmutes, mit welchem der römische Priester auf ihr deutsches Volkstum blickte. Und sie selbst hörten nicht auf, gute Christen zu sein. Während sie die einfältigen Pfaffen verhöhnten oder schalten, suchten sie sorgfältig aus dem Altertum Beispiele der Frömmigkeit, gottseliger Gesinnung und männlicher Tugend. Und neben den unaufhörlichen Angriffen auf die Laster der italienischen Geistlichkeit wagten sie auch zögernd, vorsichtig und gewissenhaft eine historische Kritik der Quellen, auf welche sich die Ansprüche des Papstes stützten. Ein herzliches Freundschaftsband schloß sie zu einer großen Gemeinde. Bösartig verfolgt von den Vertretern der alten Scholastik und ihren Verbündeten, den »Romanisten und Courtisanen«, gewannen sie auch Bundesgenossen überall, in den Bürgerhäusern der Reichsstädte, an den Fürstenhöfen, in der Nähe des Kaisers, sogar in Domkapiteln und auf Bischofstühlen. [...]

In den lateinischen Schulen konnte man die geheimnisvollen Kenntnisse erwerben, welche den Besitzer aus der gedrückten, armen und freudeleeren Masse des Volkes hervorhoben. So wurde die Begierde, gelehrt zu werden, in der Seele des Volkes mächtig. Kinder und halbwüchsige Burschen liefen aus den entlegensten Tälern hinein in die unbekannte Welt, die Wissenschaft zu suchen. Wo eine lateinische Schule war, bei einem Stift oder im reichen Kirchspiel einer großen Stadt, dahin schlugen sich die Kinder des Volkes, oft unter den größten Leiden und Entbehrungen, verwildert und entsittlicht durch das mühevolle Wandern auf der Straße, wie durch die Unsicherheit ihres Lebens in dem Bereich der Schule. Denn die Stifter, welche die Schule eingerichtet hatten, oder die Bürgerschaften der Städte gaben solchen Fremden zwar zuweilen Obdach und Lager in besonderen Häusern, aber ihren Lebensunterhalt mußten diese zum größten Teil erbetteln. Die Aufsicht, welche über sie geübt wurde, war sehr gering, nur darauf hielt man streng, daß in der Zügellosigkeit ihres Lebens Methode war; unter bestimmten Formen und nur in gewissen Stadtteilen war zu betteln erlaubt. Wenn der fahrende Schüler an einen Ort kam, wo eine lateinische Schule bestand, war er verpflichtet, in die Genossenschaft der Schüler einzutreten, damit er nicht zum Schaden des Schulmeisters und der vorhandenen Schüler die Mildtätigkeit der Einwohner in Anspruch nehme. Wie überall, wo sich Deutsche im Mittelalter zusammenfanden, so bildete sich auch unter diesen Schülern eine Organisation aus, ein Pennalismus, der eine Menge von Bräuchen und unsittlichen Gesetzen hatte, dem aber jeder einzelne verfiel, und neben demselben die rohe Poesie eines abenteuerlichen Lebens, welche viele verdarb und nur von guten Naturen ohne Schaden für ihr späteres Leben überwunden wurde. Die jüngeren Schüler, Schützen genannt, waren, wie die Lehrlinge der Handwerker, ihren älteren Kameraden, den Bacchanten, zu erniedrigenden Diensten verpflichtet, sie mußten für ihre Tyrannen betteln, oft stehlen, und genossen dafür den Schutz, welchen die Fäuste der Stärkeren geben konnten. Für den Bacchanten war es Ehrensache und Vorteil, viele Schützen zu haben, welche ihm die milden Gaben der Einwohner zutrugen. Von diesen lebte er. Aber wenn der grobe Bacchant bis zu der Universität, der hohen Schule, empordrang, dann wurde er bezahlt für alle tyrannische Unbill, die er gegen jüngere Schüler geübt hatte, dann mußte er deponieren, sein Schülerkleid und ungehobeltes Wesen ablegen, unter demütigenden Zeremonien wurde er in die vornehme Genossenschaft der Studenten aufgenommen, er selbst mußte wieder dienen, wilde Scherze und Roheiten wie ein Sklave erdulden. Eigenmächtig wechselten die Schüler die Schulen; vielen wurde das Lungern auf der Landstraße die Hauptsache, und die Jugendjahre vergingen ihnen in einem wüsten Umhertreiben von Schule zu Schule, unter Bettelei und Raub und roher Liederlichkeit. Wenn wir uns noch jetzt über die Kraft und sichere Tüchtigkeit einzelner freuen, welche sich damals von unten herauf zu geistiger Bedeutung emporgearbeitet haben, so müssen wir auch daran denken, wie manches Mutterkind in kindlichem Gemüt dasselbe Ziel zu erreichen hoffte und doch elend hinter dem Zaun oder in dem Siechhause einer fremden Stadt verdorben ist.

Unbehilflich war der Unterricht in den lateinischen Schulen. Die Lehrbücher waren schwer zu erwerben, oft schrieben die Knaben den Text derselben für sich ab, ein Buch war ihnen ein Schatz. Zur Grundlage diente noch die alte Grammatik des Donat, an ihr lernten die Knaben Lateinisch lesen. Deklinieren, Konjugieren und leichte Satzbildung wurde aus dem Sulpicius oder einem andern kleinen Handbuch und in Exerzitien der Knaben geübt. Dann sollte eine kleine lateinische Schrift erklärt werden, etwa der Brief des Äneas Sylvius an den König Ladislaus, darauf vielleicht die Anthologie Jakob Wimpfelings: Adolescentia, dann wurde zu den römischen Prosaikern, Cicero, Sallust übergegangen. Noch war in Grammatik und Erklärung viel unnützer scholastischer Kram, ob z. B. die Präposition »ad« personalis, localis, temporalis usw. sei, wurde sorgfältig definiert; durch lateinische versus memoriales suchte man dem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen, und noch hat auch, was man damals als elegantes Latein bewunderte, einen mönchischen Beigeschmack. Aber schon mahnt der große Lehrer Wimpfeling, bei jeder Gelegenheit Beispiele zu wählen, welche die Knaben zur Ehrbarkeit, Gottesfurcht, zu redlicher Gesinnung anfeuern; nicht die Kenntnis der Formen und Wörter tue es, nicht die subtile Distinktion der Worte, sondern der Geist, der aus dem Altertum einströme. Die Gesinnung solle geadelt werden, das Verständnis der Welt und des Glaubens gefördert, zur Größe der Staaten, zur Reformation der katholischen Kirche, zum Ruhm im Frieden, zur Abwehr des Krieges müsse die Wissenschaft dienen, denn Erkenntnis der Wahrheit sei ihr Ziel.

Von dem Leben der fahrenden Schüler ist uns eine oft ausgezogene Beschreibung durch Thomas Platter erhalten worden, dem armen Hirtenknaben aus dem Vispertale in Wallis, später angesehenen Buchdrucker und Schulrektor in Basel. Aus seiner Selbstbiographie wird hier nach der Ausgabe von Dr. D. A. Fechter (Basel 1840) einiges mitgeteilt. In dem wilden Gebirgstal, aus welchem die Visp zur Rhone hinabbraust, zog damals noch kein schaulustiger Reisender nach der Zermatt, dem Matterhorn und den Gletschern des Monte Rosa. Einsam wuchs der Knabe auf zwischen Felsen und seinen Ziegen; wenn ihm die Herde in ein Saatfeld lief, wenn ein Adler drohend über ihm schwebte, wenn er sich selbst auf steilem Felsen verstieg oder von seinem harten Herrn gestraft wurde, das waren die Eindrücke seines Kinderlebens. Wie er aus solcher Einsamkeit in die weite Welt hinausgeworfen wurde, soll er jetzt erzählen.

Als ich bei dem Bauer war, kommt eine meines Basen, hieß Fransy, die wollte mich zu meinem Vetter Herrn Antony Platter tun, daß ich sollte die Schriften lernen. So reden sie, wenn man einen in die Schule tun will. Der Bauer war damit übel zufrieden; er sprach, ich würde nichts lernen und setzte den Zeigefinger der rechten Hand mitten in die linke Hand und sprach: »So wenig wird der Bub lernen, als ich den Finger da durchstoßen kann.« Das sah und hörte ich. Da sprach die Bäsin: »Wer weiß, Gott hat ihm seine Gaben nit versagt, es kann noch ein frommer Priester aus ihm werden.« Sie führte mich also zu dem Herrn, ich war, wenn ich's gedenke, um die neun Jahre oder zehnthalb alt. Da ging es mir erst übel, denn der Herr war gar ein zorniger Mann, ich aber ein ungeschicktes Bauernbüblein. Der schlug mich grausam übel, nahm mich vielmal bei den Ohren und zog mich vom Herd auf, daß ich schrie wie eine Geiß, die am Messer steckt, daß oft die Nachbarn über ihn redeten, ob er mich wollte morden.

Bei dem war ich nit lange. Denn in derselben Zeit kam mein Geschwisterkind, der war den Schulen nachgezogen auf Ulm und München in Bayerland, derselbe Student hieß Paulus Summermatter. Dem hatten meine Verwandten von mir gesagt, und er verhieß ihnen, er wollte mich mit sich nehmen und in Deutschland der Schule nachführen. Da ich das vernahm, fiel ich auf meine Knie und bat Gott den Allmächtigen, daß er mir von dem Pfaffen hülfe, der mich schier gar nichts lehrte und aber jämmerlich übel schlug. Denn ich hatte eben ein wenig das Salve singen gelernt und um Eier bitten mit andern Schülern, die auch in dem Dorf bei dem Pfaffen waren.

Als nun Paulus wieder wandeln wollte, sollte ich zu ihm nach Stalden kommen. Vor Stalden wohnte Simon zu der Summermatten, meiner Mutter Bruder, der sollte mein Vogt sein; der gab mir einen Goldgulden, den trug ich im Händlein bis nach Stalden, lugte oft unterwegs, ob ich ihn noch hätte, gab ihn dem Paulus. So zogen wir zum Land hinaus. Da mußt' ich für mich betteln und meinem Bacchanten, dem Paulus, auch geben, denn wegen meiner Einfalt und ländlichen Sprache gab man mir viel. Als wir über den Berg Grimsel nachts in ein Wirtshaus kamen, hatte ich nie einen Kachelofen gesehen, und der Mond schien an die Kacheln, da wähnte ich, es wäre so ein großes Kalb, denn ich sah nur zwei Kacheln scheinen, das waren, so meinte ich, die Augen. Am Morgen sah ich Gänse, deren ich nie keine gesehen hatte; da meinte ich, als sie mich anheiserten, es wäre der Teufel und wollte mich fressen, floh und schrie. Zu Luzern sah ich die ersten Ziegeldächer.

Danach zogen wir auf Meißen zu, es war mir eine weite Reise, da ich nicht gewohnt war so weit zu ziehen und dazu unterwegs das Essen zu gewinnen. Wir zogen also unser miteinander acht oder neun, drei kleine Schützen, die andern große Bacchanten, wie man sie nennt, unter welchen ich der allerkleinste und jüngste Schütz war. Wenn ich nicht gut zu gehen vermochte, ging mein Vetter Paulus hinter mir mit der Rute oder dem Stöcklein und zwickte mich an die bloßen Beine, denn ich hatte keine Hosen an und schlechte Schühlein. Ich weiß auch nit mehr alle Dinge, die uns auf der Straße begegnet sind, doch etlicher bin ich eingedenk. Als wir nämlich auf der Reise waren und man so allerlei redete, sprachen die Bacchanten untereinander, wie in Meißen und Schlesien der Brauch wäre, daß die Schüler Gänse und Enten, auch andere solche Speise rauben dürften, und täte man einem nichts darum, wenn man dem entronnen sei, dem das Ding gehört hätte. Eines Tages waren wir nit weit von einem Dorf, da war ein großer Hauf Gänse beieinander, und war der Hirt nicht dabei, da fragte ich meine Gesellen, die Schützen: »Wann sind wir in Meißen, daß ich Gänse totwerfen darf?« Da sprachen sie: »Jetzt sind wir drinnen.« Da nahm ich einen Stein, warf eine Gans und traf sie an ein Bein, die andern flogen davon, die hinkende aber konnte nicht aufkommen. Ich nahm noch einen Stein, traf sie an den Kopf, daß sie niederfiel, lief hinzu und erwischte die Gans bei dem Kragen, fuhr mit ihr unter das Röcklein und ging die Straße durch das Dorf. Da kam der Gänsehirt nachgelaufen und schrie im Dorf: »Der Bub hat mir meine Gans geraubt!« Ich und meine Mitschützen flohen, und der Gans hingen die Füße unter meinem Röcklein hervor. Die Bauern kamen hervor mit Spießen, die sie werfen konnten, und liefen uns nach. Als ich sah, daß ich nicht mit der Gans entrinnen konnte, ließ ich sie fallen und sprang vor dem Dorf vom Wege ab in ein Gesträuch, zwei meiner Gesellen aber liefen der Straße nach, die wurden von zwei Bauern ereilt. Da fielen sie nieder auf die Knie und begehrten Gnade, sie hätten ihnen keinen Schaden getan; und da auch die Bauern sahen, daß sie nicht der waren, der die Gans hatte fallen lassen, so gingen sie wieder in das Dorf und nahmen die Gans. Ich aber sah, wie sie meinen Gesellen nacheilten, und war in größten Nöten und sprach zu mir selbst: »Ach Gott, ich glaube, ich habe mich heut' nit gesegnet!« (wie man mich denn gelehrt hatte, ich sollte mich alle Morgen segnen). Als die Bauern wieder in das Dorf kamen, fanden sie unsere Bacchanten im Wirtshaus, denn diese waren voraus in das Wirtshaus gegangen, die Bauern wollten, sie sollten die Gans zahlen; es wäre etwa um zwei Batzen zu tun gewesen; ich weiß aber nit, ob sie bezahlt haben oder nit. Als sie nun wieder zu uns kamen, lachten sie und fragten, wie es gegangen wäre. Ich entschuldigte mich, vermeinte, es wäre so Landesbrauch; da sprachen sie, es wäre noch nit Zeit.

Ein andermal kam ein Mörder zu uns in den Wald, elf Meilen diesseits Nürnberg, da waren wir alle beieinander; der wollte alsbald mit unseren Bacchanten spielen, daß er uns hinhielte, bis daß seine Gesellen zusammenkämen; wir aber hatten gar einen redlichen Gesellen, mit Namen Antoni Schallbether, der dräuete dem Mörder, er solle sich von uns machen; das tat er. Nun war es spat, daß wir bloß bis in das Dorf kommen konnten, und waren zwei Wirtshäuser daselbst, sonst wenig Häuser. Da wir in eins kamen, war der Mörder vor uns da und andere mehr, ohne Zweifel seine Gesellen; da wollten wir nit dort bleiben und gingen in das andere Wirtshaus. Als man daselbst zur Nacht gegessen hatte, war jeder so geschäftig im Haus, daß man uns kleinen Buben nichts geben wollte; denn wir saßen niemals mit am Tisch beim Mahl, man wollte uns auch nit in eine Schlafkammer führen, sondern wir mußten im Roßstall liegen. – Als man aber die Großen zu ihrer Schlafkammer führte, sprach Antoni zum Wirt: »Wirt, mich dünkt, du habest seltsame Gäste, und du seiest nit besser; ich sage dir, Wirt, lege uns, daß wir sicher sind, oder wir werden dir ein Wesen machen, daß dir das Haus zu eng werden soll.« Denn im Anfang begehrten die Schelme mit unseren Gesellen zu spielen, Schachzabel, so nannten sie das Schach, das Wörtlein hatt' ich nie gehört. Als man sie nun zur Ruh' führte, ich aber und die andern kleinen Buben ohne Abendbrot im Roßstall lagen, waren in der Nacht etliche, vielleicht der Wirt selber, an die Kammer gekommen und haben wollen aufschließen; da hat Antonius inwendig eine Schraube eingeschraubet vor das Schloß, das Bett vor die Tür gerückt und ein Licht angeschlagen – denn er hatte allweg Wachskerzen und ein Feuerzeug bei sich – und hat die anderen Gesellen schnell aufgeweckt. Wie das die Schelme hörten, sind sie gewichen. Am Morgen fanden wir weder Wirt noch Knecht; das sagten sie uns Buben, wir waren auch alle froh, da uns im Stall nichts geschehen war. Nachdem wir von da wohl eine Meile gegangen waren, kamen wir zu Leuten; als die gehört, wo wir die Nacht gewesen waren, verwunderten sie sich, daß wir nicht alle ermordet waren; denn fast das ganze Dörflein war der Mörderei verdächtig.

Ungefähr eine Meile vor Naumburg waren wieder unsere großen Gesellen in einem Dorf zurückgeblieben; denn wenn sie zusammen zehren wollten, schickten sie uns voran. Wir waren unser fünf, da kamen auf weitem Feld acht Mann auf Rossen an uns mit gespannten Armbrüsten, umritten uns, begehrten von uns Geld und kehrten die Pfeile gegen uns, denn da führte man noch keine Büchsen zu Roß. Und einer sprach: »Gebt Geld!« Da antwortete einer unter uns, der war ziemlich groß: »Wir han kein Geld, sind arme Schüler.« Da sprach der Reiter noch zweimal: »Gebt Geld!« so sagte unser Gesell wieder: »Wir han kein Geld und geben euch kein Geld und sind euch nichts schuldig.« Da zückte der Reiter das Schwert, hieb ihm stracks am Kopf hin, daß er ihm die Schnüre am Bündel zerhieb. Sie ritten davon wieder ins Holz, wir aber gingen auf Naumburg zu, bald kamen unsere Bacchanten, die hatten die Schelme nirgends gesehen. – Wir sind auch oft in Gefahr gewesen der Reiter und Mörder halb, als im Thüringer Wald, im Frankenland, in Polenland. Zu Naumburg blieben wir etliche Wochen, wir Schützen gingen in die Stadt; etliche Schützen, die singen konnten, sangen, ich aber ging heischen. Wir gingen da aber in keine Schule. Das wollten die anderen Schüler nit leiden und drohten, sie würden uns in die Schule zu gehen zwingen. Der Schulmeister entbot auch unseren Bacchanten: sie sollten in die Schule kommen, oder man würde sie fassen; Antoni entbot ihm wieder: er möchte nur kommen! Und da auch etliche Schweizer da waren, ließen diese uns wissen, auf welchen Tag man kommen würde, damit man uns nit unversehens überfiele. Da trugen wir kleinen Schützen Steine auf das Dach, Antoni aber und die andern nahmen die Tür ein. Da kam der Schulmeister mit der ganzen Prozession seiner Schützen und Bacchanten, aber wir Buben warfen mit Steinen auf sie, daß sie weichen mußten. Als wir nun vernommen, daß wir von der Obrigkeit verklagt waren, hatten wir einen Nachbar, der seiner Tochter einen Mann geben wollte, der hatte einen Stall mit gemästeten Gänsen, dem nahmen wir nachts drei Gänse und zogen in den anderen Teil der Stadt, eine Vorstadt, wieder ohne Ringmauern, wie auch die Stadtecke war, wo wir bisher gewesen waren; da kamen die Schweizer zu uns, sie und die unsern zechten miteinander, und zog von da unser Haufe auf Halle in Sachsen, dort gingen wir in die Schule zu St. Ulrich. – Da sich aber unsere Bacchanten so ungebührlich gegen uns hielten, besprachen sich etliche von uns mit Paul, meinem Vetter, den Bacchanten zu entlaufen, und zogen wir gen Dresden; dort war aber durchaus keine gute Schule, und auf der Schule in den Habitazen alles voll Läuse, daß wir sie zur Nacht im Stroh unter uns knistern gehört haben. Wir brachen auf und zogen auf Breslau zu, mußten unterwegs viel Hunger leiden; also daß wir etliche Tage nichts als rohe Zwiebeln mit Salz aßen, etliche Tage gebratene Eicheln, Holzäpfel und Birnen; manche Nacht lagen wir unter heiterem Himmel, denn nirgend wollte man uns bei den Häusern leiden, wie früh wir auch um Herberge baten; manchmal hetzte man die Hunde auf uns.

Als wir aber nach Breslau kamen, da war alles in Hülle und Fülle, ja so wohlfeil, daß sich die armen Schüler überaßen und oft in große Krankheit fielen. Da gingen wir zunächst auf den Dom in die Schule zum Heiligen Kreuz. Als wir aber vernahmen, daß in der obersten Pfarre zu St. Elisabeth etliche Schweizer waren, zogen wir dorthin. Die Stadt Breslau hat sieben Pfarren und jegliche eine besondere Schule; es durfte kein Schüler in eines anderen Pfarre singen gehen, oder sie schrien: ad idem, ad idem! und dann liefen die Schützen zusammen und schlugen einander gar übel. Es sind, wie man sagt, auf einmal in der Stadt etliche tausend Bacchanten und Schützen gewesen, die sich alle durch Almosen ernährten; man sagte auch, daß etliche von zwanzig, dreißig und mehr Jahren wären, die ihre Schützen hätten, die ihnen präsentierten; ich hab' meinen Bacchanten oft an einem Abend fünf oder sechs Trachten heim auf die Schule getragen, wo sie damals wohnten; man gab mir auch gern, darum daß ich klein war und ein Schweizer, denn man hatte die Schweizer sehr lieb.

Blieb also eine Zeitlang da; ich war in einem Winter dreimal krank, daß man mich in das Spital führen mußte; die Schüler hatten ein besonderes Spital und eigene Doctores. Auch gibt man auf dem Rathaus für einen Kranken sechzehn Heller die Woche, damit erhält man einen gar wohl. Man hat dort gute Wartung, gute Betten, aber große Läuse darin, daß es nit zu glauben, wie Hanfsamen, so daß ich viel lieber in der Stube auf dem Herde lag, wie andere auch, als in den Betten. Die Schüler und Bacchanten, ja auch zu Zeiten der gemeine Mann, sind so voll Läus, daß es nit glaublich ist, ich hätte schier, sooft man gewollt hätte, drei Läuse miteinander aus dem Busen gezogen. Bin auch oftmals, besonders im Sommer, hinaus an die Oder, das Wasser, das da vorüberfließt, gegangen, habe mein Hemdlein gewaschen, hab's an eine Staude gehängt und getrocknet und den Rock gelauset, eine Grube gemacht, einen Haufen Laus darein geworfen, mit Boden zugedeckt und ein Kreuz darauf gesteckt. Den Winter liegen die Schützen auf dem Herd in der Schule, die Bacchanten aber in den Kämmerlein, deren zu St. Elisabeth etliche hundert waren; den Sommer aber, wenn es heiß war, lagen wir auf dem Kirchhof, trugen Gras zusammen, das man im Sommer am Sonntag in den Herrengassen vor die Häuser breitet; das trugen etliche in eine Ecke auf den Kirchhof zusammen, lagen darin wie Säue in der Streu; wann es aber regnete, liefen wir in die Schule, und wenn Ungewitter war, so sangen wir schier die ganze Nacht Responsoria und anderes mit dem Subkantore. Manchmal gingen wir im Sommer nach dem Nachtmahl in die Bierhäuser Bier zu heischen, da gaben uns die vollen Polackenbauern Bier, daß ich oft, ohne es zu wissen, so voll geworden bin, daß ich nit habe wieder in die Schule kommen können, wenn ich schon nur einen Steinwurf von der Schule entfernt war. Summa, da war Nahrung genug, aber man studierte nit viel.

In der Schul zu St. Elisabeth lasen allwege zugleich zu derselben Stunde in einer Stube neun Baccalaurei, doch war graeca lingua noch nirgend im Land; desgleichen hatte niemand gedruckte Bücher, nur der Präzeptor hatte einen gedruckten Terentius. Was man las, mußte man erstlich diktieren, dann distinguieren, dann konstruieren, zuletzt exponieren, so daß die Bacchanten große Scharteken mit sich heimzutragen hatten, wenn sie hinweg gingen.

Von dort zogen unser acht wieder hinweg auf Dresden zu; kamen wieder in Not, daß wir wieder großen Hunger litten. Da beschlossen wir, uns auf einen Tag zu teilen; etliche sollten nach Gänsen aussehen, etliche nach Rüben und Zwiebeln, einer nach einem Topf, wir kleinen aber in die Stadt Neumarkt gehen, die nit weit davon an der Straße war, und sollten nach Brot und Salz sehen; auf den Abend wollten wir vor der Stadt wieder zusammenkommen, wollten vor der Stadt das Lager schlagen und kochen, was wir dann hätten. Da war einen Büchsenschuß von der Stadt ein Brunnen, dort wollten wir die Nacht bleiben, aber wie man in der Stadt das Feuer gesehen hatte, schoß man zu uns heraus, sie trafen uns jedoch nit. Da wichen wir hinter einen Rain zu einem Wässerlein und Wäldlein; die großen Gesellen hieben Stangen ab, machten eine Hütte, ein Teil rupfte die Gänse, deren hatten sie zwei; andere bereiteten Rüben im Topf, taten Kopf und Füße, item die Därme hinein; andere machten zwei hölzerne Spieße und fingen an zu braten, und als das Fleisch ein wenig rot war, huben wir es am Spieß ab und aßen's; so auch die Rüben. In der Nacht hörten wir etwas schnattern; da war neben uns ein Weiher, den hatte man am Tage abgelassen, und sprangen die Fische auf dem Morast; da nahmen wir Fische, soviel wir in einem Hemd am Stecken tragen konnten, und zogen davon, bis in ein Dorf, da gaben wir einem Bauern Fische, daß er uns die andern in Bier kochte.

Als wir wieder gen Dresden gekommen, da schickten der Schulmeister und unsere Bacchanten etliche von uns Buben aus, wir sollten nach Gänsen auslugen; da wurden wir eins, ich sollte die Gänse werfen, sie aber sollten sie nehmen und hinwegtragen. Nachdem wir nun einen Haufen gefunden und sie uns ersehen haben, sind sie aufgeflogen, da hab' ich einen kleinen Knüttel gehabt und diesen unter sie in die Luft geworfen, hab' eine getroffen, daß sie herabgefallen ist; als aber meine Gesellen den Gänsehirten ersahen, trauten sie sich nit hinanzulaufen, obgleich sie doch dem Hirten wohl hätten vorlaufen können. Da ließen sich die andern Gänse wieder nieder, standen um die Gans, gagaiten, als sprächen sie ihr zu, sie stand auch wieder auf und ging mit den andern davon. Ich war über meine Gesellen übel zufrieden, daß sie ihrer Zusage nit genug getan; aber sie hielten sich danach besser, denn wir brachten zwei Gänse davon, die verzehrten die Bacchanten mit dem Schulmeister zum Abschied und zogen dann auf Nürnberg zu.

Bald danach zogen wir wieder davon auf Ulm zu, da nahm Paulus noch einen Buben mit, der hieß Hildebrand Kalbermatter, eines Pfaffen Sohn, war auch noch jung, dem gab man Tuch, wie man solches im Lande macht, zu einem Röcklein. Als wir nach Ulm kamen, hieß mich Paulus mit dem Tuch umhergehen, den Macherlohn dazu zu heischen; dadurch bekam ich viel Geld, denn ich war des Gotteslohnes und Bettelns wohl gewohnt; denn dazu hatten mich die Bacchanten fortwährend gebraucht, gar nit zu der Schule gezogen, auch nit einmal lesen gelehrt. Während ich selten in die Schule ging, und wenn man in die Schule gehen sollte, mit dem Tuch umging, hab' ich großen Hunger gelitten, denn alles, was ich überkam, brachte ich den Bacchanten; ich hätte nit einen Bissen gegessen, denn ich fürchtete das Streichen. Paulus hatte einen andern Bacchanten zu sich genommen, Namens Achatius, von Mainz gebürtig, denen mußt' ich und mein Gesell Hildebrand präsentieren; aber mein Gesell fraß schier alles selbst, dem gingen die Bacchanten auf der Gasse nach, daß sie ihn essend fänden, oder sie hießen ihn den Mund mit Wasser ausschwenken und in eine Schüssel mit Wasser spützen, damit sie sähen, ob er etwas gegessen hätte. Dann warfen sie ihn in ein Bett und ein Kissen auf den Kopf, daß er nit schreien konnte, und schlugen ihn diese Bacchanten, bis sie nit mehr konnten; darum fürchtete ich mich und brachte alle Dinge heim. Sie hatten oft so viel Brot, daß es schimmlig wurde; da schnitten sie das auswendige Graue ab und gaben es uns zu essen. Da hab' ich oft großen Hunger gehabt und bin übel erfroren, weil ich oft in der Finsternis bis um Mitternacht habe müssen herumgehen und um Brot singen.

Da mag ich nit unterlassen, noch dieses anzuzeigen, wie zu Ulm eine fromme Witwe war, die hatte zwei erwachsene Töchter, diese Witwe hat mir oft in dem Winter meine Füße in einen warmen Pelz gewickelt, den sie hinter den Ofen gelegt hatte, wenn ich käme, daß sie mir meine Füße wärmte, sie gab mir dann eine Schüssel mit Mus und ließ mich heimgehen. Ich habe solchen Hunger gehabt, daß ich den Hunden auf der Gasse die Knochen abgejagt und die benagt, item Brosamen aus den Säcken gesucht und gegessen habe. Danach sind wir wieder gen München gezogen, auch da habe ich das Macherlohn vom Tuch, das doch nit mein war, betteln müssen. Ein Jahr darauf kamen wir noch einmal nach Ulm, und ich brachte das Tuch wieder mit mir und heischte den Macherlohn; da bin ich wohl eingedenk, daß etliche zu mir sagten: »Botz Marter! ist der Rock noch nit gemacht? Ich glaube, du gehst mit Bubenwerk um.« So zogen wir von dannen; ich weiß nit, wo das Tuch hinkam, ob der Rock gemacht worden ist oder nit. Als wir an einem Sonntag nach München kamen, hatten die Bacchanten Herberge, wir aber, drei kleine Schützen, keine und wollten deshalb gegen Nacht in die Schrannen, das ist, auf den Kornmarkt gehen, um auf den Kornsäcken zu liegen. Da saßen etliche Weiber bei dem Salzhaus an der Gasse, die fragten, wo wir hinwollten. Und da sie hörten, daß wir keine Herberge hätten, war eine Metzgerin dabei, die, als sie vernahm, daß wir Schweizer wären, sagte sie zu ihrer Jungfer: »Lauf, henke den Topf mit der Suppe und dem Fleisch über, das uns übriggeblieben ist, sie sollen bei mir über Nacht sein, ich bin allen Schweizern hold; ich habe zu Innsbruck in einem Wirtshause gedient, als Kaiser Maximilianus dort Hof gehalten hat, da haben die Schweizer viel mit ihm zu schaffen gehabt; sie sind so freundlich gewesen, daß ich ihnen mein Lebelang hold sein will.« Die Frau gab uns genug zu essen und zu trinken und legte uns wohl. Am Morgen sprach sie zu uns: »Wenn einer von euch bei mir bleiben wollte, ich wollte ihm Herberge, zu essen und zu trinken geben.« Wir waren alle willig und fragten, welchen sie wollte, und wie sie uns besichtigte, war ich etwas kecker als die andern, da nahm sie mich, und ich durfte ihr nichts weiter tun als Bier reichen und die Häute und Fleisch aus der Metzge holen, item mit ihr zuweilen auf das Feld gehen; mußte aber doch dem Bacchanten präsentieren. Das hatte die Frau nit gern und sprach zu mir: »Botz Marter! laß den Bacchanten fahren und bleibe bei mir, du darfst doch nit betteln.« So kam ich in acht Tagen weder zu dem Bacchanten noch in die Schule; da kam er und klopfte an der Metzgerin Haus. Da sprach sie zu mir:«Dein Bacchant ist da, sag, du seiest krank.« Sie ließ ihn ein und sagte zu ihm: »Ihr seid wahrlich ein feiner Herr, hättet doch zusehen sollen, was Thomas machte, er ist krank gewesen und ist es noch.« Da sprach er: »Es ist mir leid, Bub; wenn du wieder ausgehen kannst, so komme zu mir.« Danach an einem Sonntag ging ich in die Vesper, da sagte er nach der Vesper: »Du Schütz, du kommst nit zu mir, ich will dich einmal mit Füßen treten!« Da nahm ich mir vor, er sollte mich nit mehr treten, und gedachte hinwegzulaufen. Am Sonntag sagte ich zu der Metzgerin: »Ich will in die Schule und will meine Hemdlein waschen gehen«; ich durfte ihr nit sagen, was ich im Sinne hatte, denn ich fürchtete, sie würde es weitersagen. Fuhr also mit traurigem Herzen von München, teils daß ich von meinem Vetter lief, mit dem ich so weit umhergezogen und der mir doch wieder zu hart war und unbarmherzig, und dann schmerzte mich auch die Metzgerin, die mich so freundlich gehalten hatte. Ich zog also über den Fluß Isar hinaus, denn ich fürchtete, wenn ich auf das Schweizerland zuginge, würde Paulus mir nachziehen, da er mir und den andern oft gedroht hatte, wenn einer wegliefe, so wollte er ihm nachziehen, und wenn er ihn wieder bekäme, wolle er selbigem alle viere abschlagen. Jenseits der Isar ist ein Hügel, da setzte ich mich, sah die Stadt an und weinte inniglich, daß ich niemand mehr hätte, der sich meiner annähme; gedachte auf Salzburg oder gen Wien in Österreich zu ziehen. Als ich da saß, kam ein Bauer mit einem Wagen, der hatte Salz gen München geführt, er war schon trunken, und doch war erst die Sonne aufgegangen, den bat ich, er sollte mich aufsitzen lassen, mit dem fuhr ich, bis er ausspannte, die Rosse und sich zu füttern; dazwischen bettelte ich im Dorf, und nit weit vom Dorf wartete ich auf ihn und entschlief. Als ich erwachte, weinte ich wieder herzlich, denn ich meinte, der Bauer wäre fortgefahren, mich bedeuchte, ich hätte meinen Vater verloren. Bald aber kam er, war wieder voll, hieß mich wieder aufsitzen und fragte mich, wo ich hinwollte. Da sprach ich: »Nach Salzburg.« Als es nun Abend war, fuhr er von derselben Straße ab und sprach: »Steig ab, da geht die Straße auf Salzburg.« Wir waren denselben Tag acht Meilen gefahren. – So kam ich in ein Dorf. Als ich des Morgens aufstand, war ein Reif, als wenn es geschneit hätte, und hatte ich keine Schuhe, nur zerrissene Strümpflein, kein Barett, ein Jäcklein ohne Falten, zog also auf Passau zu, wollte mich da auf die Donau setzen und auf Wien zu. Als ich nach Passau kam, wollte man mich nit einlassen. Da gedachte ich auf das Schweizerland zu ziehen, fragte den Torwächter, wo ich am nächsten auf das Schweizerland ziehen könnte; da sprach er: »Über München«; ich sagte: »Gen München will ich nit, will eher zehn Meilen Wegs oder noch weiter umziehen.« Da wies er mich auf Freisingen zu. Dort ist auch eine hohe Schule, da fand ich Schweizer, die fragten mich, von wannen ich komme. Ehe zwei oder drei Tage hin waren, kam Paulus mit einer Hellebarde. Die Schützen sagten zu mir: »Der Bacchant von München ist hier und suchet dich«; da lief ich zum Tor hinaus, als wenn er hinter mir her gewesen wäre, und zog auf Ulm zu und ging daselbst zu meiner Sattlerin, die mir einst die Füße im Pelz gewärmt hatte. Die nahm mich an, ich sollte ihr die Rüben hüten auf dem Feld; das tat ich und ging in keine Schule. Nach etlichen Wochen kam einer zu mir, der des Pauli Geselle gewesen war, der sprach: »Dein Vetter Paulus ist hier und suchet dich.« Da war er mir achtzehn Meilen nachgezogen, denn er hatte eine gute Pfründe an mir verloren, ich hatte ihn etliche Jahre ernährt. Da ich das wieder hörte, wiewohl es fast Nacht war, lief ich zum Tor hinaus auf Konstanz zu und weinte wieder inniglich, denn es schmerzte mich sehr, daß ich die liebe Frau verlor. –

So gelangte ich über den See nach Konstanz, und als ich über die Brücke hinausging und einige Schweizer Bäuerlein in weißen Jupen sah, ach mein Gott, wie war ich so froh, ich meinte, ich wäre im Himmelreich. Und als ich nach Zürich kam, fand ich dort Walliser, große Bacchanten, denen erbot ich mich zum Präsentieren, sie dagegen sollten mich lehren; das taten sie aber nit besser als einst die andern. Nach etlichen Monaten schickte Paulus von München seinen Schützen, den Hildebrand, ich solle wiederkommen, er wolle mir verzeihen, ich aber wollte nit, sondern blieb in Zürich, studierte aber sehr wenig. –

Da war ein Walliser von Visp, mit Namen Antonius Venetz, der wiegelte mich auf, wir wollten miteinander nach Straßburg ziehen. Als wir nach Straßburg kamen, waren gar viele arme Schüler da und, wie man sagte, keine gute Schule; aber zu Schlettstadt, da wäre eine sehr gute Schule. Wir zogen also nach Schlettstadt. Auf dem Wege begegnete uns ein Edelmann, fragte, wo hinaus, und widerriet uns nach Schlettstadt zu ziehen, es wären dort sehr viele arme Schüler und keine reichen Leute. Da fing mein Gesell an bitterlich zu weinen, wo nun hinaus? Ich tröstete ihn und sprach: »Sei guten Muts, gibt es zu Schlettstadt auch nur einen Schüler, der sich allein ernähren kann, so will ich uns beide ernähren.« Und als wir noch eine Meile von der Stadt in einem Dorf herbergten, ward mir unwohl, daß ich wähnte, ich müßte ersticken, alle Luft fehlte mir, ich hatte zuviel frische Nüsse gegessen, welche um diese Zeit abfielen. Da weinte mein Gesell wieder, er meinte, wenn er seinen Gesellen verlöre, so wüßte er dann nit wo hinaus. Und er hatte heimlich zehn Kronen bei sich, ich aber nit einen Heller! In der Stadt nahmen wir Herberge bei einem alten Ehepaar, dessen Mann stockblind war, und darauf gingen wir zu meinem lieben Herrn Präzeptor, dem seligen Herrn Johannes Sapidus, und baten ihn, er möge uns annehmen. Er fragte, woher wir wären. Als wir sagten aus dem Schweizerland, von Wallis, sprach er: »Dort sind leidig böse Bauern, sie jagen alle ihre Bischöfe aus dem Land. So ihr fleißig studieren werdet, sollt ihr mir wenig geben; wo nit, so müßt ihr mich zahlen, oder ich will euch den Rock vom Leibe ziehen.« Das war die erste Schule, wo mich deuchte, daß es recht zuging. Zu der Zeit gingen die Studia und Sprachen auf, es war in dem Jahr, wo der Reichstag zu Worms gewesen ist. Sapidus hatte einmal neunhundert Schüler, etliche feingelehrte Gesellen, die später Doctores und berühmte Männer geworden sind.

Als ich nun in die Schule kam, wußte ich wenig, konnte noch nit den Donat lesen und war doch schon achtzehn Jahre alt, ich setzte mich unter die kleinen Kinder wie eine Glucke unter die Küchlein. An einem Tage las Sapidus das Verzeichnis seiner Schüler und sprach: »Ich habe viel barbara nomina (barbarische Namen), ich muß sie einmal ein wenig lateinisch machen.« Und wieder las er die Namen lateinisch ab, da hatte er mich vertiert in Thomas Platerus und meinen Gesellen Anton Venetz in Antonius Venetus, und sprach: »Wer sind die zwei?« Da wir aufstanden, sprach er: »Pfui, sind das zwei räudige Schützen und haben so hübsche Namen.« Und das war auch zum Teil wahr, besonders mein Gesell, der war so räudig, daß ich ihm manchen Morgen das Laken von dem Leibe abziehen mußte wie die Haut von einer Geiß. Ich aber war fremde Luft und Speise besser gewohnt als er.

Als wir nun vom Herbst bis Pfingsten da waren und noch immer mehr Schüler von allen Seiten zureisten, konnten wir uns nit mehr gut ernähren und zogen weg gen Solothurn. Dort war eine ziemlich gute Schule, auch bessere Nahrung, aber man mußte gar zu viel in der Kirche stecken und Zeit versäumen, so daß wir nach der Heimat zogen.

Den folgenden Frühling aber zog ich mit zwei Brüdern wieder aus dem Land. Als wir von der Mutter Abschied nehmen wollten, weinte sie und sprach: »Das müsse Gott erbarmen, daß ich soll drei Söhne ins Elend gehen sehen.« Sonst habe ich meine Mutter nie weinen sehen, denn sie war ein tapferes, mannhaftes Weib, aber rauh; sonst war sie ehrlich, redlich, fromm, das hat jedermann von ihr gesagt und sie gelobt.

So kam ich nach Zürich und ging zum Frauenmünster in die Schule, der Präzeptor hieß Meister Wolfgang Knöwel von Bar bei Zug, er war Magister der Universität zu Paris, den man zu Paris genannt hatte grand diable; er war ein großer redlicher Mann, kümmerte sich aber nit viel um die Schule, sondern lugte mehr, wo die hübschen Mägdlein waren, deren er sich kaum erwehren konnte; ich aber hätte gern studiert, denn ich konnte merken, daß es Zeit war.

Zu derselben Zeit sagte man, es würde ein Schulmeister von Einsiedeln kommen, ein gar gelehrter und treuer Schulmeister, aber grausam wunderlich. Da machte ich mir einen Sitz in einem Winkel, nit weit von des Schulmeisters Stuhl, und dachte: »In dem Winkel willst du studieren oder sterben.« Als er nun eintrat, mein Vater Myconius, sprach er: »Das ist eine hübsche Schule« – denn sie war erst vor kurzem neugebaut –, »aber mich bedünkt, es seien ungeschickte Knaben, doch wollen wir zusehen, wendet nur guten Fleiß an.« Da weiß ich, hätte es mir mein Leben gegolten, ich hätte nit ein Wort der ersten Deklination deklinieren können und konnte doch den Donat bis auf das Tz auswendig; denn als ich in Schlettstadt war, hatte Sapidus einen Baccalaureus, der vexierte die Bacchanten so jämmerlich mit dem Donat, daß ich dachte: »Ist das ein so gutes Buch, so willst du es auswendig lernen«, und indem ich daraus lesen lernte, lernte ich es auch auswendig. Das bekam mir bei Vater Myconius wohl, er las uns den Terentius, und wir mußten alle Wörtlein in einer ganzen Komödie deklinieren und konjugieren, und oft ist er mit mir umgegangen, daß mein Hemdlein naß geworden ist und daß mir das Gesicht verging, und doch hat er mir nie einen Streich gegeben, außer einmal mit der umgekehrten Hand an die Wange. Er las auch in der Heiligen Schrift, und in solchen Stunden kamen viele Laien, denn es war damals im Anfang, daß das Licht des heiligen Evangelii aufgehen sollte. Wenn er aber schon rauh mit mir war, so führte er mich dann heim und gab mir zu essen, denn er hörte mich gern erzählen, wie ich alles Land in Deutschland durchgelaufen und wie es mir allenthalben ergangen war.

Myconius mußte mit seinen Schülern zum Frauenmünster in die Kirche gehen, Vesper, Mette und Meß singen und den Gesang regieren. Da sprach er einst zu mir: »Kustos« – denn ich war sein Kustos – »ich wollte allerwegs lieber vier Lektionen halten als eine Messe singen, Lieber, vertritt mich manchmal, wenn man die leichten Messen singt, Requiem u. dergl., ich will's um dich verdienen.« Damit war ich wohl zufrieden, denn ich war schon von alters her daran gewöhnt, und noch war alles päpstlich eingerichtet. Als Kustos nun hatte ich oft nit Holz zum Einheizen, da gab ich acht, welche von den Laien, die in die Schule kamen, Holzbündel vor den Häusern hatten, dorthin bin ich um Mitternacht gegangen und habe heimlich Holz nach der Schule getragen. Eines Morgens hatte ich kein Holz, Zwingli wollte gerade am Frauenmünster predigen; vor Tage und als man zur Predigt läutete, dachte ich: »Du hast kein Holz, und es stehen so viele Götzen in der Kirche, um die kümmert sich doch niemand.« Da ging ich in die Kirche zum nächsten Altar, erwischte einen Johannes und mit ihm zur Schule in den Ofen, und sprach zu ihm: »Jögli, nun bück' dich, du mußt in den Ofen.« Als er anfing zu brennen, machte er ein wüstes großes Knattern, nämlich die Ölfarbe. Ich dachte nun: »Halt still, rührst du dich, was du aber nit tun wirst, so will ich das Ofentürlein zutun; er soll nit heraus, der Teufel trage ihn denn heraus.« Indem kam des Myconius' Frau, die zur Kirche in die Predigt wollte und bei der Tür vorbeiging, und sprach: »Gott gebe dir einen guten Tag, mein Kind, hast du geheizt?« Ich tat das Ofentürlein zu und sprach: »Ja, Mutter, ich habe schon warm gemacht«; ich wollte es ihr aber nit sagen, sie hätte schwatzen können, und wenn es herausgekommen wäre, hätte es mich damals mein Leben gekostet. Und Myconius sprach in der Lektion: »Kustos, du hast heute gut Holz gehabt.« Als wir aber die Messe singen sollten, gerieten in der Kirche zwei Pfaffen aneinander, der, welchem der Johannes gehört hatte, sprach zu einem andern: »Du Schelm, du hast mir meinen Johannes gestohlen.« Das trieben sie eine gute Weile.

Und obgleich mich bedünken wollte, es wäre mit dem Papsttum nit richtig, so hatte ich dennoch im Sinn, ich wollte Priester werden, wollte fromm sein, meinem Amt treulich vorstehen und meinen Altar fein aufputzen. Ich betete viel und fastete mehr, als mir gut war. Ich hatte auch meine Heiligen und Patrone, zu denen ich betete, zu jedem besonderes: zu Unserer Frau, daß sie bei ihrem Kind meine Fürsprecherin sein wolle, zu St. Katharina, daß sie mir zu Gelehrsamkeit helfe, zu St. Barbara, daß ich nit ohne das Sakrament sterbe, zu St. Peter, daß er mir den Himmel auftue, und was ich an Gebeten versäumte, das schrieb ich in ein Büchlein. Wenn man in der Schule donnerstags oder samstags Urlaub hatte, ging ich zum Frauenmünster in einen Stuhl, schrieb die Außenstände von Gebeten an einen Stuhl und fing an und bezahlte eine Schuld nach der andern, wischte sie dann ab und meinte, ich hätte meine Schuldigkeit getan. Ich bin sechsmal von Zürich in Einsiedeln gewesen mit Prozessionen und habe fleißig gebeichtet. Ich habe oft mit meinen Gesellen für das Papsttum gekämpft, bis einst M. Ulrich Zwingli über das Evangelium Johannis: »Ich bin ein guter Hirte« predigte. Das legte er so streng aus, daß ich wähnte, es zöge mich einer bei den Haaren in die Höhe; und er zeigte an, wie Gott das Blut der verlorenen Schäflein fordern würde von den Händen der Hirten, die an ihrem Verderben schuldig waren. Da dachte ich: »Hat es die Meinung, dann ade Pfaffenwerk, ein Pfaff werd' ich nimmermehr.« Doch fuhr ich in meinen Studiis fort, fing auch an, gegen meine Gesellen zu disputieren, ging fleißig zur Predigt und hörte meinen Präzeptor Myconius gern. Noch hatte man Messe und Götzen in Zürich.

Soweit Thomas Platter. Noch lange dauerte der Kampf um das Leben. Er mußte das Seilerhandwerk lernen, um sich zu erhalten. Er studierte in der Nacht, und als ihm der Drucker Andreas Kratander zu Basel einen Plautus geschenkt hatte, befestigte er die einzelnen Bogen mit einer Holzgabel am Strick, den er drehte, und las während der Arbeit. Später wurde er Korrektor, dann Bürger und Drucker, Rektor der lateinischen Schule zu Basel. Nicht ohne Einfluß blieb das unstete Leben der Kinderzeit auf die Seele des Mannes: wie tüchtig er war, die stete Ausdauer und frohe Kraft fehlte seinen Unternehmungen.

Aus den Tausenden, welche sich, wie der Knabe Thomas, zur lateinischen Schule drängten, gewann die steigende Bewegung ihre eifrigsten Novizen. Mit unermüdlicher Rührigkeit trugen diese Kinder des Volkes Nachrichten und neue Ideen von Haus zu Haus. Viele von ihnen gelangten nicht bis auf die Universität, durch Privatunterricht, als Korrektoren bei Druckereien suchten sie sich zu erhalten. Die Mehrzahl der Stadt- und später der Dorfschulen wurden mit solchen besetzt, welche den Virgil lasen und die bittere Laune des Klagebriefes de miseria plebanorum verstanden. So hoch stieg ihre Zahl, daß ihnen bald die Reformatoren den dringenden Rat gaben, noch spät ein Handwerk zu erlernen, um sich redlich zu ernähren. Und nicht wenige Zunftgenossen der deutschen Städte waren imstande, die Bullen des Papstes mit Glossen zu versehen und ihren Mitbürgern zu übersetzen, auch subtile theologische Fragen wurden in den Trinkstuben mit Leidenschaft erörtert. Ungeheuer war der Einfluß, den solche Männer auf die kleinen Kreise des Volkes ausübten. Wenige Jahre darauf verwuchsen sie mit armen Studenten der Gottesgelahrtheit, welche sich als Prädikanten über alle Länder deutscher Zunge verbreiteten, zu einer großen Genossenschaft, und diese Demokraten der neuen Lehre waren es, welche in Volksschauspielen den Papst als Antichrist vorstellten, in den Heerhaufen der empörten Bauern Reden hielten, in gedruckten Reden, Volksliedern und groben Dialogen die alte Kirche befehdeten. [...]


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