Gustav Freytag
Bilder aus der deutschen Vergangenheit
Gustav Freytag

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Ich bin in der berühmten Stadt Osnabrück nach geschlossenem Frieden Anno 1649, den 1. Juli, zur Welt geboren, wohin mein Herr Vater seliger Georg Petersen wegen des Friedensgeschäftes von Lübeck geschickt worden war. – Da ich mit den Jahren zunahm, haben mich meine Eltern zu Lübeck in die lateinische Schule getan. Man hat mich nie zum Studieren treiben dürfen, sondern ich habe alle Stunden wohl in acht genommen und die Lichter versteckt, auf daß ich dabei studieren könnte, wenn andere schliefen; wie ich denn auch unterschiedliche Büchlein abgeschrieben habe, als ich sie gedruckt sobald nicht kriegen konnte. Vornehmlich aber habe ich mich, wie ich's an meiner Mutter sah, auf das Gebet gelegt, nachdem ich von ihr gehört, daß man durchs Gebet alles von Gott erlangen könne; weswegen ich vor dem Studieren allemal Gott angerufen habe, daß er es doch segnen möchte. Und da es mir einst an einem Buch, aber auch an Geld fehlte, dasselbe zu kaufen, so ging ich in die Marienkirche, setzte mich in die langen Stühle, die hinter dem Altar sind, und bat Gott, er möchte mir doch was bescheren, damit ich das verlangte Buch kaufen könnte. Als ich nun meine Knie gebeugt und ausgebetet hatte, lag ein Häufchen Geld auf der Bank, vor welche ich gekniet hatte; das stärkte mich sehr. Als ich aber eine Gewohnheit daraus machen und wieder durchs Gebet etwas erlangen wollte, da hab ich nichts gefunden, nach der weisen Lenkung Gottes, der uns nur dann erhört, wenn wir ohne Nebenabsicht einfältig und kindlich vor ihm erscheinen. Wenn ich aber doch einmal wegen irgend etwas bestraft werden sollte, so habe ich mich zu Gott im Gebet gewandt und manche Strafe abgebeten.

Als ich nun nach Tertia kam, bin ich sehr fleißig gewesen, weshalb der Herr Konrektor mit meinem Exempel die andern beschämte und dabei sagte, daß ich es allen vortun und die Krone erlangen, und, wie er sich ausdrückte, ihnen den Sand in die Augen werfen würde. Das hat die Schüler sehr verdrossen und haben mich deswegen beneidet, in mein Buch eine Krone gemalt und dick mit grobem Sand bestreut, mit der Unterschrift: »Dies ist Petersen seine Krone und der Sand, den er uns in die Augen streuen soll.« Ich fürchtete mich zuletzt sehr, meine Lektion fertig herzusagen, obgleich ich sie wohl gelernt hatte, damit ich nicht von den übrigen Schülern geschlagen würde. Als ich nach Prima versetzt wurde, waren dort köstliche Präzeptores. Ich habe in dieser Zeit viel Karmina drucken lassen, absonderlich auf den Tod meiner herzlieben Frau Mutter, habe auch zwei lateinische Orationes von Lübecks wiedererlangtem Frieden und vom Herkules am Scheideweg gehalten. Anno 1669 reiste ich nach der Universität Gießen. –

Da ich nun in Gießen Magister geworden und bei denen Herren Professoribus beliebt war, auch mit jedermann, soviel an mir lag, aufrichtige Freundschaft hielt, da ward mir der Herr Dr. Spener in Frankfurt von einem sehr rekommandiert, weshalb ich mich resolvierte, nach Frankfurt zu ziehen und ihn zu besuchen, um zu sehen, ob die Tat mit dem großen Lob übereinkäme. Und ich fand viel mehr an ihm, als ich von ihm gehört hatte, ein ganz anderes Leben und Wesen, als ich insgemein gesehen. Zwar hatte ich nach meiner Art Gott gefürchtet und die Heilige Schrift geliebt; aber bei meiner äußerlichen Gelehrsamkeit kam mir diese sehr dunkel vor, so daß ich mich, während ich bei einer Disputation präsidierte, am meisten vor den Stellen der Schrift fürchtete, welche mir etwa einer entgegenwarf. Jetzt ward ich gewahr, was dazu gehört, den Sinn des Geistes in der Schrift recht zu verstehen, und daß an der Wissenschaft nicht viel wäre, die man sich durch bloßen natürlichen Fleiß erworben.

Es war auch damals eine adlige Person, die früher an einem Hof Kammerfräulein gewesen, aber sich nach Frankfurt begeben hatte, um Freundschaft und Umgang des Herrn Dr. Spener zu genießen. Und weil ich gern einmal mit dieser mündlich sprechen wollte, so bat ich den Herrn Dr. Spener, er möchte mir doch durch ein Zettelchen Adresse an sie geben. Das geschah auch, und ich ging zu ihr und überreichte ihr meine neulich gehaltene Disputation, in der Meinung, es würde ihr, die Hebräisch gelernt und auch sonst in der Heiligen Schrift gute Erkenntnis hatte, nicht unangenehm sein. Sie antwortete mir aber, ich hätte den »Gott Petersen« darin geehrt, es würde weit mehr zur wahren Erkenntnis Gottes in Christo erfordert, als solche äußerliche Gelehrtheit, womit man sich insgemein brüste, und wodurch man schwerlich zu der göttlichen Einfalt der himmlischen Dinge gelangen könne. Diese Rede fiel tief in mein Herz, und ich ward gleich überzeugt, daß dem so wäre. Darauf fing ich an, mir ein Büchlein zu machen, worin ich das aufzeichnete, was ich von Frommen über den Weg zur wahren Gottseligkeit hörte, und ich begann zu praktizieren, was ich so gefaßt hatte: denn ohne dies lebendige Tun sollte alles andere vergeblich sein.

Als ich nun darin bekräftigt war, reiste ich nach Gießen zurück, wo man bei mir eine Veränderung gewahr wurde und mich wegen der Pietät höhnte. Ich aber fragte wenig danach.

(Darauf kehrt Petersen in seine Heimat Lübeck zurück, wird dort Professor der Poesie, aber von Jesuiten sehr angefeindet, nimmt 1677 eine Vokation als Prediger nach Hannover an, wird von da 1678 nach Eutin als Hofprediger des Herzogs von Holstein gerufen.)

Ich war aber nicht lange in meiner Hofpredigerstelle zu Eutin gewesen, da begab sich's, daß einem Kammerjunker an fünfhundert Taler aus seiner Kammer gestohlen wurden. Damit er wieder zu seinem Geld käme, ging er zu einem ErbschmiedDer Aberglaube schrieb nicht nur vererbtem Metall besondere Kraft zu, auch vererbtem Wissen, zumal bei Schmieden, Schäfern, Nachrichtern. nach dem Dorf Zernikaw, um dem Dieb das Auge ausschlagen zu lassen; und damit es der Schmied desto eher tun möchte, ließ er ihn durch einen EinspännerBerittener Söldner, welcher keinen reisigen Knaben hatte. Die Einspänner verrichteten im Frieden Dienste der Gendarmen. sagen, daß der Bischof solches haben wollte, was doch nicht der Fall war. Wenn der Schmied solches Werk verrichten will, muß er drei Sonntage nacheinander einen Nagel verfertigen, und am letzten Sonntag diesen Nagel an einen dazu gemachten Kopf einschlagen, worauf dem Dieb, wie sie sagen, das Auge ausfallen muß. Er muß auch um Mitternacht nackend aufstehen und rücklings nach einer Hütte, die er neu im freien Feld aufgebaut hat, hingehen und zu einem neuen großen Blasebalg treten, ihn ziehen und das Feuer damit aufblasen, dazu finden sich zwei große höllische Hunde ein. Als solches am ersten Sonntag in der Nacht geschehen war, kamen die Leute aus dem Dorf Zernikaw zu mir und klagten, wie sie im ganzen Dorf keine Ruhe gehabt vor dem erschrecklichen Geheul, das sie während dem Schmieden gehört hätten, ich sollte es doch dem Herzog kundtun, daß er das böse Werk störte. Ich sprach, das wären große Dinge, die sie sagten, und fragte sie ernstlich, ob es sich auch so verhielte. Sie antworteten, das ganze Dorf könne zeugen, der und der Einspänner hätte den Schmied dazu vermocht. Darauf ging ich zum BischofDer Herzog von Holstein ist Bischof von Lübeck. Der Hofprediger nennt ihn je nach Bedürfnis seinen Herzog und Bischof. Diese Doppelstellung des schwachen Herrn und sein Benehmen sind bezeichnend für die hilflose Lage der protestantischen Kirche., bei welchem gerade der Kammerjäger stand, und sagte, ich hätte wohl etwas im geheimen zu reden. Als ich's nun ihm allein erzählte, entsetzte sich der Bischof, erkundigte sich weiter und erfuhr, daß der Einspänner solches in des Bischofs Namen dem Schmied anbefohlen hätte; da fragte mich mein Herr, was bei der Sache zu tun wäre? Ich antwortete, weil es öffentliche böse Dinge wären, wozu der Name des Bischofs gemißbraucht worden sei, so müßte die Hütte, die dem Teufel zu Ehren aufgebaut wäre, im Namen Gottes zerstört werden. Dies wurde auch applaudiert. Darauf fuhr ich hin, die Knaben aus der Schule und die Edelpagen und viele Edelleute ritten mit hin, das Werk des Teufels zu zerstören. Der Schmied war schon weggelaufen, seine Frau aber kam und bat um den neuen Blasebalg und um das eiserne Gerät. Ich aber sagte, sie sollte sich schämen, solches zu begehren und was der Teufel in seiner Hand gehabt hätte, unter ihren Sachen zu dulden, worauf sie zu bitten aufhörte. Die Edelpagen aber und andere nahmen Feuer und verbrannten die Hütte und den Blasebalg und schmissen das Eisenwerk in ein tiefes Wasser. Es kamen aber einige Kaufleute von Hamburg gefahren, die dies mit ansahen und meine Rede mit anhörten. Es war eben in der Weihnachtszeit; deshalb nahm ich den Spruch: »Siehe eine Hütte Gottes bei den Menschen«, und erklärte ihn in Kürze, sagte aber gleich in der Applikation: »Siehe eine Hütte des Teufels bei den Zernikawern. Dies ist der Ort, wo vormals der Abgott der Holsteiner, Zernebog, geehrt worden ist, der wollte sich jetzt wieder einnisteln, ist aber doch auf Befehl des Bischofs verstört worden.« Ich tat auch bei der Katechismuslehre, wohin der Herzog mit dem Hofstaat hinabzufahren pflegte, eine nachdrückliche Rede und sagte, daß der Dieb bei Hof sein müsse, auch wären einige Mutmaßungen, wer es sein müsse, vorhanden, der Dieb solle mir dieses Geld bringen, ich bezeuge hiermit vor Gott, daß ich ihn nicht verraten wolle. Der Dieb hat auch des Nachts das Gestohlene bei meinem Hause auf den Kirchhof niederlegen wollen, hat aber nicht gekonnt, weil der Kammerjunker seine Leute zur Nacht aufgestellt hatte, den Dieb zu fangen. So hat er selbst das Wiederkriegen verwehrt. Der Bischof aber war auf den Kammerjunker zornig, und dieser mußte vom Hof weichen. Zwar ließ er mir dräuen, ich hätte ihn in der Predigt beschimpft, weil ich sagte: sein Name, den der Schmied bei dem Aktus nennen muß, wäre dem Teufel in der Hölle bekannt, er möchte zusehen, daß er nicht ganz und gar hineinkäme. Ich aber habe nach seinem Dräuen nichts gefragt, sondern mich auf meinen Gott und mein Amt verlassen.

Es suchten aber die Höflinge gegen mich Bande zu machen; sie hielten es fast alle mit dem Hofmarschall, einem Mecklenburger. Der Marschall aber suchte allerhand Dinge gegen die Herzogin und gegen das Kammerfräulein Naundorfin hervor und bildete dem Herzog ein, daß die Herzogin alles täte, was die Naundorfin ihr riete; dadurch kriegte der Herzog einen Widerwillen gegen die Herzogin. Mittlerweile hatten sie im trüben Wasser gut fischen. Weil ich aber nicht von ihren Banden war, so fragte mich der Hofmarschall auf öffentlichem Saal, mit welcher Partei ich's hielte, mit der großen oder mit der kleinen? Unter der großen Partei verstanden sie sich selbst. Ich antwortete, ich hielte es mit Gott und der Gerechtigkeit. Der Marschall sprach, man könnte mir wohl den Mantel kürzer machen. Als ich nun merkte, daß der Widerwillen des Herzogs gegen die Herzogin immer größer ward, ging ich zu dem Herzog und redete ihm beweglich zu, er sollte sich nicht von der Gemahlin so abwendig machen lassen, die solches wollten, suchten ihr eigenes Interesse. Der Herzog ging darauf mit mir zur Herzogin, und sie vertrugen sich in meiner Gegenwart, worauf ich sie gleichsam von neuem kopulierte. Der Bischof sagte, ich solle dies geheimhalten, er aber merkte von da auf die Intrigen des Hofmarschalls und sagte ihm den Dienst auf.

Es war auch eine böse Aktion, da sich ein Edelmann des hochfürstlichen Hofes von Plön mit einem Edelmann von unserm Hof entzweite und sie sich untereinander herausforderten. Sobald ich dies vernahm, ging ich zu meinem Beichtkind und hielt ihm vor, was das für eine unchristliche Sache wäre, sich also zu duellieren, da Christus uns auch geboten, die Feinde zu lieben. Als er mir nun sagte, er wolle zusehen, daß der Handel beigelegt würde, so war ich einigermaßen sicher. Da aber hörte ich des Morgens früh in der Dämmerung einen Haufen Pferde bei meinem Hause vorbeitraben, und mir fiel ein, daß der Teufel doch mit meinem Beichtkind sein Spiel haben wollte. Ich stand auf, erweckte meinen Diener, und weil ich in geschwinder Eil keinen Wagen kriegen konnte, ging ich mit meinem Diener ihnen nach. Als ich eine Meile gegangen war, hörte ich von ferne einige Schüsse, die Losung, daß die beiden Parteien jede von ihrem Ort angekommen seien. Ich aber meinte, daß sie schon Kugeln wechselten, fiel auf meine Knie und bat Gott, er möchte sie doch bewahren, daß keiner den andern ermordete. Darauf lief ich weiter, den Pferdefußstapfen nach, die ich wohl sehen konnte, weil viele der holsteinischen Junker mit meinem Beichtkind gezogen waren. Und da ich sie noch beiderseits vor dem Gefecht antraf, ging ich zu meinem Beichtkind hin und riet ihm von der bösen Aktion ab. Der Gegenpart aber meinte, daß mein Beichtkind mich dazu bestellt hätte, was ich mit teuren Worten verneinte; auch dem andern vom Plönischen Hof redete ich beweglich zu. Sie wollten sich aber nicht vertragen. Da sprach ich: »Nun, weil ihr nicht wollt, so gebe Gott ein solch Exempel, daß er euch beide samt den andern, die mit hierher zu dem Duell gekommen sind, vor aller Welt Augen in seinem Zorn hinnehme.« Doch im Herzen wünschte ich, sie möchten bewahrt bleiben. Da fügte Gott, daß die Sekundanten ihnen beiderseits zuredeten und sie sich untereinander vertrugen und einen Wagen kriegten, der mich wieder nach Hause führen mußte. Wer war froher als ich, der ich dem Teufel einen Braten entzogen hatte. Inzwischen war doch die holsteinische Noblesse in ihrem Herzen gar übel darauf zu sprechen und ließ sich bei meinem Herrn merken, daß er in Zukunft keinen ehrlichen Kavalier an seine Tafel bekommen würde. Auch mein Herr war im Anfang übel auf mich zu sprechen, auch deshalb, weil ich ihnen zu Fuß nachgegangen war. So kam einer von den Hofjunkern, der mir sagte, daß der Herr sich über meine üble Konduite so geärgert hätte, daß er auf dem Bett läge. Ich antwortete, er würde nicht eher vom Lager aufstehen, bis er erkenne, daß ich nichts anderes getan, als was meine Hirtentreue erfordert hätte. Darauf ließ mich mein Herr zu sich fordern, dem ich vorhielt, daß seine Tafel nicht zieren könnten, die sich gegen Christum setzten. Sei ich so wach und treu für einen Bedienten meines Herrn, wieviel mehr würde ich's für meinen Herrn selbst sein. Da ward der Herr, der wahrlich Gott fürchtete, besänftigt. Bald darauf besuchte unsern Hof der Herzog von Plön, dessen Vorwürfe wegen meiner Tat mein Herr gefürchtet hatte; dieser aber lobte mich, dagegen schalt er seinen Hofprediger, der den Duellanten so nahe gewesen, die Sache gewußt und doch keinen Fuß geregt hatte. Das gefiel meinem Herrn sehr wohl, und er ließ darauf ein sehr scharfes Edikt gegen alle Duelle publizieren.

Bisher war ich unverheiratet, wäre wohl auch so geblieben, wenn nicht mein lieber Vater mich zur Heirat angemahnt hätte. Schon in Lübeck war mir eine vornehme Geschlechterin vorgeschlagen worden, die mir in ihrem vollen Schmuck entgegenkam und die mir der Vater gern gewünscht hätte. Aber sie war mir zu prächtig vorgekommen, und ich sagte, daß sich das schwerlich zu einem Geistlichen schicken würde. Wenn ich heiraten solle, wäre mir niemand besser, als das Fräulein von Merlau, die mir in meinem Amt gar nicht hinderlich sein würde. Ich scheute mich aber, sie deswegen anzusprechen, damit sie nicht meinen möchte, ich hätte deshalb in Frankfurt ihre Bekanntschaft gesucht. Aber jemand, der nach Frankfurt reisen wollte, übernahm es, ihr mündlich meine Werbung zu sagen. Meine Liebste aber wollte dem, welcher warb, nicht antworten, schrieb aber an mich, sie sei zwar durch kein Versprechen gehindert, habe aber noch keine Freiheit mir mit Ja zu antworten; sie schlug mir aber eine andere junge Doktorin in Frankfurt vor, die mehr Gaben habe als sie, und die sich für mich wohl schicken würde. Ich aber antwortete, entweder sie oder keine und schrieb zugleich an den Herrn Dr. Spener, er möchte sie doch dazu bereden, schrieb auch an ihren Herrn Vater, der mich kannte, weil ich einmal am Philippseckischen Hof, wo er Hofmeister war, vor seiner Herzogin gepredigt hatte. Er antwortete darauf: obgleich er nie gesinnt gewesen, seine Tochter einem zu geben, der nicht von Adel sei, so wüßte er doch nicht, wie es käme, daß er so beängstigt wäre, wenn er die Sache abschlagen wollte; er glaube deswegen, daß es Gottes Wille sei, wenn seine Tochter dem Superintendenten Petersen anvertraut würde. Deshalb überschriebe er hiermit sein väterliches Ja. Diesen Brief schickte mir meine liebe Johanna zu, und Dr. Spener gratulierte mir auch. Wer war fröhlicher als ich, der ich merkte, daß mein Gebet erhört worden. Denn ich hatte meinen Gott auf den Knien darum gebeten, er möchte die Heirat kräftiglich verhindern, wenn es sein Wille nicht wäre; wäre es aber sein Wille, so möchte er den Vater ängstigen, daß er nicht widerstehen könnte. Als ich nun die Worte in dem Brief des Vaters las, daß er so geängstigt würde, so merkte ich daran, daß es die wäre, die mir Gott von Ewigkeit zugedacht hatte. So reiste ich fröhlich über Hamburg nach Frankfurt und ließ mich durch Herrn Dr. Spener aufbieten und darauf von ihm trauen.

Es ward aber 1685 mir und meiner Liebsten in wunderbarer Weise die heilige Offenbarung aufgeschlossen, welche Gott dem Apostel und Evangelisten Johannes durch seinen Engel in gewissen Visionibus und Bildern bedeuten lassen. Sonst hatte ich mich immer gefürchtet, solches Buch zu lesen, weil es gemeiniglich dafür gehalten wird, es wäre ein versiegeltes Buch, welches niemand verstehen könnte. Aber an gewissem Tage hat mein Gott mich mächtiglich beweget und getrieben, in solchem Buch zu lesen, und ohne mein Wissen hat meine Liebste an gleichem Tag und in gleicher Stunde denselben Trieb durch Gott empfunden und das Buch zu lesen angefangen, die gleichfalls nicht wußte, daß ich solchen Trieb empfangen. Als ich nun auf meine Studierstube hinaufging und mir einiges aufnotierte, da ich aus der Übereinstimmung des Propheten Daniel mit dem dreizehnten Kapitel der heiligen Offenbarung gefunden hatte, was das Tier und das kleine Horn wäre – siehe, da kam meine Liebste zu mir und erzählte mir, wie sie sich so ernsthaft vorgenommen, das heilige Buch zu lesen und was sie darin gefunden. Und das harmonierte mit dem meinigen, das ich ihr aufgeschrieben wies und das noch naß war. Da haben wir uns übereinander entsetzt und haben verabredet, wir wollten nach etwa vier Wochen miteinander konferieren, was wir weiter gefunden und bemerkt hätten. Aber wir konnten es nicht halten, wenn wir etwas Sonderliches und Wahrhaftes fanden, und es ergab sich, daß es immer genau dasselbe war, was sie und was ich fand. Darüber erfreuten wir uns sehr und dankten Gott kindlich, daß er uns beiderseits so mit seinem aufschließenden Geist gewaffnet hatte, die künftigen Fata der Kirche zu erkennen und davon zu zeugen. Lange Zeit behielten wir es bei uns, bis wir mit dem Fräulein Rosamunda Juliana von der Asseburg bekannt wurden, welche in ihren Zeugnissen ebendavon gezeugt hatte, doch nicht nach Erforschung der Heiligen Schrift, sondern aus einer extraordinären Gnade von oben herab. – Hierbei ist noch zu merken, was meiner Liebsten, als sie achtzehn Jahre alt war, begegnete, und was ich mit ihren Worten hierher setze: »Mir träumte, daß ich am Himmel mit großen goldenen Ziffern die Zahl 1685 sah; zu meiner Rechten sah ich einen Menschen, der deutete auf die Zahl und sprach zu mir: Siehe, zu der Zeit werden anfangen große Dinge zu geschehen, und dir soll etwas eröffnet werden.« Nun ist in diesem 1685sten Jahre die große Verfolgung in Frankreich gewesen, und mir ist in demselben Jahre das gesegnete Tausendjährige Reich in der Apokalypse eröffnet worden; mit meinem lieben Mann zugleich in einer Stunde, und ohne daß eines von dem andern wußte, hat unser beider Aufsatz darüber so zusammengestimmt, daß wir uns selbst darüber entsetzten. Wir sind deshalb unter uns göttlich überführt, daß das wahr sei, was wir in der Heiligen Schrift von dem Reich unseres Königs gefunden haben. Und wir haben später unsern Fund einfältig andern mitgeteilt und nichts danach gefragt, wenn ihm von Gelehrten und Ungelehrten widersprochen wurde.

So weit die Erzählung von Petersen. – Die ersten Jahre ihrer Ehe vergingen den Gatten in Frieden. Er hatte einst zufällig den rechten Daumen auf den Spruch gelegt: Sara soll einen Sohn haben; das Jahr darauf ward ihm die Freude, daß Johanna Eleonora einen Sohn zur Welt brachte, der zwar bei der Geburt sehr klein war, aber doch kurz darauf wunderbarerweise den Kopf aus seinem Bettchen in die Höhe hob und auch sonst erfreuliche Anzeichen gab, daß er etwas Ungewöhnliches, dem Herrn Wohlgefälliges werden würde. In der Tat wurde er später Königlich Preußischer Rat und konnte seine lieben Eltern schützen, als das Tausendjährige Reich ihr Leben sorgenvoll machte. Denn leider war ihnen nicht vergönnt, das große Licht, welches ihnen beiden zugleich angezündet worden war, unter dem Scheffel zu halten. Es wäre für ihr irdisches Behagen besser gewesen.

Was das Ehepaar aus der Offenbarung herausgelesen hatte, vermittels Kombination zahlreicher Bibelstellen, bei denen sie durch fleißiges Gebet und Erleuchtung gestützt wurden, war allerdings ein wenig seltsam, aber im Grunde sehr gutmütig. Das Tausendjährige Reich sei nicht bereits dagewesen, sondern stehe noch bevor, es werde mit einer Wiederkehr Christi in nicht ferner Zeit beginnen; bei dieser Gelegenheit werde ein Teil der Toten auferstehen, von da solle in großen tausendjährigen Phasen das ganze Menschengeschlecht, Lebendiges und Totes, zur Seligkeit kommen, die Reformierten und Lutheraner sollten vereinigt, alle Juden und Heiden bekehrt, dann alle, auch die ärgsten armen Sünder aus der Hölle erlöst, zu allerletzt den Teufel selbst aus seinem elenden Zustand herausgebracht und durch Reue und Buße wieder in einen Engel verwandelt werden, dieser alte Bösewicht allerdings erst nach fünfzigtausend Jahren; von da ab sollte unaufhörliche Seligkeit, nur Liebe, Freude und Herzensgute sein. – Sie waren merkwürdigerweise geneigt, anzunehmen, daß die Zeit von 1739–1740 zum Anfang der Herrlichkeit bestimmt sei.

Es war viel Menschenfreundlichkeit in dieser Überzeugung, sie hatte kaum weniger Berechtigung, als manche andere Erklärungen des Schrifttextes, welche in den Kirchen durch Jahrhunderte fortgeschleppt worden sind. Denn bei der Methode, eine Schriftstelle aus der andern zu erklären, welche bis in die neue Zeit von unserer Theologie ertragen werden mußte, war es beinahe zufällig, worauf eine umherspürende Seele verfiel. Seit Luther den alten Zwang der Kirche gesprengt hatte, bis zu der Zeit, in welcher deutsche Gelehrte die Bibel allen Gesetzen der wissenschaftlichen Kritik unterwarfen, war in der Tat nicht das Wort der Schrift, sondern der gemeine gesunde Menschenverstand der letzte Regulator der protestantischen Lehre; nur ein maßvoller Sinn, der sicher und unbefangen die Bedürfnisse seiner Zeit empfand und vorsichtig vermied, auf dunklen Stellen zu verweilen, konnte vor arger Abgeschmacktheit geschützt bleiben. Mann und Frau Petersen besaßen nur ein wenig mehr Eifer und ein wenig mehr behagliche Eitelkeit, als vorteilhaft war. Bald sollten sie darunter leiden.

Im Jahre 1688 nahm Petersen einen Ruf als Superintendent nach Lüneburg an; die Gatten betrachteten es als eine Schickung des Herrn, daß er dorthin gerufen wurde, weil er einmal auf der Durchreise eine schöne Predigt gehalten und sehr gefallen hatte. Aber in Lüneburg fand er mehrere orthodoxe Gegner, welche ihn ärgerten und reizten und einiges von dem Tausendjährigen Reich, was ihm entschlüpft war, aufmutzten. Ferner aber schadete den Gatten die Bekanntschaft des Fräulein Rosamunda von der Asseburg, deren starke Erweckung und nervöse Exaltation großes Aufsehen machte. Das zarte und unschuldige Wesen des Mädchens fesselte die beiden Petersens, sie nahmen die Göttlichkeit ihrer Offenbarungen in Schutz und vertraten sie in der Presse, zumal das liebe Mädchen ganz dasselbe von der bereits erwähnten Wiederkehr des Lammes offenbarte, was ihnen selbst aufgeschlossen war. Die Privaterbauungen, welche sie mit dem kranken Fräulein hielten, erregten bei den Weltgesinnten ihrer Stadt großen Anstoß und wurden bösartig verleumdet. Als Petersen nun vollends einmal auf der Elbe in Wassernot geriet, da erschien er sich wie der Prophet Jonas, der von dem Herrn in einen Walfisch gesteckt wurde, weil er das Geheimnis des Wortes nicht verkündigen wollte; er gelobte in der Todesgefahr, sein großes Geheimnis fortan nicht mehr der Welt zu verhüllen. Und er hielt redlich Wort. Das Tausendjährige Reich und die Wiederkehr des Lammes brachen jetzt unaufhaltsam in seinen Predigten hervor. Die Zuhörer erstaunten, seine Gegner denunzierten, er wurde 1692 vom Amt entfernt. Die Gatten trugen auch dieses Unglück mit Liebe und Gottvertrauen.

Von da verlief ihr Leben in Umherreisen und Schriftstellerei, in Besuchen Gleichgesinnter und unaufhörlichen Händeln mit Orthodoxen. Sie wurden der Menge Berüchtigte Personen, an welche sich Verleumdung und widerwärtiger Klatsch hing, sie beschieden sich, ihre Namen auf Reisen in der Regel geheimzuhalten. Niemals aber fehlte es ihnen an warmen Gönnern und Freunden. In den Fürstenschlössern, den Häusern des Landadels, bei Stadtbehörden und in den Stuben der Handwerker fanden sie Bewunderer. Vor andern wurde der Kammergerichtspräsident Kniphausen in Berlin ihr Schützer, er wirkte noch im Jahre der Absetzung eine Pension des Berliner Hofes aus und räumte ihnen eine Wohnung in Magdeburg ein; auch andere Gönner sandten Geld und gewährten Fürsprache, so daß die Gatten imstande waren, sich im Magdeburgischen ein kleines Landgut zu kaufen. Allerdings wurden sie auch dort durch die Bauern und den Ortspfarrer und durch Beschwerden und Denunziationen in Berlin geärgert, aber die Königin selbst unterhielt sich mit dem Verkünder einer Offenbarung, die so hoffnungsvoll war, und freute sich, daß er zuletzt allen Argen die Seligkeit gönnen wollte. So blieb er ungefährdet. Zuweilen freilich waren die arglosen Verkünder einer bevorstehenden Herrlichkeit in Gefahr, von Wölfen im Lammpelz betrogen zu werden. Denn unter den umherreisenden Frommen waren auch viele Betrüger. Da kamen fechtende Studenten, behaupteten, auch sie wären Pietisten und forderten eine Unterstützung; ein Abenteurer begehrte Unterricht, weil er gehört hatte, daß jeder, der sich bekehren lasse, zehn Taler erhalte. Zuletzt kam gar ein falscher Oberst und schlich sich in Abwesenheit des Mannes unter dem Zeichen des Lammes bei der Frau Doktorin ein, welche wahrscheinlich durch eine unvertilgbare Erinnerung an ihren »weltlichen Adelstand« besonders wohlwollend gegen die distinguierten Gläubigen gestimmt wurde, und der Mann kehrte gerade noch zu rechter Zeit heim, um zu verhindern, daß der fremde Betrüger seiner arglosen Frau eine Vollmacht abschwatzte. Auf einer Reise nach Nürnberg wurden die Gatten in den Pegnitzer Blumenorden aufgenommen, er als Petrophilus, sie als Phöbe. Solche Erfolge trösteten über den Schwall von Flugschriften, der gegen sie aufrauschte. Treuherzig klagte Petersen, daß jeder sich im Kampfe gegen ihn als orthodox erweisen und zum Doktor der Theologie machen wollte; resigniert trug er auch, wenn selbst die Frommen sich an seine Lehre von der Siebenten Posaune stießen oder wenn sie ihm einen Vorwurf daraus machten, daß er bei Gelegenheit einmal den alten Professor der Poesie herauskehrte und in lateinischen Versen, welche ihm wie Wasser flossen, die Krönung Friedrichs I. von Preußen und andere weltliche Ereignisse besang. Die letzten Jahre ihres Lebens wohnten die Gatten in der frommen Gegend von Zerbst zu Thymern, wo sie ein Gut erworben hatten, weil der frühere Besitz zu Nieder-Dodeleben ihnen zu unruhig und die Bauern zu aufsässig geworden waren. Im Jahre 1718 half Petersen noch, den Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz, den der Jesuit Schmeltzer katholisch gemacht, durch siegreiche Disputationen wieder evangelisch herzustellen. Sie starben in hohen Jahren kurz hintereinander: sie 1724, er 1727.

Es war ihnen nicht beschieden, im Jahre 1740 durch den Schall der Siebenten Posaune auferweckt zu werden, man hörte damals vielmehr den Klang preußischer Trompeten, welche die Thronbesteigung und den ersten Krieg Friedrichs II. anzeigten. Aber in der neuen durchaus nicht himmlischen Zeit, welche diese Fanfaren anmeldeten, sind doch bereits einige von den Prophezeiungen der beiden »Enthusiasten« in Erfüllung gegangen, die Union der protestantischen Kirche, Einfügung der Juden in die christliche Bildung, ja sogar die Beseitigung des unmoralischen Widersachers, welcher damals in Zernikaw am neuen Blasebalg so arg geheult hatte. Ludwig Zinzendorf aber widmete der Frau Doktor Petersen bei ihrem Eingang in die Freuden des Himmels ein herzliches Gedicht, in welchem er für sie und sich selbst folgendes Zeugnis ablegte:

Von ihren Meinungen, die sonderlich gewesen,
Hab' ich bis diesen Tag noch keinen Satz gelesen.
Was aber bauet ihr ein Denkmal bei uns auf?
Ihr eingekehrter Mensch in sanft- und stillem Geiste,
Damit sie unverrückt die Jesus-Liebe preiste,
Ihr vor der ganzen Welt untadelhafter Lauf.

Seit Spener nach Berlin versetzt war, wurde die Universität Halle der wissenschaftliche Mittelpunkt des Pietismus, dort leitete der leidenschaftliche Francke mit seinen Gefährten Breithaupt und Anton das theologische Leben. Dort wurde die Jugend systematisch zu dem Glauben der Pietät herangezogen; ungeheuer war der Zulauf, nur Luther hatte zu Wittenberg mehr Studenten um sich gesammelt. Freilich wurden zu Halle sofort die Gefahren der neuen Richtung handgreiflich, die Kollegien erhielten den Charakter von Erbauungsstunden, die Erweckung wurde zur Hauptsache, das emsige, geduldige Arbeiten in menschlicher Wissenschaft erschien fast überflüssig, nicht nur die Streitpunkte der Orthodoxen, auch die Dogmen der Kirche wurden von vielen mit Gleichgültigkeit und Verachtung behandelt. Die massenhaften Gebete und geistlichen Übungen führten zur Überspanntheit, statt der zügellosen Burschen, welche die Hieber an den Steinen gewetzt und ungeheure Gläser Bier florikos oder haustikos – in einem Guß oder in Schlucken – getrunken hatten, schlichen oder hüpften jetzt bleiche Gesellen durch die Straßen der Stadt, in sich gekehrt, mit heftigen Handbewegungen, mit lauten Ausrufen. Alle Gläubigen jubelten über die wundervollen Offenbarungen göttlicher Gnade, die Gegner klagten über die zunehmende Melancholie, über Geistesstörungen und Verrücktheiten der schlimmsten Art. Vergebens warnte der gemäßigte Spener.

Von Halle verbreitete sich der Pietismus über die andern Universitäten, am längsten widerstanden Wittenberg und Rostock, durch Jahrzehnte die letzten Bollwerke der Orthodoxie. Auch an den Höfen gewann der Glaube Einfluß, er drang in die Regierungen und erfüllte nach 1700 die Landeskirchen der meisten deutschen Territorien. Und nicht auf Deutschland blieb seine Herrschaft beschränkt, ein lebhafter Verkehr mit den Frommen in Dänemark, Schweden, dem slawischen Osten trug dazu bei, die innige Verbindung dieser Länder mit dem geistigen Leben Deutschlands zu unterhalten, welche bis zum Ende des Jahrhunderts gedauert hat. Selbst die orthodoxen Gegner wurden, ohne es zu wissen, durch die Pietät umgeformt, das scholastische Gezänk verstummte, mit größerer Würde und besserer Gelehrsamkeit suchten sie ihren Standpunkt zu verteidigen.

Unterdes wurden in dem Glauben der Pietät die Schäden größer, das Verderben auffälliger. Seit jener Prozeß der geistlichen Erweckung ein geheimnisvoller Akt im Menschenleben geworden war, auf den die ganze Seele sich krankhaft spannte, sollte von ihm die Aufnahme in die Gemeinschaft der Frommen, alles Glück der Seligkeit abhängen. Wer durch einen besonderen Gnadenakt Gottes zur Erweckung durchgebrochen war, der lebte als Wiedergeborener im Stande der Gnade, ihm wurde von dem Herrn der Welt die Seele versiegelt gegen alle Sünde, er atmete in einer reineren Gottesluft, der Gnade des Lammes sicher, schon hier von der Sünde gelöst. Da wurde es dem Gebildeten, der jemals in das ironische Antlitz des Thomasius geblickt oder etwas von dem Menschenverstand der nüchternen deutschen Rede Wolffs in sich aufgenommen hatte, immer schwerer, diesen Gemütsprozeß in sich durchzumachen. Nicht allen gewissenhaften Männern glückte es damit so gut wie dem Juristen Johann Jacob Moser; kläglich und erschütternd sind die Nachrichten, welche uns von dem Ringen einzelner überliefert sind, von der Qual und Selbstpeinigung, in welcher sich Körper und Seele fruchtlos aufrieben. Bei den Schwächeren machte sich jede Art von Selbsttäuschung und unfreies Nachsprechen anderer breit. Und nicht weniger die Heuchelei. Bald erschien es sehr zweifelhaft, ob der Wiedergeborene ein Schwärmer oder ein Betrüger sei, zuverlässig war er oft beides zugleich.

Seit der Pietismus die Gunst der Vornehmen und die Herrschaft gewonnen hatte, war er aber auch ein lohnendes Geschäft, eine Modesache, ein Hilfsmittel für sehr weltliche Zwecke. Häufig waren solche, welche die heiligsten Offenbarungen empfingen, zarte, schwächliche Naturen, denen man ernste Dienste, welche zur menschlichen Ordnung gehörten, gar nicht zumuten konnte; sie gewöhnten sich auf Kosten ihrer Gönner zu leben. Der Handwerker drängte sich in die Gesellschaft Vornehmer, um sein Fortkommen zu sichern, und zu den Erbauungsstunden großer Herren, welche am liebsten nicht in den Schloßkirchen, sondern in besonders eingerichteten Gemächern gehalten wurden, eilte bußfertig, wer irgend Protektion begehrte. Seufzen, Stöhnen, die Hände ringen, von Erleuchtung schwatzen wurde bald hier, bald dort die einträglichste Spekulation. An den erweckten Geistlichen, welche die Seele schwacher Landesherren in Händen hatten, wurden alle Fehler, welche herrschsüchtigen Günstlingen eigen sind, bemerkt: Hochmut und niederer Eigennutz. Bald kam auch die Sittlichkeit vieler in üblen Geruch, und wenn irgendwo [...] eine Gesellschaft herrschlustiger Frommer ausgetrieben wurde, so erregte das eine allgemeine Schadenfreude.

Aber es war für die Berater vornehmer Gewissen auch aus anderen Gründen eine angenehme Sache, durch ihre Wiedergeburt und Versiegelung Fürstinnen und Edelfrauen zur Andacht hinzureißen. Es schmeichelte ihrem Stolz, dieselben mit frommer Vertraulichkeit zu behandeln, ihnen jede Stunde des Lebens zu beherrschen. Schon um 1700 wird geklagt, daß wiedergeborene Seelsorger im Schlafrock ohne Rock und Kamisol unter den vornehmen Frauen umhergehen und sehr bereit sind, die Hände zu drücken, zu duzen und zu küssen. Zumal Frauen von Stand wurden durch diese Verbindung mit Frommen zuweilen aus dem Geleise ihres Lebens gerissen: eine Gräfin von Leiningen-Westerburg heiratete um 1700 den Pastor Bierbrauer, vier Gräfinnen von Wittgenstein verbanden sich ebenso, nicht ohne ärgerliche Zwischenfälle mit frommen Separatisten, mit bürgerlichen »Canaillen und Knipperdollings«, wie ihr empörter Bruder sie nannte. In denselben Jahren flohen fünf Fräulein von Kallenberg aus Kassel zu der erweckten Eva von Buttlar, welche früher als Hofdame sehr weltlich gelebt hatte und jetzt in anstößiger Verbindung mit einigen Separatisten durch das Land zog, sich mit zweien ihrer Begleiter als Joseph, Maria und Jesus verehren ließ und in ihren Konventikeln arge Unsittlichkeit großzog; ihre »Rotte« vermochte sich, durch die Obrigkeiten verfolgt, nirgends zu halten.

Immer mehr nahm das Konventikelwesen überhand, neben maßlosen und verschrobenen zogen sich auch feiner organisierte Seelen mit höheren sittlichen Ansprüchen aus der Kirche.

So geschah es, daß sich von allen Seiten die Opposition gegen den Pietismus erhob, Orthodoxe, Weltkinder und Gelehrte, zuletzt der gesunde Menschenverstand des Volkes. [...]

Auch die Zeit half dazu.

Denn dieser frommen Richtung wurde das Jahr 1740 verhängnisvoll. Der neue König von Preußen war den Pietisten ebenso abhold, als sein Vater ihnen geneigt gewesen war. In seinen Landen wurde zuerst mit Bewußtsein und Energie das neue wissenschaftliche Leben der alten Gefühlsseligkeit gegenübergesetzt. Fast gleichzeitig verloren die Frommen an mehreren sächsischen Höfen die Herrschaft; die Zeit der Aufklärung begann, das beste Leben der Nation ging seitdem in andern Bahnen, die Stillen im Land erhielten sich nur als isolierte Gemeinden. – Auch die Brüdergemeinden des Grafen Zinzendorf entwickelten zwar durch längere Zeit eine achtenswerte Missionstätigkeit in fremden Ländern, sie blieben aber ohne Einfluß auf die Strömung des deutschen Lebens, welche jetzt tiefer und kräftiger dahinflutete.

Der Pietismus hatte eine Anzahl einzelner zusammengeschlossen, er hatte die Individuen aus dem Leben der Familien herausgehoben, in den Seelen die Sehnsucht nach einem stärkern Inhalt gesteigert; er hatte neue Formen des Verkehrs eingeführt, hier und da den starken Unterschied der Stände durchbrochen, er hatte in der ganzen Nation größern Ernst, äußerliche Zucht gefördert; aber den nationalen Zusammenhang der Deutschen hatte er nicht gekräftigt. Wer sich ihm eifrig hingab, gerade der war in der größten Gefahr, sich mit Gleichgesinnten aus der großen Strömung des Lebens zurückzuziehen und aus der Einsamkeit wie ein Schiffbrüchiger von seiner Insel auf die große Wasserwüste hinabzusehen, die ihn umgab.

Auch die neue Wissenschaft schuf zunächst nur einzelne Gelehrte; dann eine freie Bildung, darauf das Bewußtsein nationaler Einheit in einem Volk, welches für seine Selbständigkeit zu kämpfen und zu sterben, endlich auch zu leben wagte.


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