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6. Auf hoher Warte

Der grämliche Mesner, anderwärts Küster genannt, der in seinen Nebenstunden, das heißt während des größeren Teils seiner Zeit, zum Ärger einer ehrbaren Zunft das Schuhzeug der Münstergeistlichkeit in Ordnung hielt, war noch an der Arbeit, während Krummacher an ihm vorüberging, und sah kopfschüttelnd auf, als er Brechtle gewahr wurde, der dicht hinter seinem Mentor die kirchliche Schusterwerkstätte betrat. Er erwiderte den Gruß des Pestilenziarius kaum, denn er war seit Jahren daran gewöhnt, ihn am Freitagnachmittag durch sein Stübchen kommen zu sehen und warf gewöhnlich nur einen prüfenden Blick auf dessen weitausbauchende Rockschöße, die einen bescheidenen Abendimbiß bargen, soweit sich zwei Krügchen Bier, ein halber Laib Brot und drei Rettiche in dieser Weise bergen ließen. Die Krummacher waren nämlich seit drei Generationen Grundeigentümer und besaßen ein Gärtchen bei Söflingen. Man sah es dem letzten Sproß des Geschlechts wohl an, wenn er mit übervollen Taschen – ein zweibeiniger Erntewagen – durchs Neue Tor kam, wie stolz er war, seine vegetarischen Bedürfnisse mit eigenen Erzeugnissen befriedigen zu können. Seine Röcke wurden dementsprechend nach besonderen Mustern hergestellt und waren dem neidischen Mesner ein dauerndes Ärgernis. Was aber hatte gar der Junge bei dem alten Narren auf dem Turm zu tun? Jetzt schon! War's nicht genug, daß ihn der Magister an jedem Unglücksfreitag in seiner gottgefälligen, sauren Arbeit für die Herren Pastores störte?

In dem engen finsteren Gang innerhalb der gewaltigen Strebemauern des Münsterturmes, den man durch das Mesnerstübchen betrat, führten ausgetretene, vierhundert Jahre alte Stufen steil nach oben. Am Fuß dieser Treppe hielt der Magister still und gab seinem Begleiter die zwei Steinkrüge. »Zerbrich mir nichts! Du sollst droben mittrinken und darfst sie, an deinem ersten Ehrentag, selbst tragen«, sagte er dabei. »Und jetzt langsam vorwärts! Langsam, bis du halb oben bist; dann kannst du meinetwegen klettern, so schnell dir's behagt.«

Zunächst ging es in dem Backsteingemäuer der südwestlichen Ecke des Münsters eine Zickzacktreppe in kurzen Absätzen empor. Nach jeder zweiten Wendung gestattete eine schräg durch das Gemäuer brechende Fensterspalte einen Blick nach außen und warf ein bleiches Licht auf die zerbröckelnden Stufen. Auch in guten alten Zeiten baute man nicht immer so solid, als wir gerne glauben möchten, so daß die alten Baumeister nach hundertzwanzigjährigem Bauen die Arbeit auf halber Höhe des Turms einstellen mußten und ihr Notdach da, wo die viereckige Form des Baues in ein Achteck übergehen sollte, aller Welt verkündete, daß auch zu Ulm Türme wie Bäume nicht in den Himmel wachsen wollen.

Beim ersten Fenster hatten sie schon die Giebelhöhe der Häuser um den Münsterplatz erreicht. Am zweiten wollte Brechtle ohne einen Blick nach außen vorüberstürmen, um die Überraschung am dritten doppelt genießen zu können. Dabei begrub er aber den Kopf in den Rockschößen des Magisters, so daß einer der Rettiche herausfiel und mit ärgerlicher Gewandtheit bis zum ersten Fenster hinunterkollerte, als ob er gewöhnt wäre, sich in Zickzacksprüngen zu erlustigen. »Eheu fugaces, Postume, Postume!« rief der Pestilenziarius. »Siehst du! Blinder Eifer schadet nur. Jetzt kannst du wieder hinuntergehen und den Flüchtling einfangen, wenn du das Festmahl würdig begehen willst, mit dem du dich aufs Landexamen vorbereiten darfst. Aber, bei Bacchus und Gambrin, festina lente! Zerbrich mir die Krüge nicht!«

Die Warnung kam um zwei Sekunden zu spät. Der kostbare Inhalt eines der Krüge strömte bereits dem Rettich nach und entzog sich mühelos jeder weiteren Verfolgung. Eine zeitgemäße Ohrfeige, mild genug unter den obwaltenden Umständen, beschloß den kleinen Zwischenfall.

Ohne weiteres Mißgeschick langten sie beim sechsten Fenster an. War das herrlich! Brechtle sah sich der Turmspitze des Barfüßerkirchleins gegenüber und blickte tief auf das Gymnasium herunter. Der Magister lächelte fast mitleidig, als ihn der Junge mit freudigem Stolz darauf aufmerksam machte, und bemerkte, das sei vorläufig und vielleicht noch für lange Jahre eine optische Täuschung. Er möge nicht vergessen, welch große Gelehrsamkeit, wie viel Weisheit sich da unten aufbaue, an der ehrerbietig hinaufzusehen seine Pflicht sei. Hielt es doch der gute Pestilenziarius seinerseits für eine heilige Pflicht, das junge Gemüt seines Schützlings bei jeder passenden Gelegenheit auf den richtigen Weg zu weisen.

Nun kam wieder ein kurzer, völlig finsterer, geradliniger Teil der Treppe, der nach dem Hauptturm und nach der Galerie über dem Dach der Vorhalle führt, die zwischen die Strebepfeiler des Turms eingebaut ist. Hier schon, in einer Höhe, die alle Gebäude der Stadt überragt, bietet sich ein prächtiger Blick nach Westen auf die zackigen Giebel, auf die Türme und Türmchen der alten Stadt und auf die grünen Felder und Berghalden jenseits der Stadtmauern, die sanft anschwellend sich gegen den nördlichen und westlichen Horizont hin erheben. Mehr noch erfreute sich Brechtle an dem reichen, nach oben schießenden Stabwerk, das die gewaltigen Strebepfeiler schmückt, an den schlanken Säulen und Säulchen, die frei in der Luft stehend sich zu schwindelnder Höhe erheben, an dem zierlich durchbrochenen Laubwerk und den reichen Fensterfüllungen, die von unten so zart und niedlich aussehen wie Spitzenwerk und hier in der Nähe wie die Rippen eines Riesenleibes erscheinen.

Doch weiter, höher!

Jetzt erst hatten sie die Wendeltreppe erreicht, die leicht und lustig an der Außenseite des Turmes emporführt. Sie drehten und drehten sich bis zum Schwindligwerden um die zierliche Mittelsäule. Dämmerung und Licht folgten sich, je nachdem sie an einer Fensterlücke vorbeikamen oder an der Innenseite des Treppentürmchens hinaufkletterten. Die Stufen selbst waren weniger ausgetreten als weiter unten; aber trotzdem ging es langsamer vorwärts; auch schien das Gewicht des einen übriggebliebenen Bierkruges gegen alle Gesetze der Natur schwerer zu werden, je weiter man sich vom Mittelpunkt der Erde entfernte. Dagegen wurden die Durchblicke ins Freie immer großartiger und befremdender. Brechtle glaubte sich mehr und mehr loszulösen von der kleinen Puppenstubenwelt dort unten, die ihm trotzdem Geheimnisse zeigte, stille Gärtchen zwischen den grauschwarzen Dächern, düstere Höfe wie Brunnenschachte, welche er nicht einmal vermutet hatte.

Jetzt kam auch eine Fensteröffnung nach dem Innern des Turmes hin. Man sah in die Glockenstube: ein Gewirr gewaltiger schwarzbrauner Balken und daran aufgehängt stumm, aber drohend die riesigen Glocken, deren eherne Stimme ihn selbst auf dem Münsterplatz unten schon erschreckt hatte. Wenn sie jetzt anfingen, sich zu bewegen! Unwillkürlich suchte er nach der Hand seines Begleiters, der ihm über die Schulter sah. Wie ihm hier die Stimmen durch Mark und Bein gehen würden, die ihn am Sonntag so feierlich zur Kirche riefen! Selbst die der kleinen dort, die unter den anderen so unschuldig aussah. Und kein Wunder! Es sei dies das Armesünderglöckchen, erklärte der Magister, das erst gestern einen Spitzbuben zum Galgen geleitet hatte. Da wirklich – der Strick bewegte sich; das Glöckchen schien zu zittern. Der Junge wandte sich weg. Ein erschütternder, dröhnender Schlag ging durch den ganzen Turm. Er fühlte das Zittern der Luft bis in die Knie. Alles schien für einen Augenblick lebendig zu werden in jähem Entsetzen – und es hatte nur ein Viertel auf sieben geschlagen! Wenn das einmal ausschlüge, Brechtle – Mitternacht! – Fast wäre es auch um den zweiten Krug geschehen gewesen.

Endlich standen sie auf der geräumigen viereckigen Plattform, welche zur Zeit nahezu die Spitze des Turmes bildete. Auf dieselbe war noch ein Stückchen der achteckigen Fortsetzung des Baues aufgesetzt, das die Höhe eines mäßigen Hauses erreicht hatte, als man vor dreihundert Jahren zu bauen aufhörte. Eines Sonntags waren ein paar gewaltige Gewölbesteine im unteren Teil des Turmes ausgebrochen und herabgestürzt und hatten die ganze Stadt mit Entsetzen erfüllt, von dem sie sich noch immer nicht erholt zu haben schien. Wenigstens wagte kein Mensch mehr, ans Weiterbauen zu denken. Denn auch Mut und Ausdauer, Glaube und Frömmigkeit, die das große Werk bis hierher geführt hatten, waren im Lauf dieser Jahrhunderte jammervoll geschwunden. Auch bemerkten die späteren Baumeister mit Schrecken, daß die Grundsteinmauern weit nicht so widerstandsfähig waren, als man angenommen hatte. So beschloß der hohe Rat, das Achteck, soweit es fertig war, mit einem provisorischen Dach zu versehen, eine provisorische Turmspitze mit grünen Ziegeln zu decken und eine gewaltige provisorische Wetterfahne darauf zu setzen. In dem Achteck aber wurden niedliche und geräumige Wächterstübchen eingerichtet, und damit war für die nächsten dreihundert Jahre wenigstens provisorisch gesorgt.

Krummacher, der das Törchen, welches in des Türmers Wohnung führte, verschlossen fand, umkreiste mit Brechtle die in prächtigen gotischen Formen gehaltene Brüstung der Plattform. An ihren vier Ecken ragten erkerartige Ausladungen keck in die Luft hinaus und gestatteten, die mit riesigen Doppelfenstern geschmückten Seiten des Turmes auch von außen zu sehen. Zwischen je zwei dieser Erker streckte einer jener wasserspeienden teuflischen Drachen oder Höllenhunde seinen fratzenhaften Leib weit hinaus über die schwindelerregende Tiefe, in der ameisengroße Menschlein, von denen man kaum mehr als Kopf, Schultern und Fußspitzen sah, scheinbar zwecklos hin und her liefen.

Auf der Ostseite sah man hinab auf das jäh abfallende Dach des Langschiffes der Kirche. Es fehlte hier noch alle Pracht, welche erst das neunzehnte Jahrhundert dem Bau gegeben hat, die zwei Osttürme, die mächtigen Strebebogen und der Wald von zierlichen Fialen entlang den Pultdächern des Seitenschiffes. Dagegen saß der Ulmer Spatz – ein riesiger Steinvogel – ernst und feierlich auf dem First des Daches und sah auf seine Stadt und sein Münster herab, als fühlte er, daß ohne ihn all das nicht entstanden wäre. Allerdings war das Ganze ein gewaltiger Torso geblieben, welchen das fünfzehnte Jahrhundert dem achtzehnten hinterlassen hatte, das ihn nicht mehr verstand. Brechtle jedoch empfand in stummem Staunen die Größe des Menschenwerks, die ihn mit einem wunderlichen und unerklärlichen Stolz erfüllte. Verständlicher war ihm, was er unter sich und jenseits der Mauern und Wälle der Stadt erblickte: der glänzende Spiegel der Donau mit ihren Zillen und Flößen, die grünen, mit Obst- und Weingärten bedeckten Höhen im Westen und Norden, die gewaltige Ebene des Donaumoores im Westen und Süden und darüber hinaus, wie hingehaucht in den sonnigen Äther, die schneegekrönten Gipfel der Alpen von der Zugspitze im Bayernland bis über den Säntis hinweg zu den Bergketten der mittleren Schweiz. Zum erstenmal zitterte das kleine Herz unter dem Zauber der Ferne, wie es den kleinen Vögelchen zumute sein mag, die halbflügge über den Nestrand ins Blaue sehen. Achtung, Vorsicht, Brechtle. Flügel werden dir ja niemals wachsen! –

Nachdem sie ihren Umgang langsam beendet hatten, sagte Krummacher etwas ungeduldig:

»Ich weiß, er schläft nicht und doch müssen wir ihn wecken. Das kommt davon, wenn die Leute am hellen Tag in den Sternen lesen.«

An dem schwarzbraunen Türchen hing ein mächtiger Klopfer, der ein Kreuz in einem Drudenfuß darstellte, ein wunderliches Zeichen: himmlische und höllische Mächte vereint. Der Magister mußte zweimal klopfen. Dann öffnete sich das Türchen langsam, und ein großer Mann in einem talarartigen Pelzmantel erschien. Es war eine ehrwürdige, etwas gebückte Gestalt, die Brechtle kaum anzusehen wagte. Er war nicht mehr ganz sicher, daß es keine Hexenmeister gab, obgleich er sie sich anders vorgestellt hatte.

In langen, schneeweißen Locken fiel dem Mann das Haupthaar bis auf die Schultern, doch sah man auf einen Blick, daß er keine Perücke trug. Der Bart strömte ihm in zwei mächtigen Wellen über die Brust herab. Die Gesichtszüge, soweit sie unter dem löwenartigen Haarschmuck hervortraten, waren feingeschnitten und regelmäßig. Stahlgraue Augen funkelten förmlich, aber nicht unfreundlich unter den buschigen Brauen und belebten ein mumienbraunes Gesicht in fast unheimlicher Weise. Brechtle fürchtete sich vor dem schönen alten Mann mehr, als er sich seinerzeit vor dem häßlichen Pestilenziarius gefürchtet hatte, obgleich jener den Magister ein wenig herablassend, aber doch freundlich genug begrüßte. Dieser fuhr in seine Rocktaschen und zog aus verschiedenen Teilen des sinnig eingerichteten Gewandes die drei Rettiche, ein in Pergament eingeschlagenes Stück Butter, zwei halbe Laibe Schwarzbrot und einen Brief hervor, den er dem Türmer überreichte.

»Ich war wie gewöhnlich für dich bei dem Stuttgarter Postboten und bringe dir, was er brachte«, sagte er halblaut, wie wenn es sich um ein hohes Staatsgeheimnis handelte. »Nur ein Brief, aber ein gewichtiger, wie es scheint. Kostet sechsunddreißig Kreuzer Ulmer Geld.«

»Aus England«, versetzte der Türmer, den Brief vorsichtig öffnend. »Die sind meist das Geld wert, das sie kosten. Sie lassen sich dort drüben von dem Sturm, der durch die Welt fegt, nicht in ihrer Arbeit stören, die aufbauen wird, was die andere zerstören und ihr verfaulen laßt. Das macht, sie sitzen auf einer Insel wie ich auf meinem Turm. Wenn ich noch einmal herunterstiege, ohne von vier Mann getragen zu werden, ginge ich nach England. Dort sind Leute, die mir behagen. Wissen, was sie wollen und tun es. Aber komm herein! – Und das also ist das Männchen, das dich zur Zeit am Leben erhält. Laß dich sehen, kleiner Wohltäter meines Freundes!«

Er lachte gutmütig, faßte Brechtle am Ohr und zog ihn zu sich her. Der Kleine machte eine Grimasse, denn der alte Herr hatte eine kräftige Art zuzugreifen.

»Nur nicht bange, kleiner Taugenichts«, fuhr er fort. »Sie werden dich noch ganz anders zwicken dort unten. Berblinger also heißt du? Weißt du, daß ich deinen Vater gekannt habe? Er kam mehr als einmal zu mir herauf. Hätt' ich ihn gezwickt wie dich, hätt' er sich vielleicht nicht zum Schulmeister verirrt, wäre auch nicht ein Perpetuum stabile geworden. Es gibt so unglaublich viel Vernünftigeres zu tun auf dieser Erde. Nun ist's vorbei; Gott hab' ihn selig. Er hat wenigstens dich hinterlassen, und mit den Jungen fängt man doch immer wieder an zu hoffen, seit Adams Zeiten. Merkwürdig, Krummacher, daß das Hoffen nicht aufhören will. Gehört wohl ins Kapitel der Perpetua mobilia eines anderen Erfinders. Aber kommt herein. Küche und Keller sind auch hier oben noch nicht leer.«

Sie traten in das Innere des Turmes, wo sie eine geräumige, mit fremdartigem Hausgerät ausgestattete Stube aufnahm. Durch die kleinen Fenster, die nach allen Himmelsrichtungen offenstanden, sah man nichts als Himmel, tiefblau gegen Osten, glutrot gegen Westen. Brechtle kam es vor, als schwebte er in einer überirdischen Welt, in die sich einiges wenige von unten herauf verirrt hatte: die Rettiche, der Bierkrug und dergleichen. Drei Zinnteller, die Reste eines Schinkens deuteten an, daß man sie erwartet hatte. Ein gedeckter Tisch nahm die eine Ecke der Stube ein; in der anderen sah es etwas interessanter aus. Dort standen auf einer buntbemalten Truhe ein Himmelsglobus und ein Fernrohr, ein paar altertümliche Bücher, wunderlich geformte Glasflaschen und daneben auf dem Boden eine Elektrisiermaschine. Herr Lombard war sichtlich kein Turmwächter gewöhnlichen Schlags.

Sie setzten sich. Ihr Wirt wollte nichts vom Bier wissen, das sie mitgebracht hatten.

»Hättet ihr eine Flasche frischen Wassers heraufgenommen, hätt' ich euch gedankt. Ihr Bier mögen die Ulmer selbst trinken. Hier oben brauche ich ein klares Auge und eine stetige Hand. Es geht noch für meine Jahre, aber nur mit Wasser. Nichts für ungut, Krummacher, und Prosit!«

Sie füllten die Zinnbecher und tranken. Brechtle hatte zu seiner großen Befriedigung einen kleinen Glasstiefel erhalten, den ihm der Pestilenziarius füllte. Der Türmer schüttelte den Kopf und fuhr fort:

»Ihr denkt wunder was von der Kraft, die in eurem Bier steckt! Weißt du, daß man anfängt, die Welt mit Wasser aus den Angeln zu heben? Mit Wasser und Feuer. Drüben in England brachten sie's fertig, und ihr wart selbst nahe genug dran, es zu tun. Hättet's getan, wenn nicht die Besten von euch die Nasen in Bücher und Biergläser steckten, bis sie blind und taub sind. Euer Wohl! Laß dir's schmecken, Brechtle!«

Der Junge war nicht abgeneigt, einem gesunden Appetit freies Spiel zu lassen und bearbeitete seinen Rettich mit einer Geschicklichkeit, die weit über seine Jahre ging. Gieriger aber hing er an den Lippen des alten Mannes, der ihn anzog wie die Schlange ein Kaninchen, obgleich sein Gespräch mit Krummacher nichts Ungewöhnliches hatte. Sie redeten von den jüngsten Ereignissen drunten in der Stadt, vom letzten Feuer, von den Durchzügen und Einquartierungen, von der wachsenden Not, die die unruhigen Kriegszeiten schon jetzt über Stadt und Land gebracht hatten. Der Pestilenziarius gab unwillig zu, daß er diese Welt nicht mehr verstehe:

»Fortschritt? Freiheit? Brüderlichkeit? – Puh! Mord und Totschlag, Raub und Diebstahl in allen Richtungen. Abwärts geht's, Schritt für Schritt, seit einem Menschenalter. Der erste Schritt war, als sie aufhörten, gegen die Pestilenz zu beten und die Pestilenziarii, die zwei Jahrhunderte lang getreulich, wenn auch nicht immer erfolgreich ihres Amtes gewaltet hatten, kurzerhand abschafften. Nun hat die Rotte Korah in Frankreich unseren Herrgott selbst abgeschafft und bringt ihre Aufklärung mit Feuer und Schwert und mit dem erlogenen Geschrei von der Brüderlichkeit bis ins friedliche Ulm, wo ein Drittel der Bürgerschaft der Ansteckung erliegt. Hoffentlich sind wir bald auf der untersten Stufe ihres Fortschrittes angelangt und ist die Hölle bereit, das neue Sodom und Gomorra zu verschlingen.«

Brechtle hatte seinen Mentor noch nie so lebhaft sprechen gehört. Drunten war er zurückhaltend, schüchtern, sanft. Das machte wohl die Höhenluft auf der Spitze des Münsterturmes, die freie Einsamkeit hier oben. Lombard nickte dem eifrigen Männchen zu und lächelte.

»Das ist eure Weltgeschichte, in der Nähe betrachtet«, unterbrach er ihn endlich; »ein häßlicher Lärm ohne Ziel und Zweck, ein Wogen und Wallen, das uns zu Boden wirft. Wenn wir dann nach dem Sturm wieder aufstehen, erschöpft und betäubt, mit der Frage auf den zitternden Lippen: ›Wozu? Wozu?‹ – antwortet sie uns? War's nicht so, nachdem sie sich in euren deutschen Landen dreißig Jahre lang bis zum Verbluten um Rätsel gestritten hatten, die heute noch ungelöst auf uns lasten? Wird es anders sein, wenn sie sich abermals, vielleicht dreißig Jahre lang, um anderer Rätsel willen die Schädel einschlagen, Rätsel, die uns ebensowenig der Erlösung näherbringen werden?«

Der Magister sah nachdenklich in seinen Becher. Er traute seinem Freund nur halb. Auch hier oben war man vor gewissen Ansteckungen nicht sicher, sonderlich wenn man die Keime von unten mitgebracht und jahrelang in sich getragen hatte.

»Da lob' ich mir meine englischen Freunde«, fuhr der wunderliche Türmer fort und zog seinen Brief aus der Tasche. »Dort arbeiten sie an einem Fortschritt, von dem die Calvinisten, Papisten und Lutheraner von damals, die republikanischen Schreier und heulenden Royalisten von heute keine Ahnung haben, und formen das Leben der Menschheit nicht ohne Mühe – weiß Gott, nicht ohne Kampf und Mühe –, aber in aller Stille. Nach Jahrzehnten, vielleicht nach einem Jahrhundert wird eine neue Welt dastehen, voll von ungeahnten Wundern, die sich selbst kaum wiedererkennt. Es war immer so. Die Kleinen und Stillen bauen, die Großen zerstören; und lange wird's noch dauern, bis man begreift, daß die Kleinen die wahrhaft Großen sind.«

»Da magst du recht haben«, versetzte der Pestilenziarius mit einem ungewohnten Anflug von Humor. »Ich zum Beispiel fühle noch nichts von der Größe, die mir anhaftet.«

»Das glaube ich dir«, entgegnete Lombard, ohne zu lachen. »Aber auch bei euch gibt es Leute der Art. Wenn sie nur nicht alles Heil in ihrer Gedankenarbeit sehen wollten. Wir sind Menschen, Magister, und sind an die Erde gebunden. Hier können und sollen wir herrschen. In der Geisteswelt werden wir ewig dienen und warten müssen, bis einmal ein Lichtstrahl, wer weiß woher, in das ewige Dunkel fällt. Den Geistern gehört das Jenseits. Wir aber sollen die Herren dieser Erde sein. Feuer und Wasser sind uns untertan und selbst im Reich der Luft sind wir zum Herrschen bestimmt.«

War es Zufall, daß Brechtle, der von all dem nicht viel verstand, die Ohren spitzte, wie ein Wachtelhündchen, das zum erstenmal einen Spielhahn sichtet.

Lombard öffnete den Brief, der neben ihm lag.

»Siehst du, Pestilenziarius, da schreibt mir ein gewisser Hornblower, den ich vor langer Zeit, als ich noch unten war, auf meinen Reisen kennenlernte, daß er nun sicher sei, eine gewaltige Verbesserung an den Feuermaschinen erfunden zu haben, von denen drüben alle Welt spricht. Expansion nennt er's. Klingt das nicht, als ob man tiefer und freier atmen müßte. Auch bei uns, in den Bergwerken Schlesiens, stellen sie diese Maschinen auf, die das Wasser mit Feuer den Berg hinauftreiben. Hornblower schreibt, sein Freund Watt – die Freundschaft ist nicht allzu groß, aber sie ziehen an einem Strang – habe sich ein Patent geben lassen, mit Feuerdampf zu pflügen und Wagen zu ziehen, und ein Schotte, Patrick Miller, habe damit ein Schiff durchs Wasser getrieben, ehe – ehe er bankrott geworden sei.«

»Sie sind wohl verrückt, deine Engländer«, unterbrach ihn Krummacher.

»Wenn du es verrückt heißt, die Grenzen zu verrücken, die unser Wissen und Können heute umschließen«, versetzte der Türmer. »Auch ich würde sie für verrückt halten, wenn sie beim Wissen stehenblieben. Aber sie machen das, wovon wir sprechen und schreiben. Sie beginnen mit dem Können. Übrigens haben wir schon vor hundert Jahren dergleichen Leute im Land gehabt. Der gelehrte Papin hat Feuermaschinen gebaut und wollte ein Feuerschiff auf die Weser setzen. Man hat es ihm in Stücke gerissen, weil man ihn auch für verrückt hielt und sein Schiff für eine Ausgeburt der Hölle. Er selbst ist zugrunde gegangen; seine Gedanken aber kamen nicht zur Ruhe. Die Kohle, die man aus der Erde gräbt, verwandeln sie jetzt in Kraft, und mit Kraft ist alles zu machen, was wir auf Erden brauchen.«

Jetzt fühlte auch Brechtle, der sein Stiefelchen Bier ausgetrunken hatte, ungewöhnlichen Mut und das Bedürfnis, mitzusprechen.

»Mein Vater hat ein Perpetulum gebaut«, begann er.

»Nicht Perpetulum«, unterbrach ihn Krummacher errötend.

»Perpetuum mobile«, verbesserte sich der Junge, ohne im geringsten den Mut zu verlieren. »Das hätte auch Kraft gegeben, wenn es gelaufen wäre.«

»Ich weiß, ich weiß!« sagte Lombard und sah den Jungen aufmerksam an. »Ich höre alles hier oben auf meinem Turm. Ist es denn nicht gelaufen?«

»Nein«, erwiderte der Kleine halb zornig, halb traurig. »Sie haben meinen Vater totgeschossen, die Franzosen, ehe es fertig war. Aber ich will's fertig machen, sobald ich groß genug bin.«

»Armer Bub«, sagte der Türmer mitleidig. »Wäre dein Vater so alt geworden wie Methusala, es wäre nie fertig geworden, und dir wird es nicht besser gehen. Es gibt Dinge, die der Mensch, es gibt andere, die nur der Weltgeist machen kann. Zu denen gehört Kraft.«

»Aber Ihre Feuermaschine? Die Kraft, die sie gibt?« fragte Brechtle ungeduldig.

»Kommt aus der Ewigkeit!« versetzte der Türmer ernst. »Der Bub will zu viel wissen, Krummacher. Was wir kaum ahnen können, braucht ein Kind nicht zu begreifen. Übrigens gehört das Ahnen auch zu unserem Rüstzeug; die größten Dinge, die der Mensch erkannt oder geschaffen hat, verdankt er dem Ahnen. Wenn ich in der Nacht draußen sitze vor meinem Wächterhäuschen und nichts um mich habe als Luft, reine Luft und über mir den Sternenhimmel – nehmt eure Stühle mit, ihr sollt es sehen.«

Der Imbiß war längst beendet, das bescheidene Bierkrüglein geleert. Auch war die Sonne untergegangen und das Abendrot langsam erloschen, als sie auf die Plattform hinaustraten. Sie stellten ihre Stühle gegen die Wand des Häuschens. Schweigend ließ sich Lombard auf dem mittleren nieder und winkte dem Magister, zu seiner Rechten Platz zu nehmen. Brechtle setzte sich schüchtern auf die Ecke des dritten Stuhles und sah von Zeit zu Zeit unruhig nach hinten, denn die Rücklehne, ein großes schwarzbraunes fratzenhaftes Gesicht mit fletschenden Zähnen, betrachtete ihn gar zu boshaft.

Sie blickten nach Osten, auf das schwindelnd steile Kirchdach nieder, auf dessen First noch immer schwer und ernst der steinerne Vogel saß, in welchem Ulm eine Art illegalen Wappentiers verehrte. Dort über dem weißen Dust des Donaumoores rund und fast erschreckend groß ging der Mond auf und goß sein ruhiges, silbernes Licht über das dämmernde Bild aus. Ein Sternchen um das andere wurde am Firmament sichtbar und begann zu flimmern wie ein freundlicher, aber stummer Bote aus der Unendlichkeit. Auch um sie her regte sich das heimliche Leben der Nacht. Unter ihren Füßen im Maßwerk des nächsten Turmfensters fauchten sechs schneeweiße Eulenkinder mit schauerlichem Wohlbehagen. Fledermäuse schossen von Zeit zu Zeit blitzschnell durch die Luft. Die alte Eule, ein großer schwarzbrauner Vogel, hing fast neben ihnen in der Luft, stieg und senkte sich, beinahe ohne die ausgebreiteten Flügel zu rühren, und wartete, scheinbar in schwermütigen Gedanken, auf die Kirchenmaus, die man an der nächsten Dachrinne knuspern hörte.

Sie schwiegen lange. Der Zauber der Ruhe, der über alldem lag, die stille Stadt, in der nur da und dort ein Lichtchen flimmerte, gerade wie über ihnen am Firmament, der laue Nachtwind, der um die Turmspitze zog, das leise Krächzen der Wetterfahne, die sich wie im Traum bewegte, all das mochte schuld daran sein. Brechtle sah auf und wunderte sich über das bleiche Gesicht und die starren glänzenden Augen des Türmers, die in weite Ferne blickten, ohne etwas zu sehen, und die lange, dünne Hand, die von Zeit zu Zeit ein nervöses Zucken bewegte.

»Amice, quo vadis?« sagte endlich Krummacher leise, wie wenn er mit sich selbst spräche. Ein Schauder zitterte durch den Körper des alten Mannes, der sich mit einem Stoß aufrichtete und sich an seinen Nachbar links wandte.

»Was willst du werden, Brechtle?«

Dem Jungen fiel ein, daß ihn der Pestilenziarius genau vor zwei Jahren dasselbe gefragt und in welche Not ihn seine Antwort gebracht hatte. Er wollte diesmal sichergehen und antwortete:

»Ein Landexaminant, Herr Lombard!«

Der Pestilenziarius freute sich seines Schülers. Er dachte ebenfalls an den Vogel von früher. Das war nun doch eine vernünftige Antwort, wenn auch noch nicht ganz befriedigend. Lombard lächelte.

»Wie lange habt ihr ihn schon in der Dressur?« fragte er nach rechts hinüber. »Jedenfalls wird es nicht mehr lange dauern, bis er jede Erinnerung daran verloren hat, was ihm im Blut steckt, und das ist wohl das beste für euch beide. Denn zwei Münstertürme gibt's nicht, weit und breit, und wo sollte man all die ungelenken und ungefiederten Vögel unterbringen! Ich hatte Narrenglück, das mir mein Leben lang treu blieb. Man sollte solche Treue nicht für möglich halten.«

»Noch solchen Glauben«, seufzte Krummacher.

»Das macht, ich sehe etwas weiter hinaus als ihr; über den Jammer weg, der euch verzehrt. Das kommt von den stillen, klaren Nächten hier oben, und wenn alle vier, fünf Jahre ein kleiner Junge zu mir heraufkommt, wie dein Brechtle, oder wenn ich sie jeden Mittag zu Hunderten aus der Schule herauswimmeln sehe, denke ich nicht daran, zu verzweifeln. Ich weiß, auch der Schöpfer fängt mit jedem Tag wieder aufs neue an und verliert die Hoffnung nicht. Steig auf den Münsterturm und sieh dich um. Langsam geht es vorwärts, trotz allem Jammer.«

»Den Jammer sehe ich wohl; wie es vorwärts gehen soll, will mir nicht einleuchten«, versetzte der Magister. »Das eine oder andere ließe sich ja anführen. Wir verstehen heute unseren Horatium Flaccum besser als vor fünfzig Jahren.«

»Das nenne ich fortschreiten nach rückwärts«, erklärte der Türmer. »Aber wir lernen Neues und mehr. Es gärt und schafft, wie frischer Saft in den Bäumen, unmerklich für Millionen, die staunen werden, wenn die Knospen springen. Wer weiß, was Brechtle noch sehen wird, wenn wir begraben und vermodert sind. Tun wir nicht heute schon Wunder, die unsere Väter für Zauberei gehalten hätten? Packen wir nicht den Blitz der alten Götter und leiten ihn, wohin wir wollen?«

»Davor wolle uns der Herr behüten«, rief der Pestilenziarius erschrocken. »Vergiß nicht, daß wir in Gottes Haus sind.«

»Ich denke dran. Doch stehen wir darüber, wenn du der Wahrheit die Ehre schenken willst«, sagte Lombard leise, fast feierlich. »Er wohnt nicht in Häusern aus Stein, dein Gott. Siehst du das eiserne Gestänge dort oben? Zwanzig Jahre lang habe ich bei eurem Magistrat und bei eurer Geistlichkeit dafür gefochten. Fünfmal hat in diesen zwanzig Jahren der Blitz in den Turm geschlagen. Erst hießen sie's Gotteslästerung, dem Blitz seine Wege weisen zu wollen. Dann war es Unsinn und Wahnwitz; dann war es billiger, sich der Gnade des Herrn anzuvertrauen. Vor wenigen Monaten endlich ließen sie das Teufelswerk auf das Gotteshaus setzen und erst vorige Woche – du mußt das Krachen in deiner Maulwurfshöhle gehört haben – fuhr ein Blitz harmlos an dem Gestänge herunter, in den Boden. Ich dankte hier oben unserem Schöpfer, daß er dem Menschen Vernunft gab und noch täglich gibt, wenn auch langsam – langsam! In andrer Weise ertragen es die Leute nicht.«

Brechtle, der neben dem Blitzableiter saß, berührte ihn vorsichtig mit dem Finger.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Bub!« lächelte der Türmer. »Wir hexen hier oben nur so weit, als es unser Herrgott erlaubt, und auch drunten hexen sie nicht weiter. Aber sie kommen vorwärts, Krummacher, vorwärts. Ich habe ja nichts mehr damit zu tun, ein alter Mann, mit dem's zu Ende geht, aber ich wollte, ich könnte dir klarmachen, woran sie sind, und wie weit. Kraft aus Kohle. Gottes Kraft aus Gottes Kohle, wenn dir's so besser gefällt. Ich sehe nicht ein, wozu wir hierbei den Hexenmeister brauchen sollten. Es gärt und brodelt rings um uns her: in England, in Frankreich, in unserem bedächtigen Deutschland. Ich sage dir, wir stehen an der Schwelle einer großen Zeit.«

»Einer Jammerzeit«, stöhnte Krummacher, »mit den Franzosen, mit den Atheisten an der Spitze, die Brandfackel in der Hand, die Kriegsfurien hinterher.«

»Nicht so, mein Freund«, antwortete Lombard mild. »Die bläst ein Wind auseinander, wie die Heuschreckenschwärme der Wüste. All der Lärm, all das Drängen, all das Schwitzen und Bluten ist verwunden und vergessen in einer Kürze. Leise, aber unaufhaltsam wie heute nacht in Millionen Bäumen steigt der Saft des Lebens in die Höhe und schafft Neues, von dem wir nichts ahnen. Ich bin ein alter Mann, Krummacher, und manchmal scheint mir, ich würde taub und blind. Dann aber ist mir auch wieder, als sähe ich besser als ihr. Die Kraft der Urzeit in der Menschen Hand. Das wird uns um ein Stück weiterführen.«

»Etwas Ähnliches sagte der alte Berblinger, wenn er von seinem Perpetuum mobile schwatzte«, murmelte der Pestilenziarius vorwurfsvoll.

»Das war der Irrtum eines braven Mannes«, entgegnete Lombard eifrig. »Es irrt der Mensch, solang er strebt. Auch das hat einer der Neuen entdeckt. Gott lohn's ihm. Gott gab's ihm. Kraft können wir nicht schaffen. Das hat sich der Schöpfer vorbehalten. Aber seine Kräfte fassen, lenken, gebrauchen, das lernen wir. Warte ein halbes Jahrhundert! Dann brauchen wir keine Pferde mehr, um durch die Welt zu jagen, keine Ochsen und Esel, unsere Lasten zu tragen, keine Verbrecher und Sklaven, unsere Schiffe zu rudern. Dann kommen die Donauboote von selbst den Fluß herauf. Die Kraft für all das steht uns zu Gebot und wird die unsere tausendfach verstärken. O Krummacher, daß wir alte Leute sind! Es sollte mich nicht wundern, wenn Brechtle in einem Feuerwagen in vierundzwanzig Stunden nach England führe und Brechtles Buben mit der Kraft des Blitzes um den Erdball sausten.«

»Du bist ein gottloser Phantast!« schalt der Magister. »Möge der Herr dir verzeihen um deines Herzens willen. Er hat die Grenzen der Erde befestigt und seinen Geschöpfen Beine gegeben von bestimmter Länge. Wir werden nicht ungestraft seine Maße verlängern oder verkürzen.«

»Aber er hat uns auch einen Geist gegeben, und dem Geist Verstand; auch dir, Krummacher. Den sollen wir gebrauchen, in seiner und unserer Welt. Dafür hat er keine Grenzen bestimmt. Wenn Brechtle ein Vogel werden wollte, wie du mir erzählt hast, braucht er sich nur redlich Mühe zu geben.«

Lombard schmunzelte, Krummacher aber wurde ernstlich böse.

»Still, still! Versündige dich nicht. Du sollst mir das Kind nicht ärgern! Es ist wahrhaftig genug an Brechtles Vater.«

»Ärgere mich nicht, Pestilenziarius!« entgegnete der Türmer lebhaft. »Wie kann ich's ändern, daß ich sehe, daß du nicht siehst. Beobachte die Eule dort im Mondlicht, die langsam um den Turm kreist. Sie sucht Nahrung für ihre Jungen, die dort unter dem Spitzbogen sitzen. Warum soll uns versagt sein, was die Eule kann. Sind wir etwa nicht die Herren der Schöpfung auf Erden? Können wir nicht mit Flügeln schlagen lernen? Es sieht sich einfach genug an. Können wir uns nicht die Kraft borgen – bald – vielleicht in wenigen Jahrzehnten, um mit dem Druck eines Fingers tausend Tonnen zu heben? Das sehe ich so klar, wie den Mondschein dort auf den Flügeln der Eule. Warum sollten wir unsere hundertfünfzig Pfund nicht heben können wie das dumme Tier seine fünf. Laß dem rechten Mann den rechten Gedanken kommen und wir fliegen alle wie die Sperlinge. Das wird ein Geflatter sein und ein Gezwitscher, und die Menschen werden den Engeln des Himmels abermals um einen Schritt näherkommen.«

»Ikarus! Ikarus!«

»Bleib mir mit deinen alten Geschichten vom Leib!« rief der Türmer und sprang auf. »Sieh hinunter in dieses Meer der Luft, sieh hinauf in den Sternenhimmel, der über uns funkelt, und sieh hinaus in die Unendlichkeit der Zeiten, die vor uns liegen! Und dann sieh in dich hinein und in die Seele der Menschheit, in der es schafft und gärt und emporstrebt. Wo ist dem allem eine Grenze gesetzt? Fliegen? Jedes Schwälbchen tut es alltäglich um meinen Turm herum und wir sollten es nicht tun, für alle Zeiten? Wer ist Tor genug, das zu glauben?«

Brechtle hatte mit weitaufgerissenen Augen und fliegendem Atem zugehört. Sie standen an der Brüstung der Plattform, und der Junge kletterte an ihr hinauf, als ob er des Fliegens schon so ziemlich sicher wäre, den Blick auf das Gesicht des Türmers gerichtet, das im Mondschein strahlte und wahrhaftig aussah wie das eines gottbegnadeten Propheten. Krummacher packte den Kleinen an der Jacke und riß ihn zurück.

»Komm, Bub!« sagte er streng. »Es ist Zeit, daß wir gehen. Der Herr Lombard will heute noch nach den Sternen sehen, ob er sie nicht verschieben kann. Dabei dürfen wir nicht stören. Nichts für ungut, Freund, und gute Nacht. Ich hoffe zu Gott, daß du kein Unheil angerichtet hast. Er hat nur zu viel von seinem Vater geerbt.«

»Wir brauchen das Erbe unseres Vaters, der uns zu Herren seiner Schöpfung geschaffen hat«, versetzte der Türmer, den leuchtenden Blick starr nach oben gerichtet. »Warum sollten wir nicht fliegen, wie die Geister, die seine Diener sind? O Pestilenziarius, wenn du ahntest, was im Menschen steckt!«

»Ikare! Ikare!«

Ohne ein weiteres Wort gab der Türmer dem Magister eine Handlaterne. Dann zog er ein Ding aus der Tasche, das einer kleinen Pistole glich. Nach einem Knall fing eine Lunte Feuer, mit der er das Laternchen anzündete. Krummacher sah ihm neugierig und etwas ängstlich zu, erschrak bei dem Knall heftig und strahlte vor Vergnügen, als das Laternchen brannte.

»Hexenmeister! Hexenmeister!« murmelte er halb lachend zum Abschied und zog Brechtle nach sich, der am liebsten geblieben wäre und sich des weiteren mit der feuerspendenden Pistole beschäftigt hätte. Vorsichtig ging's in die Tiefe, bald in schwarzem Schatten, bald im grünlichen Mondschein, bald im roten, zitternden Licht der Laterne; vorbei an den stummen Glocken, vorüber an einer boshaft fauchenden Eule, die mitten auf einer Treppenstufe saß und nicht weichen wollte. Ehe sie des Mesners Stübchen erreichten, war Brechtle so schwindlig, daß er kaum mehr stehen konnte. Doch kam es nicht allein von der Wendeltreppe. –

Das Mesnerstübchen war leer. Der verdrießliche Schuster war zu seinem Abendschoppen gegangen, offenbar in unziemlicher Eile, denn er hatte die Haustür, sowie das Pförtchen, das ins Innere des Münsters führte, offenstehen lassen. Dorthin wandte sich Krummacher, Brechtle fortwährend mit sich ziehend, als ob er fürchtete, ihn zu verlieren.

Das Innere des fünfschiffigen Domes, seit den Tagen der Reformation etwas kahl und nüchtern bei Tag, macht im Halbdunkel einer klaren Mondnacht einen gewaltigen Eindruck. Langsam gingen sie in einem der Seitenschiffe gegen den Chor hinauf. Der Wald von Säulen und Pfeilern, deren Schäfte da und dort von matten Lichtern gestreift wurden, verlor sich nach oben in undurchdringlichem, geheimnisvollem Dunkel. Im Chor besonders spielten bleiche Farben, die durch die alten gemalten Fenster drangen, wunderlich um Syrlins prächtige Chorstühle. Diese hatten Brechtle immer ganz besonders angezogen. Der alte Holzschnitzer und Bildhauer hat in sein berühmtes Lebenswerk nicht bloß die Apostel und Heiligen und die Propheten des alten Bundes hineingearbeitet, wie es seine Christenpflicht war, sondern auch die Weltweisen von Rom und Griechenland herbeigeholt und einem Archimedes, einem Aristoteles und Euklid seinen Platz an heiliger Stätte angewiesen. Ora et labora! Wie hübsch unsere Vorfahren in ihrer sinnigen Naivität doch den Nagel auf den Kopf trafen, den wir Jungen so gründlich krumm zu schlagen uns mühen!

Der gute Magister hatte seinen Zweck bei diesem Gang. Er sah Fieber in Brechtles Augen und wollte ihn beruhigen, ehe er ihn nach Hause schickte, und die feierliche Stille um sie her verfehlte ihre Wirkung nicht. Als sie aus dem Chor wieder heraustraten und an dem berühmten Sakramentshäuschen vorübergingen, das mit allen Zieraten der reichsten Gotik wie ein Pfeil gen Himmel schießt, sagte er: »Du kannst heute dein Nachtgebet hier sprechen, Brechtle, und mußt nicht alles glauben, was der droben uns vorerzählte. Er ist ein guter Mensch, aber nicht ganz richtig im Kopf. Warum, wirst du vielleicht später erfahren und dann verstehen. Bete dein Vaterunser und denk an ihn, wenn du an das Sätzchen kommst: Erlös uns von dem Übel.«

Brechtle war ein gehorsames Bürschchen und kniete prompt neben dem Pestilenziarius nieder. Sie glaubten damals noch, jung und alt, und zweifelten nicht.

»Ja«, fuhr Krummacher fort, »vergiß auch das nicht: Wenn wir zum ›Unser täglich Brot gib uns heute‹ kommen, denk an dein Landexamen. Das ist die Hauptsache in den nächsten zwei Jahren. So; jetzt fang an!«

Brechtle betete halblaut, und das Kind, mit all dem Erdenstaub, der auch schon auf ihm lag, kaum erkennbar in dem ungeheueren dämmernden Raum, kaum hörbar in der feierlichen Stille, heiligte beides.

Es ging alles ganz gut bis gegen den Schluß:

»Denn dein ist das Reich – und die Kraft – denn dein ist die Kraft –«

Mehr hörte der Magister nicht, denn Brechtle, den etwas verwirrt hatte, schluchzte leise, er wußte selbst nicht warum.


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