Gustav Freytag
Bilder aus der deutschen Vergangenheit
Gustav Freytag

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Es gab zuweilen Gelegenheit, neben den neuen Büchern alte zu erwerben. Das Interesse an den alten Drucken der Klassiker regte sich; nach den Aldinen und Juntinen, den Elzeviren wurde mit besonderer Kuriosität gesucht. Aber der antiquarische Handel war außer in Halle und Leipzig wenig in Aufnahme; nur der Zufall und eine Auktion brachte dem einzelnen leicht Bücher in die Hände, die in den letzten Jahrhunderten zusammengebracht waren, von Patriziern der Reichsstädte, deren Familien allmählich ausstarben, vielleicht aus Klosterbibliotheken, deren Werke von gewissenlosen Mönchen unter der Hand verkauft wurden. So kaufte ein Geistlicher in der Nähe von Gräfental in Franken für fünfundzwanzig Gulden, die nach und nach zu bezahlen waren, viele Ellen Folianten und Quartanten in schönen Einbänden; die Elle großen Formats war etwas teurer als die des kleinen, manche Werke waren unvollständig, weil genau gemessen wurde und die Elle eher zu Ende war als die Bändezahl; wählen durfte man nicht, die Rücken wurden nach der Reihe abgemessen. Doch war diese Barbarei eine Ausnahme.

Wer selbst Bücher schrieb, genoß davon ein Honorar durch den Buchhändler, das nicht ganz unbedeutend war, wenn der Schriftsteller in Ansehen stand. Sehr hatte sich dies Verhältnis seit dem Anfang des Jahrhunderts gebessert. Da eine Vorliebe für theologische und juristische Abhandlungen bestand, so wurden solche Traktate zuweilen höher honoriert, als es jetzt möglich wäre. Wer freilich nicht als Universitätslehrer in einem Mittelpunkt der Wissenschaft stand, der erwarb nur geringe Einnahme. Als der hochehrwürdige Herr Leßer im Jahre 1737 mit seinem Verleger über den Druck der Chronik von Nordhausen übereinkam, wurde er zwar für den gedruckten Bogen der fleißigen Arbeit durch ein Honorar von sechzehn guten Groschen »vergnüget« – welche er in ihm anständigen Büchern zu entnehmen hatte –, mußte jedoch versprechen, daß er den Verleger völlig schadlos halten wolle, wenn diesem der Inhalt des Buches irgendeinen Verdruß bei der Obrigkeit zuziehen sollte.

Für das gesellige Leben der Honoratioren war in den späten Morgenstunden die Apotheke ein schätzenswerter Mittelpunkt. Dort wurden bei kleinem Glase Aquavit Politik und Stadtneuigkeiten besprochen, und von der Decke und den oberen Gesimsen sah der alte Trödelstaat überwundener Marktschreier und Wurmdoktoren: Gerippe von Haifischen, ausgestopfte Affen, Mißgeburten in Spiritus und anderes Entsetzliche, glotzäugig auf den eifrigen Disput der Gesellschaft herab. Schon wurde außer dem Stadtgeschwätz mit Vorliebe die Politik verhandelt, nicht mehr mit ruhigem Klugsprechen, sondern als Herzenssache. Ob König, ob Kaiserin, ob Sachsen, ob Preußen wurde häufig erörtert, man wußte von jedem Gast, zu welcher Partei er gehörte. Wenige Jahre darauf sollte dieser Streit so leidenschaftlich werden, daß er sogar das Familienleben und den Hausfrieden störte. – Unterdes war dem kleinen Bürgersmann, den Dienstboten und Kindern die Phantasie mit andern Bildern erfüllt, ihnen hielt der alte Aberglaube ihr Leben umsponnen, und er war seit der neuen Frömmigkeit viel zudringlicher geworden. Kaum gab es ein altes Haus, welches nicht seine Polterstube hatte. Auf den Gräbern, in den Kirchtürmen zeigte sich ein Gespenst, sogar im Spritzenhaus spukte es, bevor ein Feuer ausbrach; zuweilen wurde die geheimnisvolle Wehklage gehört, eine Variation des Glaubens an das wilde Heer, welches durch den großen Krieg in die Seelen des Volkes gekommen war; alte Katzen wurden als Hexen betrachtet, und die Erscheinungen Verstorbener, Ahnungen und bedeutsame Träume wurden mit angstvoller Gläubigkeit erörtert. Immer noch war das Aufsuchen verborgener Schätze eine wichtige Angelegenheit, keiner Stadt fehlten glaubwürdige Berichte über Funde, die in der Nähe gemacht oder durch unzeitig gesprochene Wörter vereitelt waren. Aber der verständige Familienvater ist bereits eifrig bemüht, seine Kinder und Dienstboten über dergleichen aufzuklären. Es ist ein lebhafter Kampf, der fast in allen Familien geführt wird, von den Vertretern neuer Zeit mit der Überlegenheit und Schärfe, welche ein innerer Sieg über stille Erinnerungen des eigenen Lebens zu verleihen pflegt. Der Aufgeklärte leugnet gar nicht unbedingt die Möglichkeiten eines geheimnisvollen Zusammenhanges mit dem Jenseits, aber er versteht jeden einzelnen Fall mit Mißtrauen und Ironie zu betrachten; er nimmt allerdings an, daß hinter dem zerstörten Altar der alten Kirche, in den Ruinen des nahen Schlosses noch irgend etwas sehr Kurioses verborgen sein könne, und daß es wohl lohnen möge, einmal nachzugraben; aber er nährt eine souveräne Verachtung gegen die Flämmchen und den schwarzen Hund und zählt mit besonderer Freude zahlreiche Beispiele auf, wie dieser Glaube »alter Zeit« durch Betrüger gemißbraucht worden sei. Auch vergeht selten ein Vierteljahr, daß nicht eine gelesene Zeitschrift schöne Abhandlungen bringt, worin die Bergmännchen gänzlich geleugnet, die Feuerkugeln physikalisch erklärt und die Donnerkeile als Versteinerungen betrachtet werden. Zwar fehlen in keiner Stadt aufgeregte Leute, welche durch Erscheinungen gequält sind, und die Geistlichen beten mit der Gemeinde für diese Armen; aber schon behaupten nicht nur die Ärzte und weltlichen Gelehrten, auch klügere Bürger, daß solche Art Teufel nicht durch Gebet, sondern durch Fasten und Purgieren auszutreiben seien, da sie nur in Hypochondriacis durch krankhafte Einbildungen erzeugt würden.

Unter den Tagesereignissen ist das interessanteste Ankunft und Abfahrt des Postwagens. Gern bewegt sich der Spaziergänger um diese Zeit in der Nähe der Post. Die gewöhnliche Landpost ist ein sehr langsames, unbehilfliches Beförderungsmittel, ihr Schneckengang ist noch fünfzig Jahre später berüchtigt; Kunststraßen gibt es nirgends in Deutschland, erst nach dem Siebenjährigen Krieg werden die ersten Chausseen gebaut, auch diese schlecht. Wer bequem reisen will, nimmt Extrapost; sorgfältig wird darauf gehalten, zu größerer Geldersparnis alle Plätze zu besetzen, und in den Lokalblättern, welche seit kurzer Zeit in den meisten größeren Städten und Residenzen existieren, wird zuweilen ein Reisegefährte gesucht. Zu weiten Reisen werden eigens Wagen gekauft, am Ende der Reise wieder verkauft; die schlechten Wege geben den Posthaltern das Recht, auch einem leichten Wagen vier Pferde vorzuspannen, dann ist es wohl eine Bevorzugung des Reisenden, wenn ihm von der Regierung eine Lizenz gegeben wird, nur zwei Pferde Extrapost nehmen zu dürfen. Wer nicht so wohlhabend ist, sucht einen Retourwagen, solche Reisegelegenheiten werden mehrere Tage vorher angekündigt. Ist zwischen zwei Orten starke Verbindung, so gehen außer der ordinären Post und einer schnelleren Postkutsche auch konzessionierte Landkutschen an bestimmten Tagen. Sie vorzugsweise vermitteln den Personenverkehr des Volkes. Von Dresden nach Berlin im Jahre 1750 alle vierzehn Tage, nach Altenburg, Chemnitz, Freiberg, Zwickau einmal wöchentlich; nach Bautzen und Görlitz war die Zahl der Passagiere nicht so sicher, daß der Kutscher jede Woche an bestimmtem Tag abgehen konnte; nach Meißen gingen das grüne und das rote Marktschiff, jedes einmal wöchentlich hin und zurück. Man reiste auch mit der besten Fuhre sehr langsam. Fünf Meilen den Tag, zwei Stunden die Meile scheint der gewöhnliche Fortschritt gewesen zu sein. Eine Entfernung von zwanzig Meilen war zu Wagen nicht unter drei Tagen zu durchmessen, in der Regel wurden vier dazu gebraucht. Als im Juli des Jahres, welches hier geschildert wird, Klopstock mit Gleim in leichtem Wagen durch vier Pferde gezogen, von Halberstadt nach Magdeburg sechs Meilen in sechs Stunden fuhr, fand er die Schnelligkeit so außerordentlich, daß er sie mit dem Wettlauf der olympischen Spiele verglich. Waren aber die Landstraßen gerade schlecht, was in der Regenzeit des Frühlings und Herbstes regelmäßig eintrat, so vermied man die Reise, betrachtete die unvermeidliche als ein Wagnis, bei dem es ohne schmerzliche Abenteuer selten abging. Im Jahre 1764 war den Hannoveranern merkwürdig, daß ihre Gesandtschaft zur Kaiserkrönung trotz der schlechten Wege ohne allen Schaden, Umwerfen und Beinbruch, nach Frankfurt a. M. durchgedrungen war, nur eine Achse war zerbrochen. – So ist die Reise ein wohl zu überlegendes Unternehmen, welches schwerlich ohne längere Vorbereitungen durchgeführt wird; und das Eintreffen fremder Reisender in einer Stadt ist ein Tagesereignis; neugierig umsteht die Menge den anhaltenden Wagen. Nur in den größeren Handelsstädten sind die Gasthöfe modisch eingerichtet, Leipzig ist deswegen berühmt. Gern kehrte man bei Bekannten ein, in steter Rücksicht auf die Kosten, denn auch wer reiste, der rechnete genau. Aber wer irgend Ansprüche machte, scheute eine Fußreise, die Unsicherheit, unsaubere Herbergen und rohe Begegnung; noch waren wohlgekleidete Fußreisende, welche die Landschaft bewunderten, ganz unerhört.

Der Reisende wurde nicht nur durch die lebhafte Teilnahme seiner Freunde begleitet, er wurde auch für ihre Geschäfte in Anspruch genommen, wie denn überall unter Bekannten das Hingeben und Zumuten weit unbefangener war als jetzt. Er wurde reichlich mit warmen Kleidern, Empfehlungsbriefen, kalter Küche und klugen Regeln ausgestattet, aber er wurde dafür mit »Kommissionen« belastet, mit Einkäufen jeder Art, auch zarteren Angelegenheiten: Eintreiben von Schuldforderungen, Anwerben eines Hauslehrers, ja Kundschaften und Vermitteln in Herzenssachen. Wer vollends zu einer großen Messe reiste, der mochte für besondere Koffer und Kisten sorgen, um die Wünsche seiner Bekannten zu befriedigen. Zu dergleichen Dienst und Gegendienst zwang die Not; denn Geld- und Paketsendungen durch die Post waren sehr teuer, und nicht überall wurde das Institut für zuverlässig gehalten. Zwischen Nachbarstädten war deshalb ein regelmäßiger Botendienst eingerichtet, wie er z. B. in Thüringen bis zur Gegenwart bestanden hat; solche Boten – nicht selten Frauen – trugen durch Schnee und Sonnenglut die Briefe und Aufträge an bestimmten Tagen hin und zurück, sie besorgten jede Art von Einkäufen, genossen als zuverlässige Leute sogar das Vertrauen der Behörde, welche ihnen Amtsbriefe und Akten übergab, und hatten am Zielpunkt ihrer Reise einen festen Stand, wo wieder Briefe und Rücksendungen an ihren Heimatort abgegeben wurden. War der Verkehr zweier Orte sehr lebhaft, so ging wohl ein »Kästelwagen« hin und her, mit Schubfächern, zu denen je zwei verbündete Familien in den beiden Orten die Schlüssel hatten.

Knapp und enge war der Haushalt des Städters, nur wenige waren so wohlhabend, daß sie die Einrichtung des Hauses und ihres Lebens mit einigem Glanz umgeben konnten; die Reichen waren in Gefahr, einem ungeschickten Luxus zu verfallen, wie er Höfe und anspruchsvolle Familien des Adels verdarb. Auch wer wohlhäbig leben konnte, hatte in der Regel seinen Haushalt sehr einfach eingerichtet und zeigte den Wohlstand nur bei festlichen Gelegenheiten durch Gerät und Bewirtung. Deshalb waren Gastereien durchaus ungemütliche Staatsaktionen, für welche der ganze Haushalt umgekehrt wurde; in nichts unterschied sich der Mann von Welt mehr als in der leichteren Methode seiner Gesellschaft. – Streng war die Ordnung des Bürgerhauses, genau bis aufs kleinste stand fest, was anderen zu leisten und von ihnen zu empfangen war. Die Glückwünsche, die Komplimente, d. h. die höflichen Anreden, sogar die Trinkgelder, alles hatte seine genau bestimmte Größe und vorgeschriebene Form. Durch diese zahllosen kleinen Regeln erhielt der Verkehr eine gewisse unveränderliche Festigkeit, welche sehr gegen die Ungebundenheit der Gegenwart absticht. Es war gebräuchlich, an bestimmten Tagen zur Ader zu lassen, zu purgieren, seine Rechnungen zu bezahlen, in festen Zwischenräumen seine Besuche zu machen. Ebenso fest standen die Freuden des Jahres, das Gebäck, welches jedem Tag ziemte, die gebratene Gans, das Bleigießen, sogar wenn möglich das Schlittenfahren. Unverrückt dauerte die Ordnung des Haushaltes; die massiven Möbel, welche das Brautpaar bei der Einrichtung erkauft hatte, der gepolsterte Lehnstuhl, den sich der Mann vielleicht schon als Student erstanden, der Klapptisch zum Schreiben, die Schränke wurden Gefährten mehrerer Generationen. Aber schon begann unter diesem Netzgeflecht alten Herkommens ein leichterer Sinn die Flügel zu regen, schon rührte die lästige Frage warum? auch an den kleinen Brauch. Und überall gab es einzelne, welche sich mit philosophischem Selbstgefühl gegen die Gewohnheiten setzten, die ihnen nicht in Vernunft begründet erschienen; in mehreren arbeitete ein dunkler Drang nach Freiheit, Selbständigkeit, einem neuen Inhalt des Lebens, der sie von der Menge und der Gesellschaft seitab auf Nebenwege führte, in der Regel zu wunderlichen Originalen machte, mit deren Eigentümlichkeiten die Stadt sich unaufhörlich beschäftigte.

Die Räume des Hauses waren im ganzen schmucklos, die Fußböden von gehobelten Brettern hatte keine andere Zier, als die Reinheit der hellen Holzfarbe, welche durch unaufhörliches Waschen erhalten wurde, aber die Wohnung wenigstens allwöchentlich einmal durchaus feucht und unbehaglich machte. Treppe und Hausflur wurden häufig mit weißem Sand bestreut. In den Zimmern schätzte man eine dauerhafte und gefällige Einrichtung, die Möbel, unter denen die Kommode eine neue Erfindung war, wurden sorgfältig gearbeitet und schön ausgelegt. An den Wänden war Malerei ungewöhnlich, doch war die gefärbte Kalkwand in größeren Städten gering geachtet, die Papiertapete beliebt. Die Wohlhabenden hielten aufgepreßten Ledertapeten, welche den Zimmern ein besonders behagliches Aussehen gaben; auch als Möbelüberzug war das Leder geschätzt. Die Freude der Hausfrau war kupfernes und zinnernes Gerät. Es wurde damit »Staat« gemacht, das neue vielbedeutende Wort hatte sich auch in die Küche gedrängt. In Nürnberg z. B. gab es in den wohlhabenden Familien Prunkküchen, welche sich kleineren Gesellschaften bei Morgenkollationen – wo kalte Speisen aufgesetzt wurden – zu öffnen pflegten. In solcher Küche blitzte es ringsum von spiegelhellem Zinn und Kupfer, sogar das Brennholz, welches in großen Haufen regelmäßig aufgeschichtet dalag, war mit blankem Zinn beschlagen, alles nur zur Schau, eine Spielerei, wie jetzt die Kochstuben kleiner Mädchen. Aber bereits wurde neben dem Zinn das Porzellan aufgestellt, vornehmlich in dem eleganten Sachsen fehlte einer wohlhabenden Hausfrau selten der offene Porzellantisch mit Tassen, Krügen und Nippesfiguren. Und der modische Liebling der Frauen, der Mops, vermochte durch eine mürrische Bewegung ein Geklirr hervorzubringen, welches dem Hausfrieden gefährlich war. Gerade damals stand das wunderliche Tier auf der Höhe seines Ansehens; es war in die Welt gekommen, niemand wußte woher, und ist ebenso unvermerkt wieder von uns geschieden. Aber außer an Zinn und Porzellan hing das Herz der Hausfrau gerade damals an feiner Webearbeit. Die Linnendamaste wurden sehr schön gefertigt mit künstlichen Mustern, die wir noch jetzt bewundern; solchen Damast zu Gedecken zu besitzen, war besondere Freude, auch auf feine Leibwäsche wurde großer Wert gelegt; das Manschettenhemd, welches Gellert von der Lucius zum Geschenk erhalten hat, wird in seiner Beschreibung einer Audienz nicht vergessen.

Die Kleidung, in welcher man sich vor andern zeigte, galt auch dem ernsten Mann als eine Standesangelegenheit; durch die Frommen war der Bürger an dunkle oder matte Farbe gewöhnt worden, aber der feine Stoff, die Knöpfe, die bescheidene Stickerei, die Wäsche verrieten nicht minder als Perücke und Degen den Mann von Erziehung. Das war jedoch die Tracht vor Menschen, sie mußte eigens angelegt werden, wenn man ausging, und da sie unbequem war und die Perücke schwer ohne Hilfe anderer aufzusetzen und zu pudern war, so wurde schon dadurch ein Gegensatz zwischen Häuslichkeit und Gesellschaft hervorgebracht, der den Verkehr des Tages in bestimmte Stunden bannte, ihn förmlich und weitläufig machte. Zu Hause wurde ein Schlafrock getragen, in welchem der Gelehrte Besuche annahm, die »gute« Kleidung aber sorgfältig geschont. Viele Bedürfnisse freilich, welche uns sehr geläufig sind, waren ganz unbekannt, manche Bequemlichkeit wurde lange entbehrt. Im Jahre 1745 bittet ein österreichischer Unteroffizier einen gefangenen Offizier, dem er die Uhr abgenommen hat, die Uhr auch aufzuziehen; er hat noch keine in Händen gehabt. Der würdige Semler erwarb erst, als er bereits Professor war, durch Beihilfe eines Buchhändlers eine silberne Taschenuhr; er klagt um 1780, daß damals schon jeder Magister, ja jeder Student eine solche Uhr haben müsse; jetzt erhält in Familien von ähnlicher Lage der Quartaner eine silberne, der Student eine goldene.

Eigene Kutschen und Pferde hielten außer dem begüterten Adel, der sich nach der Stadt gezogen, nur die höchsten Staatsbeamten, und in großen Handelsstädten – seltner als fünfzig Jahre früher – die reichsten Kaufleute. Aber auch den Gelehrten wurde damals oft durch die Ärzte geraten, sich den Gefahren eines Reitpferdes nicht zu entziehen, bedeckte Reitbahnen und Mietpferde wurden häufiger als jetzt von den Professoren in Anspruch genommen. Freilich gelang es nicht jedem so, wie dem kranken Gellert, dem als zweites Geschenk nach dem Tode seines berühmten Schecken ein kurfürstliches Pferd mit Samtsattel und goldbesetzter Schabracke in den Hof geführt wurde, das der liebe Herr in seiner Weise bewegt, aber mit dem größten Mißtrauen gegen die Sanftmut des Rosses annahm und allen seinen Bekannten anzuzeigen nicht müde wurde, während sein Stallknecht das Wundertier den Leipzigern um Geld vorwies. Da die Kleidung so empfindlich gegen Nässe machte, war ein Transportmittel sehr in Aufnahme gekommen, das seitdem fast geschwunden ist: die Portechaisen. Sie wurden fast so häufig gebraucht wie jetzt die Droschken; die Träger, durch eine Art Livree kenntlich, hatten ihre bestimmten Stationen und fanden sich ein, wo Adel und Publikum zahlreich erschienen: bei großen Tänzen, am Sonntag vor den Kirchtüren, am Theater.

Streng war die Zucht des Hauses. Am Morgen war auch in den Familien, welche nicht der Pietät anhingen, kurze Hausandacht mit den Kindern und gewöhnlich mit den Dienstleuten: Gesang eines Verses, eine Ermahnung oder Gebet, zuletzt wieder ein Liedvers. Früh wurde aufgestanden, bei guter Zeit wieder das Lager gesucht. Auch der Umgang im Hause war förmlich; von Kindern und Dienstboten wurde äußere Ehrerbietung in devoten Formen gefordert, die Gatten der Honoratioren redeten einander in der Regel mit Sie an.

Was sich einer Familie anschloß, gute Freunde, entferntere Bekannte, das erhielt in dem einfachen, oft ärmlichen Leben große Wichtigkeit. Durch die Hausfreunde wurde Beförderung, Fürsprache und Begünstigung gesucht und erwartet. Protegieren und Parteinehmen war eine Pflicht. Deshalb galten vornehme und einflußreiche Bekanntschaften für ein ausgezeichnetes Glück, um das man zu werben hatte; jede Aufmerksamkeit, Gratulation an Geburtstagen, das Karmen bei Familienfesten durften nicht unterlassen werden. Durch solche Gunst einzelner suchte man sein Fortkommen in der fremden Welt. Die Devotion gegen Höhere war groß, einem Gönner die Hand zu küssen war guter Ton. Als Graf Schwerin am 11. August 1741 zu Breslau im Fürstensaal die Eidesleistung abnahm, wollte der protestantische Kircheninspektor Burg bei dem Handschlag, den er zu geben hatte, dem preußischen Feldmarschall die Hand küssen. Nicht diese Ergebenheit ihres ersten Geistlichen war den Breslauern auffällig, sondern daß ein Feldmarschall den bürgerlichen Theologen umarmte und küßte.

Zumal die Gevatterschaft begründete unter den Bürgern ein näheres Verhältnis; der Taufpate war verpflichtet, später um das Fortkommen des Täuflings zu sorgen, und dies Pietätsverhältnis bestand bis an sein Lebensende. Gern wurde ihm, wenn er vielvermögend war, von den Eltern eine entscheidende Stimme über die Zukunft des Kindes eingeräumt, es wurde aber auch erwartet, daß er sein Wohlwollen durch seinen letzten Willen an den Tag legte.

Ein solches Leben des Stadtbürgers in mäßigen Verhältnissen entwickelte einiges Besondere in Charakter und Bildung. Zunächst ein weiches und gefühlvolles Wesen, das man um 1750 zärtlich und empfindsam nannte. Die Anlage zu dieser Weichheit hatte der große Krieg und seine politischen Folgen in die Seelen gelegt, die Pietät hatte diese Anlage auffällig entwickelt. Eine gewisse Übung, sich und andere aufzuregen und zu steigern, besaß fast jeder. Das Familiengebet war im letzten Jahrhundert lange gedankenlos hergesagt worden, jetzt wurden die erbaulichen Betrachtungen und Nutzanwendungen, welche der Hausvater machte, Veranlassung zu dramatischen Szenen in der Familie. Zumal das laute Gebet aus dem Stegreif gewöhnte die Familienmitglieder hell auszusprechen, was ihnen gerade auf dem Herzen lag. Häufig waren Gelübde und Versprechungen, feierliche Ermahnungen und gerührte Versöhnungen zwischen Gatten, Eltern und Kindern; Gefühlsszenen wurden ebensosehr gesucht und genossen, als sie jetzt vermieden werden. Sogar in der Schule kam die leichte Erregbarkeit des Geschlechtes zutage. Wenn ein ehrlicher Lehrer Kummer hatte, ließ er Verse, die sich auf seine Stimmung bezogen, durch die Schüler absingen; es wurde ihm nicht schwer, dabei traurig zu werden, und es war ihm angenehme Empfindung, wenn die Knaben ihn errieten und durch Andacht ihre Teilnahme bezeigten. Ebenso liebte der Prediger auf der Kanzel, die Gemeinde zum Vertrauten der eigenen Kämpfe zu machen, und seine Selbstbekenntnisse, Schmerz und Freude, Reue und innere Zufriedenheit wurden mit Achtung angehört und durch Gebete geweiht. Wenn noch heute einzelne ihrer Umgebung das Behagen verringern, weil sie Kleinigkeiten mit einem Aufwand von Empfindung behandeln, und eine Verstimmung oder einen hervorbrechenden Gegensatz der Naturen weichlich und pathetisch zur Aussprache bringen, so darf man solche Persönlichkeiten als verspätete Blüten älterer deutscher Art betrachten. Wie denn einem wohlwollenden Beobachter oft der Eindruck kommt, daß die Gemütsanlagen und charakteristischen Züge der Menschen, welche sich mit uns zugleich tummeln, bisweilen aus sehr entlegenen Zeiten unserer Vergangenheit stammen, und daß das Leben der Gegenwart zu gleicher Zeit ein historischer Bildersaal ist, in welchem Bildungen und Charakterformen aus den verschiedensten Jahrhunderten unseres Volkslebens nebeneinander wirken. Vorzugsweise auf Rührung und wieder auf erhebende Empfindungen ging um 1750 die Sehnsucht des lebenden Geschlechts. Schnell wurde ein Gefühl, eine Handlung, ein Mann als groß gepriesen, glänzende Prädikate wurden bereitwillig gehäuft, einen Freund zu charakterisieren. Und wieder das eigene Leid und das Unglück anderer werden mit einem gewissen düstern Behagen genossen. Leicht wird geweint, über das eigene und über das Leid anderer, aber auch aus Freude, aus Dankbarkeit, aus Andacht, aus Bewunderung. Nicht durch fremde Literatur, nicht durch Gellert oder die literarischen Verehrer Klopstocks ist diese Weichheit den Deutschen eingepflanzt worden, sie lag tief im Volk selbst. Als der junge Magister Semler 1749 von der Universität Halle schied, war er sehr traurig; er hatte in der Stille eine Tochter seines teuren Lehrers, des Professors Baumgarten, verehrt – allerdings hatte er in seiner Heimat Saalfeld noch eine andere Jugendliebe. Diese Trauer regte ihn in den letzten Tagen außerordentlich auf und machte ihm schwer, seine Magisterpromotion durchzumachen. Doch gelang dies, und nach der Promotion hielt er seinem Vorbild Baumgarten – der als Präses auf dem oberen Katheder stand – aus dem Stegreif eine so feurige lateinische Dankrede, daß nicht nur er selbst, auch mehrere Zuhörer weinten; zu Hause aber setzte sich Semler hin und weinte wieder über sein Schicksal, und sein treuer Stubenbursch weinte mit ihm fast den ganzen Nachmittag. Daß der Scheidende beim Abschied Tränen vergoß, war natürlich, aber er weinte noch, als er auf der Reise in Merseburg ankam – was damals ziemlich lange währte – und da er in der Heimat seinem Vater den lobenden Brief Baumgartens übergab, weinte dieser vor Freude ebenfalls.

In diesem Fall ist die Rührung aufrichtig, und die Tränen sind wirklich geflossen. Aber es konnte nicht fehlen, daß die Gewöhnung, den Blick in sich selbst zu kehren und die inneren Regungen zu belauschen, zur Schauspielerei, und die Bewunderung edler Affekte zur Affektion verführte.

Das stellte sich nicht zuletzt in der deutschen Sprache dar. Noch war der Ausdruck für große Kreise der Empfindungen ungelenk. Die Schriftsprache hatte die Herrschaft über die Seelen gewonnen, in ihre Formen und Perioden mußte sich jede höhere Empfindung des Menschen fügen; aber gerade erst jetzt hatte diese Sprache einige Gewandtheit gewonnen, die methodische ruhige Arbeit des reflektierenden Geistes klar und einfach auszudrücken. Wo ein leidenschaftliches Gefühl in Worte ausbrechen wollte, wurde es durch die abgenützten Bilder der alten Rhetorik gebunden und rauschte in den dürren Blättern alter Phrasen dahin. Die Pietisten hatten für ihre Stimmungen eine eigene Sprache erfinden müssen, die Ausdrücke derselben waren schnell zur Manier geworden. Jetzt ging es ebenso mit den neuen Wendungen, durch welche einzelne stärker Begabte die Sprache des Gefühls zu bereichern suchten. Hatte ein Dichter die sanften Schauer eines freundschaftlichen Kusses gefühlt, so sprachen Hunderte das nach, in herzlicher Freude über den schwungvollen Ausdruck. Ebenso wurden die Tränen der Wehmut und des Dankes, die Süßigkeiten der Freundschaft sofort stehende Phrasen, bei denen man zuletzt wenig dachte.

Und diese Armut war allgemein. Fast überall, wo wir den einfachen Ausdruck eines innigen Gefühls erwarten, stößt uns ein Aufwand von Reflexion ab. In Briefen, Reden, Gedichten. Unerträglich wird uns diese Besonderheit der alten Zeit, wir mögen sie leicht Heuchelei, innere Kälte, Unwahrheit schelten. Unsere Ahnen haben doch eine zureichende Entschuldigung. Sie konnten nicht anders. Noch ist in ihren Seelen etwas von der epischen Gebundenheit des Mittelalters. Die Sehnsucht nach einem Strom großer Leidenschaft, nach Begeisterung, nach melodischen Tönen des Gefühls ist überall vorhanden, ja sie ist bis ins Krankhafte gesteigert, überall ist Drang, Großes in sich herauszubilden, erkennbar, überall das Suchen und Sehnen; aber der Empfindung fehlt die Kraft, dem vermehrten Wissen die entsprechende freie Bildung des Charakters. Auch den Dichtern, die doch nach dieser Richtung stets die Führer ihres Volkes gewesen sind. Selbst bei der liebenswürdigsten Gestalt aus jener Dämmerzeit, bei Ewald von Kleist, ist das lyrische Ringen sehr merkwürdig. Schon sind seine Schilderungen reich an schönem Detail, eine Fülle von poetischen Anschauungen sammelt sich zwanglos um den Mittelpunkt seines Gedichtes, der fast immer in einer ehrlichen herzlichen Empfindung ruht. Aber bei allem Häufen poetischer Anschauungen vermag er nicht eine gehobene poetische Stimmung hervorzubringen, noch weniger den vollen Akkord eines schönen Gefühls in dem Hörer erklingen zu machen. Es klang in ihm selbst nicht stark genug, und in keinem seiner älteren Zeitgenossen, die alle Schönheit und innern Adel so ängstlich suchten und sich so oft rühmten gefunden zu haben.

Aber die Selbstbeobachtung der Gebildeten erstreckte sich nicht nur auf das innere Gemütsleben, es war ebensosehr ein Belauern der eigenen äußern Erscheinung und des Eindrucks, welches man auf andere machte. Nach dieser Richtung erscheint es uns oft noch unheimlicher raffiniert. Schon die knappe Kleidung und der Puder, das Bewußtsein in ungewöhnlichem »Staat« zu sein, versetzten den Menschen vor andern in eine Aufregung und vorsichtige Munterkeit, welche leicht zur Ziererei wurde. Auch die stereotypen Formen des gesellschaftlichen Verkehrs, welche so künstlich waren, und die rhetorischen Komplimente machten das Auftreten zu einer Aktion, die Deutschen von 1750 zu Schauspielern, die sich lächerlich machten, wenn sie nicht geschickt spielten. Wer einem Gönner gegenübertrat, hatte wohl zu bedenken, daß sein Schritt nicht zu schnell, nicht zu dreist und nicht zu scheu war, daß er seine Stimme richtig dämpfte, den Hut so im linken Arm hielt, daß der Arm den passenden Winkel bildete; er hatte sich vorher zu präparieren, daß die begrüßende Anrede nicht zu lang und nicht zu platt und gerade ehrerbietig genug wurde, um Wohlwollen zu erwecken, er hatte sehr auf den Fall seiner Stimme zu achten, damit das vorher Überlegte einen gewissen Eindruck der Naturwahrheit machte. Wer einer Frau oder einem vornehmen Mann die Hand küßte, der bemühte sich, auch in diesem Akt genau seine Stimmung und ein wohltemperiertes Gefühl auszudrücken, wie er sein Antlitz mit der Hand in Verbindung brachte, ob er als Zeichen vertraulicher Verehrung nicht nur den Mund, auch die Augen und die Stirn daran zu legen hatte, wie lange er die Hand halten, wie langsam er sie freigeben durfte, das alles war sehr wichtig, womöglich vorher überlegt; ein begangenes Ungeschick machte später dem Schuldigen wahrscheinlich großen Kummer. Wer vollends sich einem größeren Publikum darstellen mußte, der überdachte ernsthaft die Position und Haltung, durch die er wirken konnte. Wie betrübt auch der junge Semler war, als er bei der Magisterpromotion auf dem Katheder stand, er vergaß doch nicht »eine seltene, aber nicht anstößige Stellung zu nehmen«, in welcher er seinen Opponenten die Antworten so geschwind gab, daß er kaum das Ende ihrer Rede abwartete, und er vergaß auch nicht zu erwähnen, wie gleichgültig ihn die »weiche Bewegung seines Gemüts« gegen alle möglichen Einwürfe der Gegner gemacht habe. Vollends den Frauen waren nicht nur die Bewegungen des Fächers, auch das Auf- und Niederschlagen der Augen und das Lächeln wohleinstudierte Handlungen; daß sie es ungezwungen mit Anstand und Takt vollbrachten, wurde verlangt. Allerdings war es auch damals nicht das Einstudierte, welches liebenswürdig machte, sondern die in solchen Formen hervorbrechende gute Natur. Und auch diese Richtung war nicht eine französische Mode, welche durch die Zucht der Tanzmeister in das deutsche Leben kam, sondern eine innere Notwendigkeit, welche bei allen Kulturvölkern Europas zu gleicher Zeit hervorbrach, sich bei jedem nach den Eigentümlichkeiten seiner Natur modifizierte; auch hier war der letzte Grund das Bedürfnis, innere Armut durch äußern Schmuck zu verbessern.

Allerdings wurde solcher Zwang der Konvenienz bei den Deutschen oft durch einen Zug von Geradheit und Derbheit unterbrochen. Aber die sichere und stolze Selbstachtung, welche wir von einem gebildeten und guten Mann fordern, war damals in Deutschland selten. Fester Wille war allerdings zu finden, beim Lernen und im Entbehren, bei der Arbeit und dem Üben einer schweren Pflicht; dort kam er sogar mit überraschender Energie zutage. Aber dieser Tüchtigkeit fehlten zu sehr einige mannhafte Beigaben. Seit hundert Jahren bestand jetzt der Druck des despotischen Staates, er hatte den Bürger scheu, schwerfällig, oft furchtsam gemacht. Dieselbe Stimmung hatte der Pietismus gefördert. Ein fortwährendes Beschauen der eigenen Unwürdigkeit verminderte vielen fein Organisierten die Fähigkeit, sich recht herzlich zu freuen, dem eigenen Wesen offenen und sichern Ausdruck zu geben. Wer vollends Gelehrter wurde in der herben Zucht, der übermäßigen Anstrengung des Gedächtnisses und den vielen Nachtwachen, in tabakdurchräucherter enger Wohnung, dem wurde nur zu häufig ein Siechtum in den Körper gepflanzt. Aus vielen Beispielen dürfen wir schließen, wie oft damals Schwindsucht und Hypochondrie das Leben junger Gelehrter zerstörten. Und gewöhnliche Bilder aus den Bürgerhäusern jener Zeit sind weiche, reizbare, empfindliche Naturen, unbehilflich und ratlos dem Ungewohnten gegenüber. Bei den meisten wechselt übergroße Vorsicht mit leidenschaftlicher Unbesonnenheit. Aber das war nicht das Schlimmste. Nicht nur der Wille, auch die Sicherheit der Überzeugung und das Pflichtgefühl wurden zu leicht durch Einwirkung von außen zerstört. Geld und äußere Ehren übten auch auf den Redlichen übergroße Gewalt. Gellert, der für seine Zeitgenossen ein Musterbild von Zartgefühl und Uneigennützigkeit war, fühlte sich als Professor von Leipzig aufs freudigste überrascht, als ein fremder Edelmann aus Schlesien, den er gar nicht persönlich kannte, mit dem er erst wenige Briefe gewechselt hatte, seiner Mutter eine jährliche Pension von zwölf Dukaten anbot. In seiner Antwort fehlte die Versicherung der Dankesträne nicht. Er fand niemals Bedenken, Geldsummen, welche ihm von Unbekannten zugesandt wurden, anzunehmen. Und man darf behaupten, daß um 1750 in ganz Deutschland unter den Besten kaum ein Mann war, der anonyme Geschenke abgelehnt hätte.

Als Friedrich Wilhelm I. den Professoren seiner Universität Frankfurt zumutete, öffentlich gegen seinen Vorleser Morgenstern, der in groteskem Aufzug mit einem Fuchsschwanz an der Seite auf dem Katheder stand, zu disputieren, da wagte keiner der tyrannischen Laune zu widersprechen als Johann Jakob Moser, der sich den Brandenburgern gegenüber als Fremder fühlte und das Bewußtsein bewahrte, am kaiserlichen Hof wohlangesehen zu sein. Und auch diesen regte die Begebenheit so auf, daß er in eine gefährliche Krankheit verfiel. Wo das Selbstvertrauen so sehr fehlt, wie vor hundert Jahren dem aufstrebenden Mann, da wuchert die Eitelkeit. Sie umzieht die meisten Seelen jener Zeit so sehr, daß uns nur wenige einen behaglichen Eindruck hinterlassen. Gottsched und Gellert, Gleim und Klopstock, Moser und Pütter, Dichter, Gelehrte und Beamte leiden darunter. Und doch war diese Schwäche, um gerecht zu sein, sehr zu entschuldigen, und es war kein Wunder, daß nur die Stärksten darüber hinauskamen. Man war weich und empfindlich, es gehörte zum Anstand, Artigkeiten zu sagen, die Rücksicht auf Wahrheit war geringer als jetzt, der Zwang der Höflichkeit größer. Wer durch geistige Arbeit auf andere wirkte, wer sich durch eigene Kraft in seinem Kreise zur Geltung durchgerungen hatte, der war gewöhnt, viel Lob und Ehre zu empfangen und kam in die Gefahr, das Gewohnte lebhaft zu vermissen, wo es einmal ausblieb. Wer keinen Rang und Titel, keinen Dienst im Staat erworben hatte, nicht das Privilegium einer bevorzugten Stellung genoß, der wurde rücksichtslos gedrückt, gestoßen, zertreten. Nicht das Verdienst, sondern die Anerkennung durch Einflußreiche gaben Geltung, nicht die Gelehrsamkeit allein vermittelte Verleger und Leser; eine Stellung an einer Universität, ein großer Kreis von Zuhörern, welche die Werke des Lehrers kauften und verbreiteten, gehörte dazu. Und jedes Amt wurde durch Belieben der Mächtigen erteilt und genommen, überall Willkür, stärkere Gewalt; auch der größte Ruf stützte sich viel mehr auf die Kreise persönlicher Verehrer als auf die sichere Würdigung des Verdienstes durch das gesamte Volk; so erhielt jede einzelne Äußerung von Lob und Tadel eine Wichtigkeit, die wir kaum noch begreifen. Sorglich war daher jeder bemüht, andere zu verbinden, von Fremden anerkannt zu werden. Noch fehlte dem deutschen Leben eine gebildete Tagespresse, den vielen einzelnen völlig die Zucht und Bändigung, welche durch eine starke öffentliche Meinung hervorgebracht wird.

Nichts ist so schwer, als über die Moralität in den Familien einer weit abliegenden Zeit zu urteilen. Denn es genügt nicht, die Summe auffallender Verstöße zu schätzen, was an sich schon mißlich ist, es kommt darauf an, das individuelle Unrecht der einzelnen Fälle zu begreifen, was oft ganz unmöglich ist. Nur weniges von unseren Sitten Abweichendes ist leicht erkennbar. Der Verkehr beider Geschlechter verlief beim Bürger fast nur in den Familien; größere Gesellschaften am dritten Ort waren selten. In befreundeten Häusern aber war das Treiben der Jugend fröhlich und zwanglos, die Freundinnen der Schwester und die Kameraden des Bruders wurden Hausgenossen. Es war alte Sitte, ihnen im Scherz Vertraulichkeiten zu gestatten, die jetzt anstößig sein würden. Umhalsen und Küssen wurde nicht nur beim Pfänderspiel geduldet. Solche Gewöhnung, wie harmlos und unschuldig sie auch oft die Jungfrau und den Jüngling ließ, brachte doch in das Jugendleben ein Moment von heiterer Sinnlichkeit, die uns da am wenigsten verletzt, wo sie sich in derber Naivität zeigt. Häufig blieb von solchem Verkehr auch ernsten, gebildeten Männern eine feine sinnliche Begehrlichkeit zurück, die man nicht gerade Lüsternheit nennen darf, den Mädchen aber eine gewisse dreiste Unbefangenheit im Verkehr mit Männern. Schnell knüpften sich in den Familien zwischen Unverheirateten zarte Beziehungen, niemand fand etwas Arges darin, sie wurden ebenso schnell wieder gelöst. Diese flüchtigen Verhältnisse voll von Tändelei und Empfindsamkeit flammten selten zu einer großen Leidenschaft auf, ja in der Regel verglomm in ihnen die jugendliche Poesie. Sie führten auch selten bis zu Brautstand und Vermählung. Denn die Ehe war um 1750 noch ebensosehr Geschäft als Herzenssache. Und der unendliche Segen von Liebe und Treue, welcher in ihr gerade damals zutage kam, ruhte in der Regel auf anderem Grund, als in der Glut einer holden Leidenschaft oder tiefinnigem Verhältnis vor der Brautwerbung.


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