Gustav Freytag
Bilder aus der deutschen Vergangenheit
Gustav Freytag

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII
Der Dreißigjährige Krieg

Der Friede

Festmahl der Gesandten zu Nürnberg. – Festfeier in einem thüringischen Dorfe. – Zustand des Landes nach dem Kriege. – Seine Verwüstungen. Versuch einer Schätzung

Der Friede war unterzeichnet, die Gesandten hatten einander zur Bestätigung feierlich die Hand gereicht, auf allen Straßen ritten die Trompeter, das glückliche Ereignis zu verkündigen.

Zu Nürnberg hielten die Kaiserlichen und die Schweden im großen Saale des Rathauses das Friedensbankett. Die hochgewölbte Halle war glänzend erleuchtet, zwischen den Kronleuchtern hingen dreißig Arten Blumen und lebendige Früchte in Goldlahn eingebunden herab; vier Musikchöre waren zu lustigem Spiel aufgestellt, in sechs verschiedenen Zimmern versammelten sich die sechs Klassen der eingeladenen Gäste. Auf den Tafeln standen die beiden ungeheuren Schaugerichte, ein Siegesbogen und ein sechseckiger Berg, bedeckt mit mythologischen und allegorischen Figuren, lateinischen und deutschen Sinnbildern. Aufgetragen wurde in vier Gängen, jeder Gang hundertundfünfzig Speisen, dann kamen die Früchte in silbernen Schüsseln und an »lebendigen« Zwergbäumen, mit denen die ganze Tafel besetzt war, dazwischen brannte feines Rauchwerk, das einen sehr guten Geruch von sich gab. Danach wurde das oberste Blatt der Tafel stückweis abgenommen, der Tisch von neuem mit Tellern und Servietten besetzt und mit kandierten Blumen überstreut, und jetzt folgte das Konfekt, dazu riesige Marzipane auf zwei Silberschalen, von denen jede zehn Pfund schwer war. Und wenn die Gesundheit Seiner Kaiserlichen Majestät zu Wien und Ihrer Königlichen Majestät von Schweden ausgebracht und auf das Gedeihen des geschlossenen Friedens getrunken wurde, mußte auf der Burg aus fünfzehn großen und kleinen Stücken geschossen werden. Zuletzt, als dies Friedensfest bis tief in die Nacht gedauert hatte, wollten die anwesenden Kriegsherrn und Generäle zum Abschied noch einmal Soldaten spielen. Sie ließen sich Ober- und Untergewehr in den Saal bringen, erwählten zu Hauptleuten die beiden Gesandten, Seine Hochfürstliche Durchlaucht den schwedischen Generalissimus Herrn Karl Gustav, Pfalzgrafen bei Rhein, der nachher König von Schweden wurde, und Seine Exzellenz den General Piccolomini, zum Korporal aber den Feldmarschall Wrangel; alle Generäle, Obersten und Oberstleutnants wurden zu Musketieren gemacht. So marschierten die Herren um die Tafel, schossen eine »Salve«, zogen in guter Ordnung auf die Burg und brannten dort vielmals die Stücke los. Bei ihrem Rückmarsch aber wurden sie von dem Herrn Oberst Kraft scherzweis abgedankt und des Dienstes entlassen, weil nunmehr Friede sei. Für die Armen aber wurden zwei Ochsen geschlachtet und vieles Brot ausgeteilt, und aus einem Löwenrachen lief sechs Stunden lang weißer und roter Wein herab. Aus einem größeren Löwenrachen waren dreißig Jahre lang Tränen und Blut geflossen.

Und wie die Herren Gesandten, rüstete das Volk in jeder Stadt, in jedem halbzerstörten Dorf eine Festfeier. Welche Wirkung die Friedensbotschaft auf die Überreste der deutschen Nation machte, ist noch aus rührenden Einzelheiten zu erkennen. Den alten Landleuten erschien der Friede als eine Rückkehr ihrer Jugend, sie sahen die reichen Ernten ihrer Kinderzeit wiederkehren, dichtbevölkerte Dörfer, die lustigen Sonntage unter der umgehauenen Dorflinde, die guten Stunden, die sie mit ihren getöteten und verdorbenen Verwandten und Jugendgenossen verlebt hatten; sie sahen sich selbst glücklicher, männlicher und besser, als sie in fast dreißig Jahren voll Elend und Entwürdigung geworden waren. Die Jugend aber, das harte, kriegerzeugte, verwilderte Geschlecht, empfand das Nahen einer wunderbaren Zeit, die ihm vorkam wie ein Märchen aus fernem Land. Die Zeit, wo auf jedem Ackerstück des Winter- und Sommerfeldes dichte gelbe Ähren im Winde wogen, wo in jedem Stall die Kühe brüllen, in jedem Koben ein rundes Schweinchen liegen sollte, wo sie selbst mit zwei Pferden und lustigem Peitschenknall auf das Feld fahren würden und wo kein feindlicher Soldat die Schwestern oder ihr Mädchen mit rohen Liebkosungen an sich reißen durfte; wo sie nicht mehr mit Heugabeln und verrosteten Musketen dem Nachzügler im Busch auflauern, nicht mehr als Flüchtlinge in unheimlicher Waldesnacht auf den Gräbern der Erschlagenen sitzen würden; wo die Dächer des Dorfes ohne Löcher, die Höfe ohne zerfallene Scheuern sein sollten; wo man den Schrei des Wolfes nicht in jeder Winternacht vor dem Hoftor hören müßte, wo ihre Dorfkirche wieder Glasfenster und schöne Glocken haben würde, wo in dem beschmutzten Chor der Kirche ein neuer Altar mit einer seidenen Decke, einem silbernen Kruzifix und einem vergoldeten Kelch stehen sollte, und wo einst die jungen Burschen wieder Bräute zum Altar führen müßten, die den jungfräulichen Kranz im Haar trügen. Eine leidenschaftliche, schmerzliche Freude zuckte damals durch alle Seelen, auch die wildeste Brut des Krieges, das Soldatenvolk, wurde davon ergriffen. Fühlten doch selbst die harten Regierenden, die Fürsten und ihre Gesandten, daß der große Friedensakt die Rettung Deutschlands vor dem letzten Verderben sei. Feierlich und mit aller Inbrunst, deren das Volk fähig war, wurde das Fest begangen. Aus demselben Kreise von Dorferinnerungen, welchem frühere Beispiele entnommen sind, sei auch die nachfolgende Festbeschreibung dem Bankett der Fürsten und Feldherren entgegengestellt.

Döllstedt, ein stattliches Kirchdorf des Herzogtums Gotha, hatte schwer gelitten. Im Jahre 1636 hatte das Hatzfeldische Korps den Ort überfallen, großen Schaden getan, die Kirche geplündert, das Holzwerk ausgebrochen und verbrannt, wie solches der Herr Pfarrer Deckner kurz vorher prophezeit hatte. »Dieser liebe Mann«, so schrieb sein Nachfolger, Herr Pfarrer Trümper, »hatte seine Zuhörer mit gerechtem Eifer ihrer Sünden wegen gestraft.« Aber seine Strafen und Warnungen hatte man verlacht, ihm allen Verdruß und Undank erwiesen, den Hopfen von den Stangen geschnitten, das Korn von den Feldern entführt, wie er anno 1634 mit weinenden Augen klagte. So hatte er auch nichts anderes als Gottes gerechte Strafe solchen verstockten Herzen ankündigen können. Nicht nur öffentlich von der Kanzel, sondern auch noch wenige Stunden vor seinem seligen Abschied hatte er solche Klage geführt: »Ach, du armes Döllstedt! wie wird dir's nach meinem Abschied übel gehen!« Und darauf hat er sich gegen die Kirche gewendet und sein mattes und mit dem Tode ringendes Haupt über Vermögen mit Hilfe des Wärters aufgerichtet, als wollte er aus der Kammerecke, wo er sein Leben beschlossen, die Kirche noch einmal ansehen, und hat gesagt: »Ach, du liebe, liebe Kirche! wie wird dir's nach meinem Tode gehen! Mit Besen wird man dich zusammenkehren.«

Seine Prophezeiung traf ein: das Dorf hatte im Jahre 1636 an 5500 Gulden Kriegsschaden zu liquidieren, von 1627–1637 zusammen 29 595 Gulden, so daß die Einwohner sich nach und nach verloren und die Stätte fast ganz wüst stand; im Jahre 1636 waren noch zwei Paar Eheleute im Dorf; im Jahre 1641, nachdem Banér und im Winter wieder die Franzosen gewirtschaftet hatten, war ein halber Acker Korn bestellt und vier Einwohner vorhanden. Die eifrige Sorge Herzog Ernst des Frommen von Gotha bewirkte, daß sich in seinem Land die verlassenen Dörfer verhältnismäßig schnell wieder mit Menschen besetzten. Im Jahre 1650 konnte auch in Döllstedt das »Jubel- und Friedensfest« gefeiert werden. Die Beschreibung desselben folgt hier, wie sie der damalige Pfarrer Trümper im Kirchenbuch aufgezeichnet hat.

Den 19. August, morgens vier Uhr, sind wir mit unsern Adjuvanten und den Hausleuten von Gotha auf unsern Turm gestiegen und haben den Morgensegen musiziert. Gegen sechs Uhr ist, wie den vorigen Tag um ein Uhr auch geschehen, mit allen Glocken angefangen worden zu läuten, eine ganze Viertelstunde, halb acht wieder so lange. Unterdes hat sich das Volk, Mann und Weib, jung und alt, außer was beim Geläute bleiben müssen, vor dem Tor versammelt, und ist 1. das Weibervolk auf einer Seite gestanden, und vor demselben der Friede, welchen die adeligen Jungfrauen mit einem schönen grünseidenen Kleid und anderem Zierat ganz schön ausstaffiert hatten, auf dem Haupt einen schönen grünen Kranz mit eingemengten gelben Flittern und einen grünen Zweig in der Hand haltend. 2. Auf der andern Seite gegen das Dorf standen die Mannspersonen, und vor denselben die Gerechtigkeit in einem schönen weißen Hemd, einen grünen Kranz auf dem Kopf, ein bloßes Schwert und gelbe Waage in den Händen tragend. 3. Gegen das Feld auf dieser Seite standen die Junggesellen mit Röhren, etliche mit bloßen Schwertern, und vor denselben der Mars, als ein Soldat gekleidet und eine Armbrust in den Händen tragend. 4. In der Mitte standen die Schüler, Hausleute und Adjuvanten neben mir. Da habe ich eine Erinnerung getan, daß wir oft mit tränenfließenden Augen zu unsern Toren hätten ausfliehen und räumen müssen, und wenn der Sturm vorüber, mit Freuden wieder heimgegangen wären, ungeachtet wir alles verwüstet, zerschlagen und umgekehrt gefunden. Also wären wir billig itzund, dem lieben Gott zu Ehren, vor unser Tor herausgegangen, und weil er uns durch gnädige Verleihung des edlen, lang erwünschten Friedens von dergleichen Verwüstung, Fliehen und Flüchten errettet habe, wollten wir auch jetzt zu demselben Tor hineingehen mit Danken und zu seinen Vorhöfen mit Loben, und wollten dazu unsere Stimmen einmütig erheben und singen: »Allein Gott in der Höh' sei Ehr' usw.« 5. Unter Musizierung dieses Gesätzleins näherten sich der Friede und die Gerechtigkeit einander mehr und mehr. Auf die Worte: »All' Fehd' hat nun ein Ende« steckten die mit bloßen Schwertern dieselben ein, die mit den Büchsen taten einige Salven und kehrten sie darauf auch um. Der Friede winkte denen hierzu Bestellten; die nahmen dem Marti, welcher tat, als wollte er sich wehren, seine Armbrust und zerbrachen sie ihm; Friede und Gerechtigkeit traten zusammen und küßten sich. 6. Darauf wurde der angefangene Gesang fortgesungen, und schickte man sich an zu gehen. Vor den Schülern ging Andreas Ehrhardt nach Vermögen ausgeputzt, einen Stab über der Hand, mit einem grünen Kranz umwunden. Darauf folgten die Schüler alle mit grünen Kränzen auf den Häuptern, grüne Zweige in den Händen, und hatten die Kleinen weiße Hemden an, darauf die Adjuvanten und Spielleute, nach diesen ich, der Pfarrer, neben dem Herrn Pfarrer von Vargula, welcher zu mir gekommen war. Nach uns gingen die Mägdlein, die kleinen vorher, die großen danach, alle nach ihrem Vermögen geschmückt, und grüne Kränze auf ihren Häuptern. Nach diesen ging der Friede und hinter ihnen Knaben, die trugen einen Korb mit Wecken, eine Schüssel mit Äpfeln, welche hernach unter die Kinder ausgeteilt wurden, item allerlei Früchte des Feldes.

Auf diese folgten die adeligen Jungfrauen neben ihren Muhmen, welche sie zu sich gebeten, nach ihnen die Edelleute von Seebach, Sachsen und andere, die zu ihnen gekommen waren. Nach diesen ging die Gerechtigkeit und hinter ihr her die Heimbürger und Gerichtsschöppen, alle weiße Stäbe in den Händen tragend, mit grünen Kränzen umwunden. Hierauf folgte der Fähnrich Christian Heum in seinem besten Schmuck, mit einem Stab, daran er ging, in der Hand, aber mit einem grünen Kranz umwunden. Nach diesen gingen die Mannspersonen zu Paaren mit grünen Sträußen in den Händen. Auf die Mannspersonen folgte der Mars gebunden, und hinter ihm die jungen Burschen mit den umgekehrten Röhren. Darauf folgte der Wachtmeister Herr Dietrich Grün in seinem Schmuck, einen Stab in der Hand wie der Fähnrich; auf ihn folgten die Weibspersonen, alle auch zu Paaren in ihrer Ordnung, alle singend durch das Dorf nach der Kirche. Als der Gesang ausgesungen war, sangen wir: »Nun lob, mein Seel, den Herren.«

In der Kirche wurde es mit Singen und Predigten der fürstlichen Ordnung gemäß gehalten. Nach vollendetem Gottesdienst gingen wir in voriger Ordnung aus der Kirche auf den Platz vor der Schenke, da die Mannspersonen auf einer Seite, die Weibspersonen auf der andern Seite einen halben Zirkul und alsdann einen feinen weiten Kreis schlossen, und wurde unter dem Hingehen gesungen: »Nun freut euch, liebe Christen gemein.« Nach geschlossenem Kreise bedankte ich mich gegen sämtliche, daß sie nicht allein dem Ausschreiben unserer hohen landesfürstlichen Obrigkeit zu diesem Mal gehorsamlich nachgelebt, sondern auch auf mein Begehren allesamt, Adlige und Unadlige, vor das Tor gegangen und in so schöner Ordnung mir zur Kirche gefolget usw., mit Vermahnung, nachmittags dem Gottesdienst wieder fleißig beizuwohnen. Und ob ich zwar sagte, es möchte ein jeder nachmittags aus seinem Hause zur Kirche gehen, so hatten sie sich doch allesamt wie vormittags vor der Schenke versammelt, waren auch der Friede und die Gerechtigkeit wieder in ihrem Schmuck da, Mars aber hatte sich verloren. Als ich dessen berichtet wurde, ging ich unter dem letzten Puls mit den Schülern, Adjuvanten und Hausleuten zur Hintertür hinaus, durch die Kirchgasse nach der Kirche, da mir jeder männiglich wiederum, wie früh geschehen, in die Kirche folgete. Darinnen wurde damals gesungen: »Nun laßt uns Gott dem Herrn usw.« Aus der Kirche gingen wir in solcher Ordnung wieder singend: »Lobe den Herrn, lobet den Herrn usw.« auf gedachten Platz, wo ich abermals gegen Fremde und Einheimische mit einem herzlichen Friedenswunsch mich bedankte. Und wurden hier vor sechs Groschen Wecken und etliche reife Äpfel unter die Kinder ausgeteilt.

Bekannt ist, daß der große Friede sehr langsam kam wie Genesung aus einer tödlichen Krankheit. Die Jahre 1648–1650 vom Friedensschluß bis zur Feier des Friedensfestes gehörten noch zu den schwersten der eisernen Zeit; unerschwingliche Kriegssteuern waren ausgeschrieben, die Heere der verschiedenen Parteien lagen bis zur Abzahlung auf den Landschaften, und der Druck, welchen sie auf die elenden Bewohner ausübten, war so furchtbar, daß mehr als ein Verzweiflungsschrei der Völker sich in den Hader der immer noch verhandelnden Parteien mischte. Dazu kamen Plagen anderer Art, alle Länder wimmelten von »herrenlosem Gesindlein«. Banden entlassener Kriegsknechte mit Dirnen und Troßbuben, Scharen von Bettlern, große Räuberhaufen streiften aus einem Gebiet in das andere, sie quartierten sich gewaltsam in den Dörfern ein, welche noch Einwohner hatten, und setzten sich wohl gar in den verlassenen Hütten fest. Auch die Dorfbewohner, mit schlechten Waffen versehen, der Arbeit entwöhnt, fanden es zuweilen bequemer zu rauben als das Feld zu bestellen und machten heimliche Streifzüge in benachbarte Territorien, die Evangelischen in katholisches Land und umgekehrt. Sogar die fremden Söhne eines gesetzlosen Lebens, die Zigeuner, waren an Zahl und Dreistigkeit gewachsen und lagerten, phantastisch aufgeputzt, mit ihren hochbeladenen Karren, mit gestohlenen Pferden und nackten Kindern um den Steintrog des Dorfplatzes. Wo gerade ein kräftiger Regent und eifrige Beamte tätig waren, wurde dem wilden Wandern nach Kräften entgegengearbeitet. Die Dorfleute des Herzogstums Gotha mußten noch im Jahre 1649 von den Kirchtürmen Wache halten, Brücken und Fährten über die Bäche des Landes besetzen und Lärm machen, sooft sie einen marschierenden Haufen erblickten. Ein System von Polizeiverordnungen, durchaus notwendig und heilsam, war das erste Zeichen des neuen Selbstgefühls, welches die Regierungen erhalten hatten. Wer sich niederlassen wollte, dem wurde die Ansiedelung leicht gemacht. Wer fest saß, mußte angeben, wieviel Land er bebaut hatte, in welchem Zustand ihm Haus und Hof war, ob er Vieh halte. Neue Flurbücher und Verzeichnisse der Einwohner wurden angefertigt, neue Steuern in Geld und Naturalien wurden ausgeschrieben und auch durch solchen harten Druck die Dorfbewohner zur Arbeit gezwungen. Allmählich besetzten sich die Dörfer wieder mit Menschen. Viele Familien, die sich zur Kriegszeit in die Städte geflüchtet hatten, besserten ihre verwüsteten Höfe aus, andere zogen aus dem Gebirge oder der Fremde zurück; auch verabschiedete Soldaten und Troßknechte kauften von dem Rest ihrer Beute zuweilen Acker und ein leeres Haus oder liefen zu dem heimischen Dorf. Es wurde viel geheiratet und eifrig getauft.

Aber die Erschöpfung des Volkes war doch jämmerlich groß; die Ackerstücke, deren viele geruht hatten, wurden ohne Dünger notdürftig bestellt, nicht wenige blieben mit wildem Buschholz und Unkraut bewachsen noch lange als Weideland liegen. Den Grund verwüsteter Ortschaften kauften zuweilen die Nachbardörfer, an einigen Stellen zogen sich zwei oder drei kleine Gemeinden zu einer zusammen.

Noch viele Jahre nach dem Krieg muß das Aussehen der Dörfer trostlos gewesen sein. In Thüringen ist das zuweilen aus Verhandlungen mit der Obrigkeit erkennbar. Die Hausbesitzer von Siebleben und einigen andern Gemeinden um Gotha haben seit dem Mittelalter das Recht auf freies Bauholz aus dem Waldgebirge. Im Jahre 1650 forderte die Regierung auf, dieses Recht gegen Entrichtung einer herkömmlichen kleinen Abgabe von Hafer auszuüben. Da entschuldigten sich einige der Gemeinden, sie seien noch zu sehr herunter, um ans Aufbauen der schadhaften Häuser denken zu können. Zehn Jahre darauf hatte die Gemeinde Siebleben doch schon zweiundvierzig Schulknaben, welche ein geringes Schulgeld bezahlten, und das jährliche Opfergeld in der Kirche betrug über 14 Gulden. Ein Teil dieses Opfergeldes wurde auf kleine Almosen an Fremde verwendet, und man kann aus der sorgfältig geführten Berechnung ersehen, welcher Strom von Bettlern jeder Art durch das Land zog. Abgedankte Kriegsleute, Krüppel, Heimatlose, Greise und Kranke, darunter auch Aussätzige mit Legitimationen ihres Siechhauses, dann Exulanten aus Böhmen und Ungarn, die der Religion wegen ihre Heimat aufgegeben haben wollen, vertriebene Edelleute aus England, Irland, Polen; Sammler, welche gefangene Verwandte aus der türkischen Gefangenschaft loskaufen wollen, Reisende, welche von Wegelagerern ausgeplündert sind, ein blinder Pfarrer aus Dänemark mit fünf Kindern. Bereits sucht sich jeder Fremde durch Zeugnisse zu empfehlen. Die Regierung aber wird nicht müde, gegen das Beherbergen solcher bettelnden Leute zu eifern.

Wie der Kampf, waren auch die Zustände, welche nach dem Krieg eintraten, außer allem Vergleich mit andern Niederlagen kultivierter Völker. Gewiß sind in einzelnen Zeiträumen der Völkerwanderung große Landschaften Europas noch mehr verödet worden, zuweilen hat im Mittelalter eine Pest die Bewohner großer Städte ebensosehr dezimiert; aber solches Unglück war entweder lokal und wurde leicht durch den Überschuß von Menschenkraft geheilt, der aus der Umgegend auf den geleerten Grund zusammenströmte, oder es fiel in eine Zeit, wo die Völker nicht fester auf dem Boden standen als lockere Sanddünen am Strand, welche leicht von einer Stelle zur andern geweht werden. Hier aber wird eine große Nation mit alter Kultur, mit vielen hundert festgemauerten Städten, vielen tausend Dorffluren, mit Acker- und Weideland, das durch mehr als dreißig Generationen desselben Stammes bebaut war, so verwüstet, daß überall leere Räume entstehen, in denen die wilde Natur, die so lange im Dienst des Menschen gebändigt war, wieder die alten Feinde der Völker aus dem Boden erzeugt, wucherndes Gestrüpp und wilde Tiere. Wenn ein solches Unglück plötzlich über eine Nation hereinbräche, es würde ohne Zweifel auch eine kleine Zahl der Überlebenden unfähig machen, ein Volk zu bilden, ja schon das Entsetzen würde sie vernichten; hier hatte das allmähliche Eintreten der Verringerung den Überlebenden das Schreckliche zur Gewohnheit gemacht. Eine ganze Generation war aufgewachsen innerhalb der Zeit der Zerstörung. Die gesamte Jugend kannte keinen andern Zustand als den der Gewalttat, der Flucht, der allmählichen Verkleinerung von Stadt und Dorf, des Wechsels der Konfession; man mußte schon auf der Höhe des Lebens stehen, sich daran zu erinnern, wie es im Dorf vor dem Krieg ausgesehen hatte, wieviel Paare unter einer Dorflinde getanzt hatten, wie stark die Viehherde im Riedgras und auf den Weidehöhen gewesen war, und wieviel einst durch den Klingelbeutel oder Opferpfennig in der Kirche eingesammelt werden konnte. Nicht viel anders war es in den Städten; innerhalb der meisten halbzerstörten Ringmauern gab es wüste Plätze, welche vor dem Krieg mit Häusern besetzt gewesen waren, in den schadhaften Häusern aber hatte vor dem Krieg die doppelte Zahl arbeitsamer Menschen gewohnt. Es gab Landschaften, wo ein Reiter viele Stunden umhertraben mußte, um an eine bewohnte Feuerstätte zu kommen; ein Bote, der von Kursachsen nach Berlin eilte, ging von Morgen bis Abend über unbebautes Land, durch aufschießendes Nadelholz, ohne ein Dorf zu finden, in dem er rasten konnte. Und doch bezeichnet das Ende des Krieges im ganzen nicht den niedrigsten Stand der Bevölkerung und Produktion. Die Zeit der größten Depression liegt etwa sechs Jahre vorher, Jahre, aus welchen Sammlungen statistischer Notizen gar nicht vorhanden sind. Denn wie es nach der Pest und Banérs Zügen aussah, davon geben nur einzelne Ortschroniken spärliche Kunde. Seit dieser Zeit half die Politik der Neutralität, durch welche die größeren Landesherren den Krieg von ihren Grenzen abzuhalten suchten, doch etwas dazu, die Schäden nicht zu heilen, aber die Bevölkerung und selbst den Viehstand wieder festzusetzen. Selbstverständlich aber ist der Zuwachs unter den Überlebenden nach so großer Verwüstung ein verhältnismäßig starker. Die Ehen sind massenhaft durch den Tod eines Ehegatten gelöst, neue Ehe wird leicht, leere Hütten, unbebaute Äcker, fast wertlos, vermag auch der Arme leicht zu besetzen. Der Friede fand in vielen Landschaften schon wieder neue kleine Brut. Und dennoch sind zwei Dritteile bis drei Vierteile der Menschen verloren. Noch größer sind die Verluste an Zug- und Nutzvieh, an Hausrat.

Viel ist über die Verwüstungen des Krieges geschrieben worden, aber noch fehlt die große Arbeit, welche aus allen Territorien die erhaltenen statistischen Notizen zu einem Bild zusammenstellte. Wie ungeheuer die Arbeit sei, sie muß doch unternommen werden, denn erst aus unwiderleglichen Zahlen wird die volle Größe des Unheils verständlich. Was bisher von Einzelheiten bekannt wurde, berechtigt kaum zu einer ungefähren Schätzung der Einbuße, welche Deutschland an Menschen, Nutztieren und produktivem Vermögen erlitten hat. Auch die folgenden Schlüsse machen nur den Anspruch, eine persönliche Ansicht auszudrücken; wenige Beispiele sollen dieselbe unterstützen.

Die Verhältnisse von Thüringen und Franken sind nicht übel geeignet, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu vergleichen. Beide Landschaften sind durch den Krieg nicht ausnahmsweise mehr heimgesucht worden als andere Länder, die Kulturverhältnisse beider entsprechen bis zur Gegenwart ziemlich genau dem mittleren Durchschnitt deutscher Industrie und Landwirtschaft. Beide sind im ganzen nicht reich. Hügellandschaften ohne großen Fluß, ohne beträchtliche Steinkohlenlager, mit einem Ackerboden, der nur in einzelnen Strichen durch besondere Fruchtbarkeit ausgezeichnet ist, waren sie bis zur Neuzeit vorzugsweise auf Landbau, Gartenkultur und kleine Gebirgsindustrie angewiesen. So hat dieser Teil von Deutschland kein massenhaftes Einströmen von Menschenkraft und Kapital erfahren, er ist auch nicht Schauplatz der zerstörenden Kriege Ludwigs XIV. gewesen, und die Landesherren, zumal die Enkel Friedrichs des Weisen, sind auch in argen Zeiten ziemlich schonend mit der Volkskraft umgegangen.

Hier im Herzen Deutschlands lag die alte gefürstete Grafschaft Henneberg, ein stattliches Gebiet von zirka 30 Quadratmeilen und – im Jahre 1634 – von 177 Ortschaften, welche jetzt zwischen Preußen, Meiningen und Weimar geteilt sind. Mit seinem nördlichen Teil streckte es sich in die Talschluchten des Thüringer Waldes, ja ein kleiner Teil – Ilmenau – lag auf der Nordseite des Gebirges. Nur am Westrand führte die Heerstraße; das große Gebirge deckte von Norden, und die Einwohner hatten gute Gelegenheit, sich und ihre Habe durch die Flucht in den Bergwald zu schützen. So war die Grafschaft Henneberg in verhältnismäßig günstiger Lage. Auch war ihr gerade in den ärgsten Jahren des Krieges das Glück einer besonders sorgfältigen Verwaltung zuteil geworden, welche in der schlechtesten Zeit mit bewunderungswürdiger Ausdauer bemüht war, die Menschen zusammenzuhalten und zum Aufbau der eingeäscherten Dörfer zu ermuntern. Endlich kam ihr noch zustatten, daß die Greuel des Krieges verhältnismäßig spät, erst um 1633, eine massenhafte Zerstörung begannen; denn während Pommern und die Mark, Schlesien und Böhmen, die Länder der Nordsee und der Westen Deutschlands schon unter den Geißelhieben der Kriegsfurie todwund lagen, waren dort noch friedliche Jahre. Noch 1634 erstaunten die räuberischen Kroaten über den Wohlstand der Bauern und Bürger, die Schätze und reichen Vorräte, die in den festgebauten Häusern aufgesammelt waren. Das glückliche Land hatte fast hundert Jahre Frieden gehabt und mehrere hausväterliche und wohlwollende Regenten. Nicht weniger wichtig war, daß der ärgste Druck des Krieges dort auch eher endete als in andern Territorien; denn seit dem Jahre 1643 genoß das Land durch die Neutralitätspolitik seines Verwalters, Ernst des Frommen, verhältnismäßige Ruhe. Wir sind demnach zu der Annahme berechtigt, daß diese Grafschaft besser daran war als die Mehrzahl der deutschen Gebiete.

Von diesem Land sind uns amtliche statistische Notizen erhalten, welche die Zahl der Familien und Häuser sowohl im Anfang der schwersten Kriegszeit – aus dem Jahre 1631, bei einigen 1634 – als nach dem Ende des Krieges – aus dem Jahre 1649, bei einigen 1652 – angeben. Danach verlor das Land in dem Krieg 70 Prozent der Familien, 66 Prozent der Wohnungen. Dies furchtbare Ergebnis wird noch grauenhafter, wenn man in Betracht zieht, was aus Hunderten kläglicher Eingaben seit dem Frieden ersichtlich wird, in welchem Zustand die überlebenden Menschen und die Häuser waren: ein Teil der Wohnungen waren Nothütten, aus Trümmern zusammengeschlagen. Da nun die Bevölkerung des Landes schon in den Jahren 1631 und 1634 zuverlässig geringer geworden war, als sie im ersten Jahr des Krieges gewesen, und da ein Teil der erhaltenen Verzeichnisse bereits den Zuwachs dreier Friedensjahre enthält, so wird die Annahme mäßig sein, daß 75 Prozent der Familien durch den Krieg vernichtet worden sind. Nun aber ist außer Zweifel, daß auch die Kopfzahl einer Familie im Durchschnitt beim Beginn des Krieges größer war als am Ende desselbenDas Verhältnis ist folgendes. Es waren in den vierzehn Ämtern der Grafschaft:

Familien   i. J. 1634 (1631): 13095 – i. J. 1649 (1652): 3969,
Häuser   i. J. 1634 (1631): 11850 – i. J. 1649 (1652): 4053.

Rechnet man die Kopfzahl einer Familie vor dem Kriege im Durchschnitt zu 4½, und nach dem Kriege, wahrscheinlich zu hoch, zu 4, so hatte die Grafschaft Henneberg im Jahre 1631 (1634): 60 975 Einwohner, i. J. 1649 (1652): 16 448 Einwohner.

, daß also der Menschenverlust noch größer als 75 Prozent gewesen sein muß.

Ferner aber sind uns aus 20 Ortschaften derselben Landschaft sorgfältige Verzeichnisse der Ortsbehörden auch über das Verhältnis des Viehstandes und der Scheuern aufbewahrt; danach waren in diesen Orten von Pferden 85 Prozent, von Ziegen über 83, von Kühen über 82 Prozent eingegangen, die vorhandenen Pferde werden als lahm und blind, die Felder und Wiesen als verwüstet und z. T. mit Holz bewachsen angeführt; die Schafe aber waren an allen Orten sämtlich vernichtetIn 19 Dörfern der früheren Herrschaft Henneberg waren im Jahre:

 1634  1649  1849
Familien 1773 316 1916
Häuser 1717 527 1558
In 17 Dörfern desgl. Rinder 1402 244 1994
In 13 Dörfern desgl. Pferde 485 73 107
In 12 Dörfern desgl. Schafe 4616 4596
In 4 Dörfern desgl. Ziegen
.

Es ist eine blutige Geschichte, welche durch diese Zahlen verkündet wird. Mehr als drei Vierteile der Menschen, bei weitem mehr als vier Fünfteile ihrer Habe sind vernichtet. Und in welchem Zustand das Erhaltene!

Genau ebenso war das Schicksal der kleineren Landstädte, soweit dasselbe aus erhaltenen Angaben zu sehen ist. Nur ein Beispiel aus derselben Gegend. Das alte Kirchenbuch zu Ummerstadt, einer ackerbauenden Landstadt in der Nähe von Coburg, seit alter Zeit im Lande wohlbekannt wegen ihrer guten Töpferwaren, berichtet folgendes: »Ob nun wohl noch im Jahre 1632 das ganze Land, wie auch hiesiges Städtlein, sehr volkreich war, also daß über 150 Bürger und auf 800 Seelen allein hier gewohnt haben, so sind doch wegen immer anhaltender Kriegsunruhen und stetigen Einquartierungen die Leute dermaßen enervieret worden, daß von ausgestandenem großen Schrecken eine Seuche, so von dem lieben, allmächtigen und gerechten Gott über uns verhängt worden, auf 500 Menschen in den Jahren 1635 und 1636 weggerafft hat, und wegen des elenden und betrübten Zustandes in zwei Jahren und darüber kein Kind zur Welt geboren worden. Diejenigen Leute, denen Gott der Allerhöchste noch das Leben gefristet, haben sich wegen Hunger und teurer Zeit, aus Mangel des lieben Brots, Kleien, Ölkuchen und Leinknoten gemahlen und gegessen, aber viele das Leben darüber geendet. Sind also die Leute in allen Ländern sehr zerstreut worden, daß der meiste Teil das liebe Vaterland nicht wiedergesehen. Anno 1640 bei dem saalfeldischen Stillager ist Ummerstadt zur Nimmer- oder Umbrastadt worden, weil in 18 Wochen sich kein Mensch darin hat dürfen sehen lassen, und die Leute um alles, was sie noch gehabt, gekommen sind. Daher die Leute fast dünne worden und über 100 Seelen nicht mehr vorhanden gewesen.« – Im Jahre 1850 hatte der Ort 893 Einwohner.

Aber noch auffallender ist eine andere Beobachtung, welche aus den Tabellen der obenerwähnten hennebergischen Dörfer zu machen ist. Erst in unserem Jahrhundert hat Menschenzahl und Bestand der Nutztiere wieder die Höhe erreicht, welche im Jahre 1634 bereits vorhanden war. Ja, die Zahl der Häuser war in vielen Dörfern noch 1849 geringer als 1634, obgleich dort noch heute die Dorfhäuser klein und auch die Armen ängstlich bemüht sind, ein eigenes Haus zu bewohnen. Zwar die Menschenzahl ist 1855 bereits nicht unbedeutend größer als 1634 nach 15 Kriegsjahren, aber der Zuwachs fällt zum größten Teil auf den jetzigen preußischen Kreis Henneberg (Schleusingen und Suhl), in welchem die eigentümliche Ausbildung der Eisenindustrie ein stärkeres Zuströmen von Kapital und Menschenkraft hervorgebracht hat.

So sind wir allerdings zu dem Schlusse berechtigt, daß wenigstens für diesen Strich Deutschlands 200 Jahre notwendig waren, Menschenzahl und produktive Kraft des Landes wieder bis zu einem früheren Standpunkt zu heben. Diese Annahme wird durch andere Beobachtungen unterstützt. Die Kultur des Landes vor dem Dreißigjährigen Krieg, ja selbst das Verhältnis des Getreidewertes zu dem Silberwert in einer Zeit, wo Getreideausfuhr nur ausnahmsweise stattfand, führen zu demselben Schluß.

Freilich ist in den letzten 200 Jahren die Kultur auch durch die mächtige Entwicklung des Auslandes in ganz neuen Richtungen entwickelt. Auch der Landmann baut jetzt Hackfrüchte, Klee und andere Futterkräuter, welche vor dem Dreißigjährigen Krieg noch unbekannt waren, und die landwirtschaftliche Produktion selbst einer gleichen Menschenzahl mag doch gewinnbringender geworden sein als vor jenem Krieg. Vielleicht haben die Vorfahren vor dem Krieg viel ärmer gelebt und weniger erwirtschaftet? Man vergleiche den Viehstand. Die Schafzucht der erwähnten Dörfer hat gegenwärtig genau den Umfang, den sie vor dem Krieg hatte. Es ist jetzt die kurze, dichtgekräuselte Wolle spanischer Herden, welche auch in den Hürden der Bauern gezogen wird; die alte Wolle fiel in langen Flocken, sie muß nach dem Wert der Tuche und Zeuge, welche daraus gewebt werden, und nach dem damaligen Preis der Schafe (5 = 1 Kuh, während bei uns das Verhältnis wie 10 zu 1 ist) nicht verächtlich gewesen sein.

Ferner aber hat sich der Bestand an Pferden gegen 1634 um drei Viertel verringert. Diese auffallende Tatsache ist nur daraus zu erklären, daß die Reitertraditionen des Mittelalters auch noch auf den Landwirt Einfluß ausübten, daß die Pferdezucht bei den schlechten Wegen, welche eine weite Versendung des Getreides unmöglich machten, lohnender wurde als jetzt, während das Gebrüll der Rinder auch in den engen Hofräumen der Städte so häufig war, daß Verkauf von Milch und Butter wenig lohnte, endlich aber, daß ein größerer Teil der Landleute imstande war, Gespannkraft zu ernähren als jetzt. Die Zersplitterung des Grundes war damals, wie sich aus den alten Flurbüchern beweisen läßt, in Thüringen etwas – nicht beträchtlich – geringer als jetzt. Vermehrt hat sich in der Gegenwart die Zahl der Ziegen, des Nutztiers der kleinen Leute, und die Zahl der Rinder, welche wahrscheinlich im mittleren und südlichen Deutschland jetzt auch größer und edler gezogen werden als damals. Und dies ist ein entschiedener Fortschritt der Gegenwart. Im ganzen aber ist, nach Futterbedürfnis gerechnet, die Zahl der Tiere, welche auf dem Ackergrund mit Vorteil erhalten werden, gegenwärtig nur unbedeutend größer als im Jahre 163410 Schafe oder Ziegen = 1 Rind oder Pferd gerechnet, ist das Verhältnis nach obiger Tabelle folgendes: 1634 wurden 2364 Stück Großvieh gehalten, 1849 aber 2579, dabei allerdings die Rinder wertvoller. Es ist ein bescheidener Fortschritt..

Neben solchen Resultaten ist unwichtig aufzuzählen, was von beweglichen Inventarium in den Dörfern durch den Krieg vernichtet worden ist. Es ist in Thüringen möglich, auch darüber einige Sicherheit zu gewinnen, denn schon wurden damals genaue Berechnungen des erlittenen Schadens von den Regierungen eingefordert, und in mehr als einem Gemeindearchiv sind diese Berechnungen erhalten, leider meist unvollständig; es gab Jahre, in denen die Liquidation aufhörte. Soviel sich aus dem Erhaltenen ersehen läßt, betragen die berechneten Verluste einer Dorfgemeinde für die dreißig Kriegsjahre von 30 bis 100 000 Gulden. Berechnet man danach die Verluste eines ganzen Landes, so wird die Summe ungeheuer.

Durch diesen Krieg wurde Deutschland gegenüber den glücklicheren Nachbarn, den Niederländern, den Engländern, um 200 Jahre zurückgeworfen.

Noch größer sind die Veränderungen, welche der Krieg in dem geistigen Leben der Nation gemacht hat. Vor andern den Landleuten. Viele alte Bräuche gingen zugrunde, das Leben wurde leerer, leidvoller. An Stelle des alten Hausrates sind die rohesten Formen moderner Möbel getreten; die kunstreichen Kelche und alten Taufbecken, fast aller Schmuck der Kirchen war verschwunden, eine geschmacklose Dürftigkeit ist den Dorfkirchen bis jetzt geblieben. Mehr als 100 Jahre nach dem Kriege vegetierte der Bauer fast ebenso eingepfercht wie die Stücke seiner Herde, während ihn der Pastor als Hirt bewachte und durch das Schreckbild des Höllenhundes in Ordnung hielt, und der Gutsbesitzer oder sein Landesherr alljährlich abschor. Eine lange Zeit dumpfen Leidens. Die Getreidepreise waren in dem menschenarmen Land 50 Jahre nach dem Krieg sogar niedriger als vorher, die Lasten aber, welche auf die Grundstücke gelegt wurden, so hoch gesteigert, daß noch lange der Acker mit Haus und Hof geringen Wert hatte, zuweilen umsonst gegen die Verpflichtung gegeben wurde, Dienste und Lasten zu tragen. Härter als je wurde der Druck der Hörigkeit, am ärgsten in den früheren Slawenländern, in denen ein zahlreicher Adel über den Bauern saß.

Häufig beklagt sind die Schäden der Bildung, welche in den ausgeplünderten Städten und Rittersitzen zutage kamen, zunächst wieder Luxus, Genußsucht und rohe Liederlichkeit, Mangel an Gemeinsinn und Selbstgefühl, Kriecherei gegen Vornehme, Herzlosigkeit gegen Niedere. Es sind die uralten Leiden eines heruntergekommenen Geschlechts. So finster, freudelos, arm an belebendem Geist war das Dasein, daß die Selbstmorde zum Erschrecken häufig wurden; die Obrigkeit suchte das Sonnenlicht dadurch schätzbarer zu machen, daß sie dem Henker befahl, Selbstmörder unter dem Galgen zu begraben. Daß das Selbstregiment der Städte immer mehr durch die Landesherren beeinträchtigt wurde, war häufig noch ein Glück, denn die Verwaltung war nur zu oft arm an Urteil und Pflichtgefühl. –

Es war eine tödliche Krisis, aus welcher Deutschland heraustrat, und teuer erkauft war der Friede. Aber das Höchste war doch gerettet, die Kontinuität der deutschen Entwicklung, die Fortdauer des großen inneren Prozesses, durch welchen das deutsche Volk sich von der Unfreiheit des Mittelalters zu höheren Bildungen erheben konnte. [...]


 << zurück weiter >>