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18. Kein Ende

Wieder einmal war es Sonntag. Bis in den Nachmittag hatte die Sonne geschienen, als ob es nach einem harten Winter mit Macht Frühling werden wollte, und manchen aus der dumpfigen Stube ins Freie gelockt. Dann mit einem Male brauste ein eisiger Märzwind in unregelmäßigen Stößen über die weite Donauebene und jagte mit unheimlicher Schnelle zerfetztes Gewölk den Strom entlang gegen Osten, wo es sich in schweren Massen zusammenballte. Dort schien es sich zu stauen, bis das ganze Himmelsgewölbe bedeckt war. Manchmal zeigte sich noch eine grellichte Stelle, wurde aber bald genug von tiefer hängenden Wolken verschlungen, die, schwärzer als die andern, wie wilde Tiere in der Luft umherjagten. Da und dort ging ein Regenschauer nieder und verwandelte Himmel und Erde in ein nebliges, einförmiges Chaos. Gegen Abend wurde es in den höheren Luftschichten ruhiger. Ein schwermütiges Grau breitete sich wie ein Leichentuch über das ganze Firmament. Nur im Westen zeigte ein langgestreckter, safrangelber Lichtstreifen, wo Himmel und Erde sich berührten.

Auch die Erde bot dort unten, zwei Stunden Wegs von Ulm, kein erfreuliches Bild. Wo die Donau den Fuß der steil abfallenden Hügel bei Thalfingen verläßt, wand sie sich zu jener Zeit in Schlangenlinien durch den moorigen Grund gegen Elchingen hin. Ein Wald von Weidengestrüpp bedeckte ihre Ufer und erstreckte sich zu beiden Seiten tief ins Land hinein, da und dort unterbrochen von kleinen Lichtungen, in denen wunderlich gestaltete Wassertümpel andeuteten, wo vor Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten der Fluß seine krummen Wege gefunden hatte. Über üppigem Schilf und wirren Sumpfpflanzen neigten sich knorrige, baumartige Weidenstämme, deren verzerrte Gestalten wie jammernd die Arme erhoben oder dämonisch fratzenhafte Gesichter schnitten. Auch fand sich da und dort noch eine verkrüppelte Eiche aus uralter Zeit, als ob sie verdrießlich wäre, sich in solcher Gesellschaft zu sehen. Eine pfadlose, unheimliche Gegend, in der sich niemand gerne verirrte, denn der Fuß ist dort nie sicher, festen Grund zu finden, und der Wanderer steht unversehens in einem Labyrinth von alten Wasserläufen, zwischen denen er stundenlang nach einem gangbaren Ausweg suchen kann.

Hatte so der große Junge, der seit drei Nachmittagsstunden in der Wald- und Wasserwildnis umherirrte, jede Richtung verloren? Suchte er überhaupt einen Weg? Bald übersprang er einen Graben, in welchem schwarzbraunes Sumpfwasser tückisch dahinschlich, bald watete er, ohne seine zerrissenen Schuhe abzulegen, durch seichte Furten, in denen sich rieselndes Donauwasser nach dem Fluß zurücksuchte. Bald schlüpfte er gebückt durch das dichte, winterlich kahle Gestrüpp, bald erkletterte er einen der alten Weidenstümpfe, um auszuspähen, ob irgendwie weiterzukommen wäre. Aber er schien kein bestimmtes Ziel zu haben, obgleich er sich immer wieder dem Fluß zuwandte, der seine gelben Wassermassen, auf denen manchmal noch eine verspätete Eisscholle tanzte, hastig und leise murmelnd zwischen den stummen, leblosen Waldsäumen fortwälzte. Dort aber war kein Ausweg möglich, und immer wieder drängten ihn die in das Land einschneidenden Buchten und Seitenkanäle, die gelegentlich förmliche Inseln bildeten, tief in das Waldesdickicht zurück.

Er schien nahezu erschöpft zu sein, nachdem er wohl zum zehntenmal das Ufer erreicht hatte und sein Bemühen, demselben zu folgen, immer wieder vereitelt worden war. Obgleich die Dämmerung des trüben Abends rasch hereinzubrechen drohte, versuchte er nochmals einen größeren, wassergefüllten Einschnitt zu umkreisen, der eine förmliche Bucht bildete, an deren hinterstem Ende unter einem verkümmerten Eichbaum ein kleiner gestrüppfreier Raum lag. Dort warf er sich erschöpft zu Boden, sprang aber fast im gleichen Augenblick wieder auf. Seine Augen, eben noch matt und trüb, funkelten in fast freudiger Erregung. Wir wissen, was Gotthilf hier suchte. Hatte er es endlich gefunden?

Neben der Eiche stand tief nach der einen Seite hin geneigt eine glatte, weißliche Stange von ungewöhnlicher Form. Es war ein Ruder, umgekehrt in den Boden gestoßen: auf der nach oben gekehrten Schaufel war mit Teer, jetzt fast völlig verwischt, ein Kreuz gemalt und unter demselben zwei Buchstaben, ein M und ein W – Margaret Wisp – und eine völlig unleserliche Jahreszahl. Auch ein kleiner halbverfaulter Strick hing an der Stange, und am Boden lag eine rohe, zwei Fuß lange Latte, die in der Mitte eine Kerbe zeigte. Gotthilf erriet sofort, was dies zu bedeuten hatte, hob die Latte auf und band sie wieder an das Ruder, so daß die beiden ein Kreuz bildeten. Die zwei Schiffer hatten damals getan, was sie konnten. Es war kein übles Grab am Fuß des verkümmerten Baums geworden, still, verlassen, vergessen; aber Ruhe, tiefe Ruhe ringsum. Auch war es nah genug am Fluß; man konnte das Murmeln der vorüberziehenden Wasser hören. Nachdem Gotthilf mit dem Anbinden der Latte zurechtgekommen war – er tat es mit fest zusammengebissenen Zähnen –, warf er sich wieder auf die Erde, auf der kaum mehr die Spur eines Hügels zu bemerken war. Aber er wußte trotzdem, daß er gefunden, was er seit Jahren gesucht hatte: das Grab seiner Mutter.

Wie lange er so lag, hat niemand erfahren; auch nicht was er dort dachte und flüsterte, als ob er mit den murmelnden Wassern ein ernstes Wort zu sprechen hätte, klagend, verklagend; auch nicht, was er in bitterem Leid in die stumme Nacht hinausrief. Hier konnte er laut seinem Herzen Luft machen. Es hörte ihn in dieser Einsamkeit keine sterbliche Seele.

Doch ja! Hören wir sie nicht, die uralte Klage des gequälten Menschenherzens? Haben wir nicht Mitleid genug – Mitleid! –, wir, die wir des Lebens bittersten Jammer nur von ferne, nur vom Hörensagen kennen – um aus so kleiner Entfernung zu vernehmen, was seit Jahrtausenden tausendmal durch die Welt zitterte, was fortfahren wird, tausend Herzen bis zum Brechen zu erschüttern:

Warum, warum?

Warum mußte sie leiden, bis sie es nicht mehr tragen konnte? Warum mußte sie geboren werden, um so zu leiden? Warum gerade sie und ich und meine arme Schwester? Sind wir denn schlimmer als die andern? Hat uns der himmlische Vater mit einem Kainszeichen in die Welt geschickt, von dem wir nichts wissen?

Warum?

Keine Antwort, kein Laut. Warum schweigst du dort oben, Vater, wenn deine Kinder zu dir schreien? Warum?

Kein Laut. Nur die Donau murmelt fast unhörbar, in der seine Mutter Ruhe gesucht hat. Doch teilt sich jetzt das Gewölk über ihm und ein einsamer Stern flimmert durch das kahle Geäst der Eiche und durch seine nassen Wimpern.

Still liegend sah er lange, lange hinauf. Wie in weiße wallende Schleier gehüllt, zog ein Gedanke durch seine wunde Seele, der vor tausend Jahren im fernen Indien Worte gefunden hat: das ewige Schweigen kann nicht sprechen. Und wehmütiger, weicher wurde es in ihm, während der stille Lichtstrahl in sein Herz sank. Müssen es Worte sein, mit denen der himmlische Vater seine wunden Kinder tröstet? Fühlst du seine milde Hand, sein liebendes Herz nicht im freundlichen Bild einer Blume, im sehnsüchtigen Laut eines Vögelchens, im Flimmern eines Sterns? Ruhig, ruhig! Du bist nicht am Ende des Lebens auf einem vergessenen Grab.

Er erhob sich mit nassen Augen, beruhigt, gekräftigt. Es war tiefe Nacht geworden. Der Stern leuchtete noch immer, heller, ruhiger. Er küßte das Kreuz, das ein Ruder gewesen war, die zwei vom Regen verwischten Buchstaben. Dann warf er sich in das Dickicht, in der Richtung nach dem offenen Feld, gegen die Hügel hin, die in gelblicher, geisterhafter Helle durch die blätterlosen Zweige sichtbar waren. Jetzt wurde es auch im Osten lichter. Der Mond ging auf, rund und groß, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Es hatte keine Gefahr mehr.

Da mit einem Male sank der Boden unter seinen Füßen weg. Eine Scholle schlug plätschernd in schwarzes, kaum sichtbares Wasser. Er verlor allen Halt und stürzte ihr nach. Im nächsten Augenblick schlugen eisige Wasser über ihm zusammen. Dicker Schlamm heftete sich saugend an seine Füße. Aber er schoß wieder empor und schlug um sich.

»Nicht so!« keuchte er mit dem Aufflackern eines Willens, den er seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte. »Herr Gott, der du die Sperlinge in deine Obhut nimmst, nicht so!«

 

Berblinger hatte sich im letzten halben Jahr, dem dritten Winter, den er in Bockelhardts Dachkammern durchfror, mehr und mehr in das ehrsame Handwerk eingelebt. Er vermied es ängstlich und tapfer zugleich, über die Mauern hinauszusehen, die das harte Schicksal – als solches fühlte er es noch immer – um ihn gezogen hatte, und widerstand selbst der Versuchung, seine alten Freunde, den Pestilenziarius und den Türmer vom Münster, aufzusuchen. Ja, er begann zu verstehen, was der erstere bezweckt hatte, als er sich seine Besuche verbat. Die herbe Zeit, die er durchlebte, wäre nur schwerer zu ertragen gewesen, wenn nicht jede Brücke hinter ihm abgebrochen worden wäre.

Vieles wurde schon etwas besser. Er hatte jetzt mehr Freiheit, hatte immer einen Groschen in der Tasche, der ihm ein Gefühl der Selbständigkeit und des Selbstvertrauens gab, das er früher nicht für möglich gehalten hätte. Was von den Plackereien der Lehrzeit blieb, war ihm fast zur Gewohnheit geworden, und vieles hatte sich mit Nickels Abzug anders gestaltet. Er war nicht mehr der Jüngste. Das Bier holte jetzt Gustel, und Berblinger war vernünftig genug, den verhaltenen Ingrimm von zwei Jahren nicht an dem unschuldigen Buben auszulassen, der ihn mit ängstlichen Augen beobachtete. Dies dankte ihm der neue Lehrling mit einer hundeartigen Anhänglichkeit, denn Gustel wußte aus seines Vaters Werkstatt, was Handwerksbrauch war. Der Meister behandelte ihn nicht unfreundlich, obgleich er sich nie zu einem Wort des Lobs hinreißen ließ. Nur am Stammtisch, im ›Wilden Mann‹, sagte er, wenn die andern auf ihre Jungen zu sprechen kamen und wie das heranwachsende Geschlecht immer frecher und fauler werde: »Ja, ja, aber eine Intelligenz hat der Bub, ich sag' euch, eine Intelligenz!« Der Altgeselle blieb grob und zurückhaltend, ja seine Grobheit wuchs sogar, je mehr sich Berblinger die Kunstgriffe aneignete, die das Handwerk verlangte. Der alte Kunde hatte das Studentle denn doch nicht ganz unterkriegen können, und dies verdroß ihn. Der neue Geselle, der Österreicher, war ein gutmütiger Kerl, der seinen hundertmal wiederholten Wahlspruch ›Der Mensch muß a Freud han!‹ auch anwandte, wenn er Berblingers Schultern hinterrücks als Nadelkissen zu gebrauchen versuchte. Am besten stand er mit François, der ihm von Zeit zu Zeit das Höchste versprach, was die Welt einem Lehrjungen bieten konnte: ihn bei der nächsten passenden Gelegenheit in eine Gesellengesellschaft mitzunehmen. Die passende Gelegenheit hatte sich bisher jedoch nicht finden wollen. Mittlerweile zeigte er ihm mit wunderlichen, selbsterfundenen Grimassen und ebensolchen französischen Kunstausdrücken, um der Sache Bedeutung zu geben, manches zum Handwerk Gehörige, das er aus Paris mitgebracht hatte. Darunter spielte der Sifran eine große Rolle, ein eigentümlich geformtes Stück Holz, das beim Bügeln gewölbter Flächen großartige Dienste tat. Sifran aber hieß es, weil es in Paris six francs kostete. Der Altgeselle mißbilligte diese Neuerungen höchlich und drohte, sie vor die Gesellenlade zu bringen. Sie verstießen allzu offen gegen Handwerksgewohnheit. »Was Sifran!« rief er entrüstet. »Nächstens werdet ihr noch mit Maschinen bügeln und nähen wollen!« Der Meister aber war klug genug, Berblingers Unterricht in den französischen Kunststücken nichts in den Weg zu legen, und gab sich nur das Ansehen, als ob ihm das alles längst bekannt wäre.

Wie ein freundliches Schneeglöckchen, das hinter gefrorenen Scheiben zum Blühen kommt, gestaltete sich sein Verhältnis zu Gretle. Fühlte sich auch der Lehrjunge noch so sehr als Mann, ihr gegenüber verfiel er immer wieder in den alten Kinderton. Daran mochten die Zwillinge schuld sein. Kinder bringen es manchmal fertig, den Älteren Unschuld und Kindlichkeit zu predigen. Im Hühnerstall allerdings war in diesem Winter nicht gut hausen. Es war monatelang zu bitter kalt gewesen, so daß es nur Gotthilf erträglich fand. Aber die Meisterin hatte nichts dagegen, wenn sich der Lehrjunge nach dem Abendessen eine halbe Stunde in die Küche setzte und den Buben Rädchen schnitzte oder Hammerwerke aufbaute. Daneben wusch Gretchen Teller und Schüsseln oder strickte und erzählte die hundertmal erzählten Geschichten vom Joseph und seinen bösen Brüdern, vom Ulmer Spatz, vom kleinen Moses im Binsenkörbchen und vom Nürnberger Trichter, bis die letzte Kohle auf dem offenen Herd erloschen war.

»Vom Nürnberger Trichter! Die Geschichte weiß der Prätle noch nicht«, sagte Gretle, als sie zum erstenmal dort beisammen saßen. »Das ist eine Geschichte für große Leute.«

»Wir sind groß«, bemerkten die Zwillinge einstimmig und legten gleichzeitig ihre Händchen auf den Kopf, um dies deutlicher zu machen.

»So will ich sie erzählen«, begann Gretle.

»Die Nürnberger sind ganz besonders schlaue Leute, sonderlich ihr Bürgermeister. Das hat aber seinen guten Grund. Sie haben seit vielen, vielen Jahren einen uralten blechernen Trichter, den ein Hexenmeister gemacht hat. Den Trichter haben sie behalten, den Hexenmeister haben sie verbrannt.«

»Ist recht!« sagte Fritzle, sehr zufrieden mit diesem interessanten Anfang.

»Dummer Hexenmeister!« meinte Fränzle verächtlich.

»Seit der Zeit machen sie den Leuten ein kleines rundes Loch in den Kopf. Das besorgt der Bader.«

»Tut's weh?« fragte Fränzle.

»Sei still!« sagte Fritzle, dessen Wißbegier jetzt lebhaft erregt war. Er hatte sich erst gestern ein großes Loch in den Kopf gefallen.

»Und stecken den Trichter hinein«, fuhr Gretle unbekümmert fort. »Und was sie durch den Hexentrichter in den Kopf hineintrichtern, das behält der Mann mit dem Loch für immer und allezeit. So bekamen sie die allergelehrtesten und klügsten und pfiffigsten Bürgermeister im ganzen Reich und wurden eine große, reiche Stadt; größer als Ulm.

Wie das die Memminger hörten, die auch einmal einen neuen Bürgermeister gewählt hatten, schickten sie einen Brief nach Nürnberg, darin stand geschrieben: die Nürnberger möchten ihnen doch den Trichter auf etliche Tage leihen. Die Nürnberger aber sprachen: ›Was geht uns euer neuer Bürgermeister an; unserthalben kann er so dumm sein als er will‹. Das verdroß die Memminger sehr. Sie beschlossen, den Trichter selbst zu holen und mit großer Heeresmacht gegen die von Nürnberg auszuziehen. Dies taten sie auch, und die Schneider mit ihrem blauen Fähnlein sollten vorangehen, obgleich sich die ehrsame Zunft mit dem zweiten oder dritten Platz begnügen wollte. Der Bürgermeister von Memmingen aber, dem an dem Trichter sehr viel gelegen war, sprach: ›Nein, die Schneider voran! Erstlich haben sie ein tapferes Herz, wenn sie es auch nicht wissen, und zweitens, oder eigentlich erstens könnten sie besser laufen als alle andere, wenn es not tut, sonderlich wenn sie den Wind im Rücken haben. Ich erhoffe aber, daß es nicht not tun wird.‹

Als die Nürnberger von all dem hörten, waren sie auch nicht faul und zogen aus, sich der Memminger zu erwehren, ihre Schneider voran. Der Zunftmeister aber war ein überaus kluger Mann, denn er war schon einmal Bürgermeister gewesen. Man konnte das Loch noch sehen, das der Bader gemacht hatte. Der ging zu seinem Schwager, einem Klempner, und sprach zu ihm: ›Schwager, mach mir einen feinen Trichter so ungefähr wie unser berühmter Stadttrichter, den du in der städtischen Bücherei sehen kannst, in einem schwarzen Kistchen, links hinter der Türe.‹ Dies tat der Klempner, und der Zunftmeister der Nürnberger Schneider zog mit dem neuen Trichter zu Feld.

Wie sie nun auf die Memminger stießen, ließ der Nürnberger Zunftmeister seinem Memminger Kollegen sagen, er möge doch ein wenig herüberkommen zu freundlichem Zwiegespräch, wie es guten und ehrsamen Meistern gezieme, ehe sie ans Blutvergießen gingen.«

»Tut das weh?« fragte Fränzle abermals.

»Sei doch still!« rief Fritzle zornig, worauf sich sein Bruder dicht an die Erzählerin schmiegte und hinter ihrer Schürze hervor dem Fritzle Gesichter schnitt.

»Wie sie nun beisammen waren«, fuhr Gretle fort, »gab er ihm den falschen Trichter, den der andre mit vielem Dank und großer Freude zu sich steckte. Dann drehten die Memminger unter Pauken und Trompeten um und zogen heim. Die Nürnberger aber, die nicht wußten, wie das zuging, sahen ihnen mit langen Gesichtern nach. Denn, sagten sie, sie hätten sich schon auf eine große Schlacht gefreut.

Nun wurden die Bürgermeister in Memmingen auch getrichtert, blieben aber so dumm wie zuvor; nur merkten sie's jetzt nicht mehr, denn sie verließen sich auf ihren Trichter und glaubten fest, daß er geholfen habe. Und darauf kommt es hauptsächlich an.

Die Geschichte ist aber noch nicht aus. Als das die Reutlinger hörten, schickten sie ihren geschicktesten Spitzbuben nach Memmingen und stahlen den Memmingern ihren Trichter. Das war ein Jammern in der Stadt und ein Jublieren in Reutlingen! Dort wollten sie sogar eine Dankesfeier halten; der Herr Stadtpfarrer von Reutlingen aber litt es nicht, von wegen des Diebstahls. Der erste Bürgermeister, den sie trichterten, pflanzte Weinberge rings um die Stadt. Sie merken aber immer noch nicht, daß sie einen falschen Trichter haben. Nur die Fremden, die ihren Wein zu versuchen kriegen, merken's. Er sei besser als der Söflinger, sagen die Ulmer, denn die Ulmer sind höfliche Leute und lachen. Noch heut aber sind die Bürgermeister von Nürnberg pfiffiger als alle andere. Jetzt ist's aus.«

»I will au en Trichter haun!« sagte Fritzle.

»Noa macht dir der Bader a Loch in Kopf«, warnte Fränzle.

»Und paß auf, daß du keinen falschen kriegst«, fügte Gretle hinzu. »Mir scheint's oft, dem Prätle ist das passiert. Er will so furchtbar gescheit sein.«

Dabei flog ein gutes, fröhliches Lachen über das runde Gesicht, in das Berblinger immer lieber sah, wenn ihn niemand beobachtete. Nur wenn sie von Gotthilf sprachen, schlich der alte bleiche Schatten über die jungen, mit jedem Tag lieblicher werdenden Züge.

Gotthilf hatte einen harten Winter durchgemacht. Oft fürchteten sie, er werde ihn nicht überstehen, obgleich er selten klagte. Dafür hustete er um so mehr. Am Sonntag vormittag nach der Kirche besuchte ihn Berblinger jetzt fast regelmäßig in dem Lädchen in der Radgasse und half ihm beim Ausbessern seiner Schirme. Der Stallmeyer, der alte Trunkenbold, schlief dann noch seinen Samstagsrausch aus und brummte, als ob er sich ärgerte, wenn er nachmittags in der Werkstatt herumstöberte und die Löcher in den Schirmen so hübsch geflickt fand.

 

Gestern, als Berblinger im Halbdunkel einer Fensternische seinen eben erhaltenen Wochenlohn zählte – er brauchte nicht lange dazu, obgleich er es mehrmals tat –, sagte François zu ihm, daß er ihn morgen abend, am Sonntag, in die Gesellenherberge nehmen werde. »Nicht in den ›Goldenen Hecht‹, wo die alten Schlafhauben sitzen, sondern – kannst du schweigen, Prätle?«

»Ich hoff's«, erwiderte Berblinger.

»Hand drauf!« flüsterte François geheimnisvoll.

Berblinger gab ihm lachend die Hand.

»Sag, bei meiner Seele Seligkeit!« drängte der Geselle.

»Daran glaubst du ja doch nicht«, meinte der Lehrjunge.

»Aber du. Sag's!«

Berblinger sagte es. Am folgenden Tag, nach dem Nachtessen, gingen sie auf den Zehenspitzen die Treppe hinunter und zum Haus hinaus, anstatt in ihre Dachkammer.

»Der Meister braucht's nicht zu hören«, sagte François, »und der Altgeselle schläft schon halb. Vormittags geht er noch immer ins Münster und den Nachmittag versauft er mit dem Österreicher. Der Mensch muß a Freud' hab'n... Du sollst eine Gesellenherberg' sehen, wie du noch keine gesehen hast. Rebellenherberg' heißen wir sie auch. Vergiß nicht, was du versprochen hast, wenn dir dein lumpiges kleines Leben lieb ist.«

Durch winklige Gäßchen entlang der östlichen Stadtmauer kamen sie in ein düsteres altes Haus in der Nähe des Zündeltörchens, das, wie viele Gebäude in Ulm, keine Haustüre zu haben schien. Doch zeigte ein in die Gasse ragender Besen, daß es eine Schenke war. Durch ein kaum bemerkbares Seitenpförtchen traten sie in einen stockfinsteren Gang, in dem zwei unerwartete Treppenstufen Berblinger zu Fall gebracht hätten, hätte ihn sein Führer nicht rechtzeitig gestützt. Das Geräusch brachte etwas Leben in die Finsternis: eine halblaute, heisere Stimme fragte scharf: »Wer da?«

»Fraternité!« sagte François halblaut.

»Nix ist's!« war die Antwort. »Brüderlichkeit heißt es heute.«

»Rindvieh, das ist dasselbe«, versetzte der Elsässer grob. »Komm, Prätle.«

»Passiert!« sagte die Stimme höflich. Berblinger fühlte sich an der Hand gefaßt, und beide tappten sich an der Wand weiter. Man hörte jetzt laute Stimmen. Nach wenigen Schritten öffnete sich eine niedere Tür, durch die in trübem rötlichen Licht schwerer Tabaksqualm aus einer überhitzten Stube drang.

Sie traten ein. An einem langen Tisch saßen wohl gegen zwanzig wunderliche Gestalten, von denen die meisten als traurige oder komische Karikaturen der Menschheit gelten konnten: rote aufgedunsene, bleiche abgemagerte Gesichter, struppige Bärte und brutale, unangenehm glattrasierte Kinnladen; alle in ärmlichen, teilweise zerlumpten Kleidern, von denen einige bessere Tage gesehen hatten. Über dem Ganzen hing ein fast undurchdringlicher bläulicher Dunst, der Berblingers Gruß in ein heftiges Husten verwandelte. In der Mitte, auf dem Tisch, stand ähnlich wie in Zunftherbergen eine Lade mit geöffnetem Deckel, sehr einfach in der Form, aber grellrot angestrichen. Jeder der Gäste hatte seinen Krug Bier oder ein Glas Äpfelwein vor sich, und fast alle winkten François lärmend zu.

»Juhe, der Franzos! Vivallera, der Sansculotte!«

»Der und ein Sansculotte!« schrie ein langer Kerl mit struppigem Haarbusch in einem bis an den Hals zugeknöpften schwarzen Rock, welcher einem Geistlichen gehört haben mochte. Es war ein Schauspieler vom letztverkrachten Ulmer Stadttheater. »Der! Nichts weiter als ein rabiater Antizünftler!«

»Und bringt einen Jungen mit! Was soll das?« fragte ein kleiner verwachsener Knopf, seines Zeichens Setzer beim amtlichen bayrischen Intelligenzblatt, wo er für eine Hauptstütze von Thron und Altar galt.

»Wenn ihr keine Jungen haben wollt, könnt ihr euch alle aufknöpfen lassen!« lachte François, nahm einen leeren Stuhl neben der roten Lade ein und bot Berblinger einen Sitz an seiner Seite. »Mit Gunst, ihr Herren! Die Jungen müssen's machen, wenn wir etwas erleben wollen. Ich stehe gut für ihn.«

»Er wird seine Handwerksphrasen nicht los!« knurrte der Schwarzberockte. »Raus mit dem Kies! Du verdienst mehr Geld, als du verdienst!«

Lachend warf François zwei Batzen in die Lade.

»Etwas Neues heute?« fragte er seine Nachbarn.

»Mit deinen Franzosen geht's schief«, brummte ein vierschrötiger Grobschmied, dem es neben dem Schauspieler nicht ganz wohl zu sein schien. »Wo ist eure Freiheit jetzt? Es hat seine Richtigkeit: der Napoleon wird Kaiser und die Republik holt der Teufel.«

»Nur nicht bange!« versetzte François. »Ihr Ulmer versteht das nicht. Konsul oder Kaiser, mit den Zünften räumt er auf. Der Zopf liegt unter dem Messer. Jeder Junge wird Meister, wenn's ihm gutdünkt. Kein Meister hat ausgelernt. Das ist mein Evangelium in zwei Sätzen, und sobald wir soweit sind, schlag' ich meinen eignen Werktisch auf und kleid' euch alle in lange Hosen, daß ihr euch vor keinem Kaiser zu schämen braucht. Dich mach' ich zum Altgesellen, Prätle, wenn du dich in deiner Dummheit noch dazu eignest.«

Alle lachten. »Vivat der Sansculotte als Hosenschneider!«

»Gleichheit, Gleichheit!« fuhr François ernsthaft fort. »Das muß uns alle aus dem Elend reißen, sag' ich. Wir haben's lang genug in andrer Weise probiert; nun soll's einmal so probiert werden. Es hat sich drüben in Paris bewährt, und wer's nicht glaubt, wird massakriert. Und geheiratet wird, wann und wo und wie man will, ob's der Zunft gefällt oder nicht. Freiheit! Freiheit in Lieb' und Haß! Paßt nur auf: Macht's der Konsul nicht, macht's der Kaiser. Nicht der eure, wohlgemerkt. In eurem Ulm ist nichts zu finden als Zöpfe, Zöpfe, Zöpfe! Von drüben muß die Schere kommen, die sie absäbelt, und wenn die Haut mitgeht!«

»Er hat recht, der François«, rief der Komödiant und schlug mit einem Stock auf den Tisch, daß alle Krüge hüpften. »Menschenrechte wollen wir haben! Wer ist die Menschheit? – Die Mehrheit! – Wer ist die Mehrheit? – Wir, die Armen, die Elenden, die Lumpen. Volksstimme, Gottesstimme! Nicht als ob ich nach unserm Herrgott fragte; er hat auch nicht nach mir gefragt. Ob er uns die Menschenrechte gegeben hat, weiß man nicht. Verlorengegangen waren sie jedenfalls, und gefunden haben sie Leute, denen er nicht grün ist: der Voltaire und der Rousseau und andre große Männer. Sie kriegen aber, sie erkämpfen, für sie bluten und sterben – Donner und Doria! – und sterben, das müssen wir können!«

»Nicht so laut!« rief ein eben eintretender Hutmachergesell, »man hört den Herrn Roland auf der Gasse draußen brüllen, und er ist der erste, davonzulaufen, wenn's am Laden klopft.«

»Der Spengler kann sein ungewaschenes Maul nicht im Zaum halten«, klagte der Schwarze, sehr viel leiser; »aber Patrioten sind und bleiben wir, ob wir laufen oder stehen, und anders muß es werden. Wie es mit der verrotteten Reichsstadt zu Ende ging, muß es auch mit dem bayrischen Regiment gehen! Mit allem Regiment. Menschenrechte wollen wir haben, keine bayrischen, und wer uns dazu verhilft, ist unser Freund und Retter, sei's ein Franzos oder ein Türke!«

»Na, das versteht sich«, sagte die spitzige kleine Stimme eines entlassenen Steuerbeamten, der das Zuchthaus gerade noch gestreift hatte. »Ich wollte, der Marquis Posa ließe uns mit seinen alten Menschenrechten in Ruh. Kann ich sie essen? Kann ich sie versaufen? Menschenrecht? Dahinter stinkt's schon nach Tyrannei. Gleichheit, Gleichheit brauchen wir. Keine Reichen, keine Armen mehr! Nicht ein halbes Dutzend, die sich die Bäuche füllen, und sechshundert, die nicht soviel zu fressen haben als die andern Hunde. Ich habe sieben Kinder und morgen nichts zu nagen und zu beißen. Gleichheit verlange ich. Wenn sie uns der Herrgott im Himmel nicht gibt, müssen wir sie uns selbst fabrizieren. Sie haben eine Maschine dazu erfunden, drüben überm Rhein, die sich bewährt hat.«

François drohte aufzustehen, um die oft geschilderte Guillotine wieder einmal zu beschreiben.

»Ihr habt alle recht«, sagte der bucklige Setzer hastig, »darauf beruht die wahre Brüderlichkeit. Ich kenne das, denn damit halten wir auch unser Intelligenzblatt über Wasser. Wer das nicht zugibt, wer die Brüderlichkeit nicht verehrt wie eine Gottheit, muß in sein Jenseits befördert werden, so schnell es gehen mag, und soll sehen, wie's drüben aussieht. Aller Aberglauben muß abgeschafft werden, alle Pfaffenwirtschaft, die vom Teufel ist, mag er holen. Nicht, als ob ich an ihn glaubte. Ich glaube an ein einiges, unteilbares Ich, und damit Punktum. Man muß die wahre Brüderlichkeit nur recht verstehen. Jeder sein eigener Bruder! Darin liegt das Geheimnis des Zukunftsstaats, der in Liebe alle Welt umschlingt, namentlich die Weiber.«

Alle lachten. Sie wußten, es war dies des Buckligen schwache Seite, und das Schöne dieser Versammlung war, daß jeder seine schwache Seite nach oben kehren konnte, ohne sich schämen zu müssen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Wie es auch in besseren Kreisen zu geschehen pflegt: Die schönen Worte decken alles, und alle klammerten sich an die schönen Worte, wenn dem einen oder andern der Patrioten vor ihrem eigenen Gebrüll bange werden wollte. Denn es waren immerhin Deutsche, zumeist Schwaben, denen schöne Worte, die sie nicht zu handhaben wissen, von jeher gewaltig imponierten.

Berblinger hörte wohl eine Stunde lang andächtig zu. Das manchmal fast sinnlose Geschwätz, das rohe Geschrei der Weltumstürzler widerte ihn an, aber er war auch nicht ohne Empfindung für die lebendigen Kräfte, die am Umsturz der alten Zeit arbeiteten. Einiges von dem, was sie zu Fall brachte, hatte er, so jung er war, am eignen Leib erfahren, manches auch schon gesehen und gehört. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Der herrliche Sinn, der in den Worten lag, wurde selbst durch den häßlichen Lärm in der dumpfigen Kneipe nicht erstickt. Ein- oder zweimal hatte er versucht, ein Wort, eine Frage einzuschieben, aber bald genug erkannt, daß es besser war, sich ruhig zu verhalten, und mehr und mehr erfaßte ihn eine tiefe Verstimmung, eine ungeduldige Traurigkeit, die er sich kaum erklären konnte. Schließlich bat er François um den Hausschlüssel. Er wollte ihn in der Tür steckenlassen... Ihm sei übel. Der Elsässer lachte. »Was, Bub? Ist dir der Tabak zu stark, der hier geraucht wird? Gib Obacht! Wenn der Napoleon erst Herr im Land ist, rauchen wir alle noch ein ganz andres Kraut: Pulver und Blut. Lauf und schwatz nicht, wenn dir dein Leben lieb ist.«

 

Er ging geradewegs, soweit gerade Wege im alten Ulm möglich waren, nach dem Taubengäßchen, aber langsam und nachdenklich, denn Herz und Kopf waren ihm zu voll. Hatte ihn, was diese Leute wollten, so unruhig gemacht? Konnten sie mit ihrem wirren Geschwätz eine alte Welt über den Haufen werfen und eine neue aufbauen? War das, was ihnen vorschwebte, besser als das Bestehende, so jämmerlich dieses war? Wußten sie überhaupt, was sie wollten? Sie hießen sich Patrioten und wollten nichts von einem eignen Vaterland wissen. Man munkelte in der Stadt schon seit Jahren, daß arme, halbverhungerte Leute und verkommene ›Subjekte‹ da und dort ihre Versammlungen hielten. Doch auch andre, sowohl schlechterer als besserer Art, die an der eignen Heimat verzweifelten, erwarteten das Heil von Frankreich, wo Leute, die aussahen wie die, welchen er heute begegnet war, einen Thron umgestürzt, einen König hingerichtet und eine Republik geschaffen hatten, vor der alle Welt zu zittern begann. Immer wieder klangen ihm die großen Worte in den Ohren. ›Nein und abermals nein!‹ sagte er sich dann ebensooft. ›Die Rettung muß aus andrer Richtung, mit andern Mitteln, von andern Leuten kommen. Es regte sich ja überall in der Welt, anderswo, anders. Jedermann schien zu fühlen, daß man an der Schwelle einer neuen, großen Zeit stand. Aber so? Nein!‹

Dann, als er das einsame Licht auf dem Münsterturm über den schwarzen Giebeldächern erblickte, dachte er an seinen Freund, den Turmwart. Der hatte andre Gedanken. Lag die Rettung nicht viel mehr im Schaffen als im Zerstören? In all dem Großen und Neuen, das fleißige Hände unermüdlicher Geister an allen Ecken und Enden der Welt entdeckten, erfanden, schufen? Konnte man dann das ganze Zerstörungswerk nicht sich selbst überlassen? Konnte das ganze Menschendasein nicht eine andre Form annehmen, reicher, freier, fröhlicher werden, wenn wir die Kräfte der Natur wirklich beherrschten; wenn wir zum Beispiel – da kam der alte Gedanke mit aller Macht zurück –, wenn wir wären wie die Vögel und, losgelöst von der Erde, fliegen könnten, wohin wir wollten! Es hatte seit Monaten nicht mehr daran gedacht und schlug sich auf die Stirn. »Kindskopf, Kindskopf!« Dann lief er schneller, als wollte er dem Gedanken entlaufen, und bog in das Taubengäßchen ein.

Erstaunt sah er Bockelhardts Haustüre halb offen stehen und erschrak, als ihm unter derselben Gretle entgegentrat.

»Ich hab' dich erwartet – o wie!« sagte sie mit leiser, bebender Stimme und faßte seine Hand. »Komm! Schnell! In den Hühnerstall!«

»Was soll ich dort?«

»Sehen – helfen! Schnell, eh' es zu spät ist.«

Sie zog ihn fort, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und er folgte willig genug. Sie schlüpften, wie sie es so oft getan hatten, in den wunderlichen Bau und das Treppchen hinauf. Es war hell genug; im oberen Stock brannte die alte Lampe. Dort, auf dem Stroh in der hinteren Ecke ihrer ›schönen Stube‹, lag Gotthilf, sorgfältig in eine Decke gehüllt, wie es schien, schlafend.

Sie knieten beide vor dem ärmlichen Lager nieder und blickten bange in die bleichen, abgezehrten Züge des Knaben. Berblinger sah jetzt, daß dies etwas andres war als ein einfacher Schlaf. Auf der Stirne hatte der Bewußtlose eine offene Wunde, die jedoch zu bluten aufgehört hatte; an seinen Lippen dagegen hingen Blutstropfen. Gretle beugte sich über ihn und wischte mit der Schürze die Tropfen weg. Ein krampfhaftes Zucken ging durch den ganzen Körper, und auch sie wurde geschüttelt von der Mühe, die sie sich gab, das Schluchzen zu unterdrücken.

»So liegt er seit einer Stunde«, flüsterte sie. »Ich wußte mir nicht zu helfen. Wir sind so ganz allein. Ich wartete auf dich.«

»Aber«, sagte Berblinger, der sich zu fassen, zu verstehen suchte, »wie kam er hierher?«

»Ich hatte gerade die Kinder zu Bett gebracht. Da klopft's. Ich hinunter; denke an nichts Böses. Da lehnt er an der Tür, kaum mehr imstande zu stehen; seine Kleider naß, als ob er in einem Platzregen gestanden hätte, und es hat seit Stunden nicht geregnet, die Stirne blutig. Das habe sein Meister mit einem Bierkrug getan, weil er zu spät nach Haus gekommen sei und zwei Schirme nicht fertig waren. Zu guter Letzt hab' er ihn auf die Gasse geworfen, und wie er mir das erzählt, hustet er auf einmal wie toll. Dann kam ein ganzer Strom Blut aus seinem Mund, und er taumelte, wie wenn er zuviel getrunken hätte: Gotthilf und Trinken! Da hab' ich den lieben Gott um Hilfe und Kraft angerufen, Brechtle, und er hat mir Kraft gegeben, so daß ich ihn bis hierher schleppen konnte. Auch war er noch nicht ganz weg und half mir, so gut es ging. Erst als ich ihm sein Strohlager gemacht und er ein wenig gebetet hatte, sank er ganz zusammen. So liegt er jetzt und rührt sich nicht mehr.«

»Er atmet«, sagte Berblinger, »er stirbt noch nicht.«

»Wie Gott will«, versetzte Gretle. »Ich glaube, er stirbt.«

»Wissen sie es droben?« fragte der Junge nach einer langen Pause.

»Kein Mensch hat etwas gehört. Sie schlafen alle.«

»Soll ich – die Meisterin...?«

»Nein«, sagte Gretle hastig. »Was könnten sie machen? Ich habe im Fundelhause gesehen, wie man stirbt. Lang kann's nicht mehr dauern. Laß ihn seinem Heiland.«

Wieder folgte eine lange Pause. Da plötzlich schlug der Junge die großen Augen weit auf und sah ruhig, nur etwas erstaunt um sich. Sein Blick ruhte zuerst auf seiner Schwester und fiel dann auf Berblinger. Ein freundliches Lächeln bewies, daß er wußte, wo er war.

»Hier ist gut sein, ruhig und trocken«, flüsterte er kaum hörbar. »Hier möchte ich schlafen, für immer schlafen.«

Er versuchte sich aufzurichten. Sein Freund legte das Stroh unter seinem Kopf zurecht und drückte ihn sanft aufs Lager zurück.

»Bleib nur ruhig liegen«, sagte er, »so ruhig als möglich. Du sollst hier schlafen, solang du willst.«

Da flackerte es in seinen Augen auf wie ein irres Feuer.

»Ah, ich versteh' jetzt – ich weiß alles. – Warum, warum? Gretle, ich hab' es endlich gefunden; ein Ruder steht drauf und ist ein Kreuz geworden. – Ich weiß jetzt, sie schläft trocken und warm und ist glücklich. Glücklicher als hier. Sie schickt dem Vater Grüße hinunter nach Grein und er herauf. Die Wellen murmeln und murmeln – und besorgen das. – Eine Stunde lang habe ich mit ihr gesprochen. Vom Warum wollte sie nichts wissen, aber wie sie trösten kann! – Dann winkte sie mir, und ich fiel ins Wasser. Hu, es war kalt; so kalt wie damals, als sie von uns ging. Da wollt' ich nicht. – Jetzt winkt sie mir wieder, und – und – ich will.«

Die Augen schlossen sich. Ein hastiges Atmen schüttelte den ganzen Körper. Berblinger faßte die Hände, die unstet auf der Decke hin und her irrten. Gretle küßte die Schweißtropfen von seiner Stirn. Dann trat wieder unter heftigem, qualvollem Husten etwas Blut auf seine Lippen, worauf er erschöpft zurücksank. Wieder schlich eine Viertelstunde in banger Stille dahin. Dann, ohne die Augen zu öffnen, sagte er fest mit seiner alten natürlichen Stimme: »Brechtle!«

Berblinger beugte sich zu ihm nieder.

»Sprich leiser«, sagte er, »ich hör' dich gut.«

»Brechtle, ich gehe heim zu meiner Mutter. Ich muß; aber ich bin froh, so froh! Nur – du weißt noch, was du mir versprochen hast.«

»Glaubst du, ich vergesse das?« fragte Berblinger mit halberstickter Stimme und suchte mit der Linken nach Gretles Hand. »Du kannst ruhig heimgehen. Du verläßt eine böse Welt, lieblose Menschen, Druck und Drang. Du kannst ruhig nach Hause gehen.«

»Halt aus, Gretle, halt aus!« rief er plötzlich laut indem er die gefalteten Hände wie in heftigem Schmerz gegen die Brust drückte.

Gretle, in der Angst ihres Herzens jetzt laut schluchzend, legte die ihren über die seinen.

»Geh, Gotthilf!« sagte Berblinger, den das Leid der Stunde verwirrte. »Drüben sind keine Schmerzen mehr. Drüben ist Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit.«

»Ich weiß, daß mein Erlöser lebt«, flüsterte Gotthilf. Dann noch ein Stoß. Sein Atem stockte.

Gretle war eine Minute ganz still und horchte. Dann warf sie sich über den Toten und schluchzte zum Herzbrechen. Berblinger blieb neben ihr auf den Knien. Als sie ruhiger zu weinen schien, legte er eine Hand auf ihre Schulter und richtete sie auf.

Sie legte beide Hände auf die weit offenen Augen des Bruders.

»Das muß man tun«, sagte sie mit der Ruhe, mit der man eine Pflicht erfüllt. »Die Toten wollen schlafen.«

»Und was soll ich tun? Bei dir bleiben?« fragte Berblinger, bereit zu allem, was dem armen Mädchen die schwere Stunde erträglicher machen könnte.

»Geh zum Magister Krummacher« sagte sie. »Ich weiß, der wird uns helfen.«

Wie ruhig sie schien; er aber konnte nicht anders. Das Weh des Lebens, die Bitterkeit des Todes zog die armen Kinder zusammen; oder war es die Allgewalt der Liebe, der Liebe, die den Tod überwindet, einer Liebe, die nicht von dieser Erde ist? Er zog Gretle an sich und küßte sie, und das Mädchen fing wieder an, bitterlich zu weinen.

Dann ging er, den Pestilenziarius zu wecken. Es war sein erster Besuch seit der Blaubeurer Zeit. Er hatte sein Versprechen gehalten. Die drei Winter waren vorüber.

 


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