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Dritter Teil

Schneiderlehrling

13. Herunter

Während in der Klosterschule zu Blaubeuren wie an hundert andern Orten im vielstudierenden Vaterland die hoffnungsvolle Jugend ihre lateinischen ›Argumente‹ über Hannibal und ihre griechischen ›Hebdomadarien‹ über Philipp von Makedonien ausarbeitete und Lehrer und Erzieher dieselben mit deutscher Gewissenhaftigkeit korrigierten, brach das Heilige Römische Reich Deutscher Nation krachend in Stücke. Wären die Ferien nicht gewesen, die so störend in den Erziehungsplan der Anstalt eingriffen, die Jungen hätten nichts davon gehört, daß die Revolution mit blutigen Fäusten an alle Königsschlösser Europas pochte und die alten ehrwürdigen Bauten im Grund erzitterten, nichts davon gewußt, daß ein wohlmeinender achtzehnjähriger Erzherzog von Österreich, dem man klugerweise das Schicksal des Reichs anvertraut hatte, in der Schlacht von Hohenlinden aufs arme junge Haupt geschlagen wurde, daß der kleine Korse, der von Ägypten aus die ganze Welt mit seinem Ruhm erfüllt hatte, den deutschen Rhein zur Grenze Frankreichs machte und im Frieden von Luneville bestimmte, wie im Innern des Reichs Ersatz dafür geschaffen werden mußte, was seinen Fürsten auf dem linken Rheinufer geraubt worden war.

Fünfundfünfzig kleine weltliche Herrschaften, Hochstifte und Abteien, Bistümer und Kurfürstentümer wurden zerschlagen und mit den Scherben belohnt, wer sich der neuen Ordnung der Dinge am willigsten fügte. Auch die alten freien Reichsstädte, zweiundvierzig an der Zahl, mit ihren Gebieten von oft beträchtlicher Ausdehnung fielen dem großen Zerstörungswerk zum Opfer. Wozu Reichsstädte, seitdem vom Reich nur noch der Name vorhanden war und nichts mehr zu tun übrigblieb, als die Trümmer vergangener Herrlichkeit aus dem Weg zu räumen? Es war zweifellos peinlich für den letzten Reichstag zu Regensburg, am eignen Begräbnis mitzuarbeiten, um so mehr, als die Herren Wochen brauchten, um festzustellen, in welcher Reihenfolge ihre Stühle gesetzt werden sollten, um ihrer repräsentativen Stellung gerecht zu werden. Noch einmal durfte der Zopf der alten Zeit eine seiner kläglichen Orgien feiern, ernannte schließlich eine ›Reichsdeputation‹ und überließ es den Nächstbeteiligten, sich um die ausgerissenen Federn des verendenden deutschen Adlers zu reißen. Sie taten es redlich und schamlos, und kaum regte sich da und dort ein leises Gefühl für die Schmach, in der Deutschtum und Deutsche für immer unterzugehen drohten.

Es war vielleicht am besten, daß die Jungen von all dem nur so viel hörten und sahen, als jeder aus den Ferien ins Kloster zurückbrachte; Berblinger zum Beispiel, daß man jetzt mit allem Fleiß an der Schleifung der Festungswerke von Ulm arbeite und nicht genug staunen könne über die Kasematten, die Gänge und Keller, die man in alter Zeit angelegt hatte, um die Stadt Ulm gegen Freund und Feind halten zu können. Mit dreitausend Bauern, die der Magistrat in der Umgegend requiriert habe, mache die Sache muntere Fortschritte, obgleich die letzten Franzosen unter General Piolaine, dem höflichen Spitzbuben, dem man noch die liebenswürdige Art, wie er die Stadt zu schröpfen pflegte, schriftlich habe bescheinigen müssen, schon seit einem Jahr abgezogen seien. Zwar waren die Herren in Regensburg noch nicht ganz einig, aber überall sprach man schon davon, daß es mit Ulm zu Ende gehe und daß es bayrisch werden müsse.

Dies kam schneller, als die Reichsdeputation arbeitete. Vierzehn Tage vor der unfreiwilligen Rückkehr Berblingers in seine alte Heimat, am 1. September 1802, waren die neuen Herren in Ulm eingerückt: Chevaux-legers und Infanterie, je ein Regiment, mit etlichen Kanonen. Es ging leichter als bei dem bayrischen Überfall vor genau hundert Jahren, bei dem es immerhin etliche blutige Köpfe gesetzt hatte. Diesmal zogen sie mit fliegenden Fahnen und lustig spielender Musik über die Donaubrücke durchs weit offene Herbeltor nach dem Rathaus. Von Widerstand war keine Rede; an einen feierlichen Protest dachten nur ein paar Querköpfe hinter ihren Stammtischen oder ein bartloser Gymnasiast, der kürzlich in alten Geschichtsbüchern von der Macht und dem Glanz der Reichsstädte gelesen hatte. Die gesetzteren Bürger waren es satt, der Spielball jeder Laune des Schicksals zu sein, das über ihre Köpfe weg mit Nationen spielte, und die trinklustigen Bayern, die das Ulmer Bier damals noch nicht verachteten, verstanden es, diese Stimmung auszunutzen. Schon drei Tage nach ihrem Einzug, ehe sie in den Quartieren halbwegs warm geworden waren, zeigten sie an, daß das Offizierskorps gewillt sei, am 21. September einen festlichen Ball zu veranstalten, um ihre neuen Landsleute, Brüder und Schwestern, vor allem die Schwestern, noch mehr als bisher kennen und lieben zu lernen.

Der Rat und Zunftmeister Schwarzmann war über all dem in fieberhafter Tätigkeit und keineswegs in guter Stimmung. Sollte man denn nie zur Ruhe kommen? Natürlich, es war nichts mehr mit den alten Patriziern, denen von Schad, Besserer, Neubronner und wie sie alle hießen. Seitdem die Stadt von allen Seiten ausgesaugt wurde, war auch das Brünnlein versiegt, an dem sie sich erquickt hatten. Daneben hatten sie an seinem Tisch reichlich gegessen und aus seinen Wiener und ungarischen Fässern getrunken, so viel der Mann halten mochte. Vor dem Sitzungssaal des Kleinen Rats sollte dagegen der Zunftmeister hübsch Halt machen – und für die Elitebälle der alten Geschlechter war auch der reiche Schwarzmann noch nicht reich genug. Nun war alles im Fluß, wenn nicht am Umstürzen, und niemand wußte, was noch daraus werden sollte. ›Freye Reichsstadt‹, wo kein Reich mehr war, was sollte das heißen? Und wo war die Freiheit, wenn Geld und Verdienst immer wieder auf die Gunst der Betteljunker warten mußten? Die neue Zeit regte sich auch in Ulm mit Macht. Wenn man nur wüßte, wie lange jetzt die Bayern bleiben sollten!

So seufzte Schwarzmann, einer der wenigen, die in diesen Kriegszeiten dank seiner Schifferschlauheit, die sich den Anschein biederer Ehrlichkeit zu geben wußte, nicht eigentlich gelitten hatten. Seine zwanzig Zillen schwammen noch immer auf der Donau und beförderten Leute und Kriegsmaterial bald für die Kaiserlichen, bald für die Franzosen, und nicht zum wenigsten für die Bayern. Denn es war ein unaufhörliches Vorrücken und Retirieren, solange der große Korse in Italien und in Ägypten beschäftigt war. Nun fragte man wieder nach Schnecken drunten in Wien, und der regelrechte, friedliche Handel schien sich beleben zu wollen. Der erste Zunftmeister der Schiffer hatte das Recht, den neuen Herren zu zeigen, daß er der reiche Schwarzmann war, und daraus konnte sich manches entwickeln. Ungeschickt, daß gerade gestern seine Schwester, das arme Ding, begraben werden mußte. Aber es war noch acht Tage bis zum Ball. In diesen tollen Zeiten konnte niemand Ärgernis daran nehmen, daß seine Mädel sich wieder zeigten. Es war doch nur ihre Tante gewesen, und man kannte die arme Frau ja kaum mehr. Ärger hatte er genug mit dieser und andern Geschichten gehabt.

Zum Beispiel auch mit dem Schneider Bockelhardt, der mit verlegenem Grinsen an dem Frack herumzupfte und -strich, den er dem Rat heute zum drittenmal anprobierte. Die Bockelhardt waren seit Menschengedenken die Leibschneider der Schwarzmann gewesen. Sie hatten schon unter dem ›ganz Alten‹ vor fünfzig Jahren das größte Geschäft in der Stadt gehabt, denn sie waren die einzigen Meister, die mit fünf Gesellen anstatt mit nur drei arbeiten und zwei statt nur einen Lehrjungen einstellen durften; dies laut Beschluß des Kleinen Rats vom 3. November 1608. Damals wurde nämlich ein Bockelhardt gehängt infolge seines allerdings mittels der Folter erzielten reumütigen Geständnisses, daß er der Mörder seiner Geliebten, einer gewissen Jungfer Barbara Krönlin, sei. Kaum war aber zur Zufriedenheit des hohen Rats und der gesamten Bürgerschaft diese Angelegenheit erledigt, so ergab sich, daß man den falschen Bockelhardt gehängt hatte. Der richtige Mörder, ein entfernter Verwandter der Ulmer Bockelhardts, befand sich wohl und munter in Nürnberg und hatte dort Dienste als Landsknecht genommen, weshalb die Nürnberger in gewohnter unnachbarlicher Weise nicht daran dachten, ihn der Ulmer Gerechtigkeit auszuliefern. Sie begnügten sich im Gegenteil damit, dem Bösewicht das Versprechen abzunehmen, sein abscheuliches Verbrechen nicht wiederholen zu wollen. Der Ulmer Magistrat aber fühlte, daß er nicht nur dem Gehängten, sondern der ganzen Familie Bockelhardt unrecht getan hatte, und beschloß als Sühne ihr für ewige Zeiten zu gestatten, zwei Gesellen und einen Lehrling mehr einzustellen, als die übrigen Meister zu tun berechtigt waren. Diese protestierten zwar wiederholt, aber es half sie nichts, und so wurden die fünf Gesellen der Bockelhardt anerkanntes Recht. Mit dem ›jungen Bockelhardt‹, der übrigens jetzt sechzig Jahre alt war, ging jedoch die Ewigkeit dieses Privilegiums schon zu Ende. Er hatte in seiner Jugend locker gelebt und das Geld und die Kundschaft seines Vaters verloren, ehe er zur Besinnung kam. Jetzt war er so weit; aber ein schlapper, griesgrämlicher Mensch, wenn er nicht drei Schoppen Bier und einen Schnaps im Leibe hatte, dem Kunden nur aus alter Gewohnheit treu blieben, die seit einigen Menschenaltern bei den Bockelhardt hatten arbeiten lassen. So kam es auch, daß er jetzt an dem Staatskleid neuester Mode herumzupfte, in dem sich der Rat Schwarzmann ärgerlich hin und her drehte.

»Es hilft nichts, Bockelhardt«, sagte dieser, indem er versuchte, in einem kleinen Wandspiegel so viel als möglich von seinem breiten Rücken zu sehen. »Es hilft nichts! Ich habe Euch zehnmal gesagt und sag's noch einmal: einen Frack will ich haben wie der Altbürgermeister Besserer, und wenn Ihr mir den nicht liefern könnt, so fliegt er zum Fenster hinaus und der alte Pfuscher, der ihn gemacht hat, die Treppe hinunter. Verstanden?«

»Ich bitt' untertänigst, Herr Rat«, antwortete der Schneider, »der Frack ist gearbeitet genau wie der vom Herrn Altbürgermeister –«

»Dummes Zeugs!« brauste Schwarzmann auf, »ich will Euch eine Schiffsladung Schnecken umsonst liefern, wenn die Schöße nicht drei Zoll kürzer sind als Besserers – und dann – wie das hinaufstrupft! Seht einmal den Bauch an!«

»Ja, Herr Rat, an dem ist der Schneider nicht schuld«, versetzte Bockelhardt mit einem grimmigen Lächeln.

»Malefizkerl!« erwiderte der erregte Kunde und hob beide Arme gen Himmel. »Habt Ihr's gehört, wie's gekracht hat? Die Arme will ich wenigstens aufheben können. Rühren muß ich mich auch in einem Staatsfrack, das werdet Ihr zugeben. Seht einmal die Falten. Wie das spannt! Donnerwetter, Bockelhardt, packt Euer Gelump zusammen und geht zum Teufel.«

»Dafür sollt Ihr mir bezahlen!« grollte der Schneider, dem die Geduld auszugehen begann. »Die Ärmel will ich meinethalben wieder lostrennen, obgleich man in einem Staatskleid nicht mit Flößerstangen hantiert. Zieht ihn aus, Herr Rat. Ihr findet doch keinen Schneider in Ulm, der Ihnen einen besseren Frack macht. Umsonst bin ich nicht in Paris gewesen, das kann ich Ihnen schon sagen, und wenn Sie auf dem bayrischen Offiziersball tanzen wollen, bleibt Ihnen nichts übrig als Geduld und meine Wenigkeit. Bitte, ausziehen!«

Der Rat der den Schneidermeister doch nicht ganz rappelköpfig machen wollte, denn der Mann hatte seinen Einfluß in gewissen Wählerkreisen, gehorchte murrend. Der Schneider legte das Kleidungsstück auf den Tisch, zog eine Schere aus der Tasche und begann die Ärmelnaht aufzutrennen. Schwarzmann setzte sich und sah ihm zu. Der Sturm, der vor einer Minute zwischen Schiffer und Schneider auszubrechen drohte, legte sich. Sie begannen Stadtneuigkeiten zu besprechen und kamen auf die gestrige Beerdigung der Frau Berblinger.

»Eine große Leich' war's nicht«, sagte der Schneider.

»Sollt' es auch nicht sein«, versetzte der Schiffer ingrimmig. »Ihre alten Freunde sind tot oder verzogen, und neue hat sie nicht gemacht.«

»So geht's leichter, wenn man fort muß«, meinte der Schneider.

»Ihr Bub, der Brechtle, war schließlich ihr einziger Gedanke«, fuhr der Rat fort. »Der grämt sich rechtschaffen, wie es scheint, und mir kann's recht sein. Die Dummheit mit dem alten Berblinger, dem Schulmeister, war nicht mehr gutzumachen. Besser, sie ging. Der Pestilenziarius hat den Jungen von Blaubeuren hereingeholt, obgleich er besser draußen geblieben wäre. Der Bursch muß lernen.«

»Soll wohl Pfarrherr werden?« fragte Bockelhardt.

»Soll nichts kosten vor allen Dingen, denn der Bub hat nichts. Das Gute haben die Klöster jedenfalls. Der Pestilenziarius meint, er mache Fortschritte, und wenn die Schwarzmann einmal einen Prälaten in die Verwandtschaft kriegen, kann man sich's gefallen lassen. Besser als das verrückte Zeug, das sein Vater getrieben hat. Lernen muß der Schlingel, und dafür sorgen sie in den Klöstern. Er sieht bleich aus, aber ich halte das für ein gutes Zeichen. – Na, was gibt's?«

Eine Magd legte einen Brief mit einem großen Amtssiegel auf den Tisch.

»Vom Blaubeurer Boten!« sagte sie und verschwand wieder.

»Na, da bin ich doch begierig«, sagte der Rat. »Wenn man vom Wolf spricht, steht er vor der Tür. Ich hoffe, daß er ein ordentliches Zeugnis mitbringt, der Schlingel, sonst – Machet mir die Ärmellöcher jetzt nur nicht zu weit, Meister!«

Er betrachtete den Brief von beiden Seiten, brach dann langsam und vorsichtig das Amtssiegel und begann zu studieren, erst kaum hörbar, dann halblaut und schließlich mit zorniger Stimme vorlesend.

»›Die herzoglich württembergische Prälatur der Klosterschule zu Blaubeuren in Sachen des weiland Alumni Berblinger aus Ulm.‹

Weiland Alumni! Was der Kuckuck soll das heißen?« unterbrach er sich selbst. »Na, es wird sich wohl aufklären.

›Die herzoglich württembergische Prälatur der Klosterschule zu Blaubeuren benachrichtigt den hochwohlgeborenen und ehrenwerten Rat und wohlgeborenen Zunftmeister Herrn Schwarzmann zu Ulm als den gesetzlichen Vormund des weiland Alumni Berblinger, daß der erwähnte Ludwig Albrecht Berblinger von Ulm respektive Ochsenwang laut Beschluß eines hohen Consistorii wegen, wie gehofft wird, fahrlässiger Brandstiftung und zahlreicher zweifellos böswilliger Vergehen gegen die Klosterordnung hiermit am heutigen 11. September 1802 der Beneficii der Klosterschule verlustig erklärt und aus deren Verband entlassen und ausgestoßen ist, mit dem Befehl, solche Rejectio unverzüglich dem Herrn Vormund selbsten zur Kenntnis zu bringen und sich dessen Verfügungen gehorsamst zu unterstellen.

Im Namen des erkrankten Herrn Prälaten Kleß der Professor ordinarius Magister Gaum.‹«

Der Rat hielt den Brief auf Armlänge von sich ab, fuhr mit seinem roten Taschentuch über die Stirne und sagte:

»Donnerkeil, Schneider! – Donnerkeil! Habt Ihr den gelehrten Herrn verstanden? – Herein!«

Es hatte nämlich schon zweimal geklopft, erst leis und schüchtern, jetzt aber lauter. Mit ähnlicher Vorsicht wurde jetzt die Tür geöffnet, unter der in seinem verschossenen blauen Gymnasialmäntelchen, aus dem er in allen Richtungen hinausgewachsen war, der kleine Berblinger auftauchte. Die erregten Züge seines Onkels wurden starr, seine Stirne furchte sich in senkrechten Riegeln, die kleinen Augen in dem großen roten Gesicht nahmen eine unnatürliche Kreisform an, wie Stiersaugen, und glotzten, als ob keine Spur einer menschlichen Seele mehr dahintersäße. Es wurde tatsächlich schwül in der Stube. Der Schneider beugte sich tiefer über seinen Frack und zupfte eifriger Fäden aus dem halbabgetrennten Ärmel.

Brechtle – er fühlte bis in die Zehen hinab, daß er wieder Brechtle geworden war – raffte sich zusammen, lief, als gälte es einen Sprung in eiskaltes Wasser, auf seinen Onkel zu und wollte ihm die Hand küssen. Zornig entriß sie ihm dieser und warf ihm den Brief aus Blaubeuren an den Kopf.

»Lump, was soll das heißen?«

Brechtle hob das Papier auf.

»Vorlesen!« schrie der Onkel.

Brechtle las.

»Und sonst hast du nichts zu sagen, verdammter Lausbub, du!« schrie der Rat und griff nach Brechtles blondem Lockenkopf. Dies jedoch gab dem Jungen seine Geistesgegenwart wieder. Mit einer blitzschnellen Verbeugung war er aus dem Bereich der geballten Faust und stand hinter dem Schneider, der nun auch Versuche machte, sich in Sicherheit zu bringen, denn mit dem Herrn Rat war nicht zu spaßen, wenn ihn der Zorn übermannte. Erzählte man sich doch mit einigem Stolz – die Ulmer waren unberechenbar in ihrem patriotischen Empfinden –, daß er einen Kollegen der Zunftmeister, den Günzburger Schiffer, beim Steinhäule in die Donau geworfen, ihn allerdings dann auch wieder herausgezogen und um Entschuldigung gebeten habe. Zweimal umkreisten Onkel und Neffe den Schneider, den der Junge als Schild zu verwerten wußte, während dieser den erhobenen Frack als Schutzwaffe benutzte. Keuchend vor Wut gab endlich der Onkel die unwürdige Verfolgung auf, nachdem er dem unschuldigen Staatskleid einen Faustschlag versetzt hatte, daß die Frackschöße hoch emporflogen, und warf sich in den Großvaterstuhl, über den er bei der zweiten Umkreisung des Schneiders beinahe zu Boden gestürzt wäre.

»Erklären, Lausbub!« stöhnte er. Doch hörte der Erfahrene am Tonfall der Anrede, daß der erste Zornausbruch vorüber war, und Brechtle begann in sicherer Entfernung die Geschichte seiner Missetaten. Er kam nicht weit. Wie ein austobendes Gewitter brach das Donnerwetter von Zeit zu Zeit wieder los, schwächer nach jedem Schlag, schließlich dumpfgrollend, als sei es nun wirklich im Abziehen. Der Junge war noch nicht bei seinem großen Ballon angekommen, und schon interessierte den Onkel die Geschichte nicht mehr. Es war ja alles der reinste Blödsinn. Ein andrer Gedanke begann in ihm zu arbeiten.

»Aber was jetzt? Herrgott von Regensburg – was jetzt?« brach er wieder los. »Sag, was ich mit deines Vaters Sohn anfangen soll? Hausknecht werden – Stiefelputzer im Baumstark? Na, was denkst du dazu, Schlingel, verfluchter?«

Brechtle ließ den Kopf hängen. Wenn jetzt sein Onkel auf ihn losgeschlagen hätte, er hätte keinen Sprung mehr getan. Aber auch der Rat hatte diese Form der Auseinandersetzung aufgegeben, die an einem toten Punkt angelangt zu sein schien.

»Wenn's jetzt mit dem Prälaten in der Familie nichts ist, Herr Rat«, sagte der Schneider nach einer peinlichen Pause, indem er seine Lippen zusammenzog, als ob er pfeifen wollte; »na, dann muß der junge Herr halt was lernen.«

»Da glaubt man«, grollte Schwarzmann vor sich hin, »man habe den Burschen mit Müh und Not versorgt, hat ihn dreimal nach Stuttgart geschickt, hofft Ehre mit ihm einzulegen, denkt, er könnte gar noch gutmachen, was sein Vater, der hergelaufene Schulmeister, versündigt hat, und nun kommt er heim – wie ein begossener Pudel – wie – wie –«

Das Gewitter schien noch einmal ausbrechen zu wollen. Brechtle wurde desperat.

»Onkel! Onkel!« schrie er auf, »lassen Sie mich Schiffer werden. Ich will arbeiten wie ein Knecht; ich will schaffen, wenn ich zehnmal ersaufe.«

Schwarzmann lachte hellauf.

»Du und Schiffer! Seht ihn einmal an, Bockelhardt. Das Marzipanfigürchen und ein Donauschiffer!«

»Lassen Sie mich Schiffer werden!« wiederholte Berblinger leidenschaftlich. »Ich bin stärker, als Sie glauben. Ich will wachsen. Und ich will fort, hinaus! Ich will Sie keinen Heller mehr kosten und mit Wasser und Brot die Donau hinunterfahren. Lassen Sie mich Schiffer werden!«

»Schiffer!« höhnte der Rat und lachte aufs neue; Berblinger fühlte es stechender als sein Fluchen. »Zum Fischen wollt' es vielleicht noch reichen, wenn dich nicht der erste Gründling ins Wasser zöge. Man könnte das ganze Kerlchen in einen einzigen Wasserstiefel stecken, niemand würd' es merken; und das will Schiffer werden! Na, Bockelhardt, könnt Ihr nicht mitlachen?«

Er starrte den Schneider zornig an. Dann ging ein böses Lächeln über sein Gesicht, und plötzlich ruhiger werdend fuhr er fort:

»Ihr habt recht, Meister. Etwas lernen muß der Bub. Einen zweiten Pestilenziarius möcht' ich nicht ums Haus herum sehen. Wißt Ihr was: nehmt ihn in die Lehr'. Schneider soll er werden!«

Brechtle fiel auf die Knie. Der Onkel schien es nicht zu sehen. Auch Bockelhardt warf ihm einen boshaften Blick zu.

»Schiffer! Um Gottes Barmherzigkeit willen, lassen Sie mich Schiffer werden!« wimmerte der Kleine.

»Ich nehme den Frack, wie er ist«, sagte der Rat entschlossen, »und Ihr nehmt den Buben.«

»Ich will's tun um das Übliche, nach Zunftgebrauch«, versetzte Bockelhardt. »Zur Zeit hab' ich nur einen Lehrjungen, und der ist nichts wert. Ich will's versuchen. Er ist wohl ein bißchen alt zum Jungen.«

»Er wiegt keinen Vierzehnjährigen auf«, meinte der Rat, »und er ist dümmer als ein Zehnjähriger, sonst hätten sie ihn in Blaubeuren nicht zum Teufel gejagt.«

»Na, ich will's versuchen, weil Sie es sind«, wiederholte der Schneider, »ums Übliche, nach Zunftgebrauch.«

»Abgemacht! Den Ärmel könnt Ihr wieder annähen; ich muß mich halt nach der Decke strecken. Das wirst du nebenher auch noch lernen, Jung, elendiger!« – Dies warf er dem noch immer knienden Brechtle hin. »Steh auf; küß dem Meister die Hand. So ist's Zunftgebrauch, Herr Studiosus des ehrsamen Schneiderhandwerks.«

»Es ist so ehrbar als ein andres!« sagte Bockelhardt, sich aufrichtend und seinen Bocksbart streichend.

»Na, laßt's gut sein und macht es ihm nicht zu leicht«, begütigte der Rat. »Es wird schon einige Arbeit kosten, bis Ihr ihm all das dumme Zeug aus der Haut geklopft habt, das sie ihm im Kloster hineingepfropft haben. Aber ich will zugeben: ein Ellenmaß ist so gut als ein Schifferhaken, richtig angewendet. Wann soll's losgehen, Meister? Je bälder je lieber, denk' ich. Ich will ihn nicht mehr im Haus sehen.«

»Bei mir gibt's Platz«, sagte Bockelhardt. »Mit einem Korb voll Fleck' macht ihm die Gretl sein Nest in zwei Minuten zurecht. Er kann's heute abend probieren, wie ihm ein Lehrbubenbett zusagt.«

»Abgemacht, abgemacht!« rief der Rat ganz vergnügt, während sich seine senkrecht gefurchte Stirnhaut wieder waagerecht fältete.

»Er könnte mir gleich den Frack heimtragen«, schlug Bockelhardt vor, froh, den schwer zu befriedigenden Kunden wieder in so guter Laune zu sehen.

»Na – laßt das!« erwiderte dieser. »Ich möchte nicht, daß meiner Schwester Bub als Schneiderlehrling aus dem Haus ginge.«

»Schifferknecht oder Schneiderjunge, ist eins so gut wie das andre«, sagte Bockelhardt, sich wieder in die Brust werfend.

»Meinetwegen!« lachte der Rat, zu befriedigt mit dem so rasch gefundenen Ausweg, um dem Schneidermeister den Unterschied klarmachen zu wollen. »Heut abend also kommt der Bub. Und du –« die Stirne faltete sich wieder waagerecht – »du gehst mir aus dem Gesicht und läßt dich drei Jahre lang nicht mehr blicken! Sonst, beim Strudel von Grein, kommst du nicht mit heilen Knochen davon. Adjes, ihr beiden, Schneidermeister und Schneiderbub!«

 

Auf der dunkeln Haustreppe drückte sich Berblinger in einen Winkel und ließ Bockelhardt an sich vorübergehen, der, das zusammengelegte Staatskleid unter dem Arm, mit hochaufgerichtetem Kopf und keck vorstehendem Spitzbart das Haus verließ. Er war mit sich zufrieden. Der Frack war endlich untergebracht, und ein Lehrjunge, der den Rat Schwarzmann zum Onkel hatte, war auch nicht zu verachten. Er wollte dem Bürschchen schon zeigen, was Handwerksbrauch war, daß selbst der Obermeister der Schifferzunft Respekt kriegen sollte.

Als die Haustür hinter ihm ins Schloß fiel, schlich auch Brechtle die Treppe hinunter und stieß am Fuß derselben auf den Magister Krummacher.

»Ich wollte eben zu dem Herrn Onkel hinauf, um ihn vorzubereiten«, sagte er, den Kleinen prüfend und wehmütig ansehend, »damit's nicht gar zu toll wird, wenn das Donnerwetter losbricht.«

»Ist schon losgebrochen«, flüsterte Brechtle bitter.

»Ich wollt' es gestern tun, aber es war mir nicht möglich. Ich war zu traurig.«

»Ich bin es heute«, seufzte der Junge, mit dem Schluchzen kämpfend.

»Das ist nicht recht«, sagte der Pestilenziarius sanft. »Wir haben gestern deine liebe gute Mutter begraben. Etwas Traurigeres kann es nicht geben.«

»Und heute will der Onkel mich begraben«, stöhnte der Kleine, »Leib und Seele, und – und ich bin noch so jung.«

»Was soll das heißen, Brechtle?«

»Schneiderlehrling soll ich werden.«

»Komm!« sagte der Pestilenziarius, »seitdem die Bastei am Lauseck geschleift ist, kann man dort stundenlang sitzen, ohne daß uns ein Mensch stört.«

Kein weiteres Wort wurde gesprochen. Sie gingen die Herbelgasse hinauf und durch ein Gewirr von Gassen und Gäßchen über die Blau nach dem hochgelegenen Trümmerhaufen, der noch vor kurzem eine der Hauptbasteien der Stadt gebildet hatte. Der eigentümliche Name hing ursprünglich mit Lugen, Lauschen zusammen und hatte nichts mit der Nachtseite der Insektenwelt zu tun. Ein Stückchen Alt-Ulmer Humors, der sich bis zum heutigen Tag einer gewissen Ungeniertheit erfreut, trieb hier sein Spiel und hat es verschuldet, daß der Hügel in unsern verfeinerten Tagen in ›Wilhelmshöhe‹ umgetauft werden mußte. Die Bastei war selbst in ihrer Zerstörung einer der lieblichsten Punkte der alten Reichsstadt. Krummacher setzte sich auf einen aus Ziegelsteinen und Mörtel zusammengebackenen Block, einen Rest der mächtigen Stützmauern, der sich geweigert hatte, in die Donau hinabzustürzen, die am Fuß des steilen Abhangs vorüberrauschte. Zur Linken, hart am Flußufer, zog sich die noch unzerstörte Stadtmauer gegen die Donaubrücke hinab, überragt von einem Gewirr von schiefen Giebeln und wunderbar verkrümmten Dachfirsten, die den Eindruck machten, als ob die Häuser von Ulm nicht gebaut würden, sondern wild wüchsen wie die Eichen im Stadtwald. Drei stattliche Türme, der gefährlich schief hängende Metzgerturm, der Turm des Herbel- und der des Gänsetors sahen herausfordernd über die Donau weg, während die Befestigung des Brückenkopfs auf dem rechten Donauufer noch immer ein trotzig mittelalterliches Bild darbot. In nächster Nähe am jenseitigen Ufer lagen drei neue Zillen im Strom, bereit, ihre Fahrt nach dem Osten anzutreten; hinter ihnen auf der geräumigen Schiffswerft waren fünf der einfachen, fast floßartigen Flachboote im Bau begriffen, und ein lustiges Hämmern schallte von dem weißgelben Schiffbauplatz herüber. Weiter hinauf nach rechts, wo die muntere Iller in die ruhigere Donau mündet, verlor sich der Fluß in dichtem Buschwerk, an das sich, die Flanken des Kuhbergs bedeckend, Obstgärten anschlossen, deren Grün im Rot und Gelb der reifenden Birnen und Äpfel versank. Einiges hatte die Kriegsfurie doch verschont, und die Natur wehrte sich mit Macht gegen die Zerstörungswut der Menschen. Geradeaus, gegen Süden, lag eine weite freie Ebene, das Donauried, hinter dem sanfte, teilweise bewaldete Höhen anstiegen, die da und dort ein fernes Dorf, ein blinkendes Schlößchen belebte, und heute wie an manchem schönen Herbstabend winkten die Alpen von der Zugspitze bis zum Glärnisch herüber, unter denen die prächtige Säntisgruppe bereits in ihrem ersten Herbstschnee flimmerte.

Brechtle – er war ja wieder Brechtle wie vor etlichen Jahren – folgte dem Strom mit nassen Augen. Dort unten, jenseits der Brücke, lag der Schwahl, die Donauinsel, wo die Schiffe ihre Ladung einnahmen, die nach Österreich und Ungarn bestimmt waren. Dort unten glänzte auf grüner Bergeshöhe die weiße Kirche von Elchingen. Alles in allem ein offenes, freies, fröhliches Bild, das schon manchem jungen Ulmer das Herz weitete und ihn hinauszog in die blaue Ferne.

»Nein, er will nicht!« klagte der Junge, der sich neben Krummacher auf den Boden geworfen hatte, fast schluchzend. »Er könnte so gut, und ich wollte so gern, aber er will nicht! Schifferknecht werden ist nicht zuviel verlangt. Schaffen in Wasser und Wind wollt' ich tausendmal lieber, aber er will nicht. Schneider soll ich werden!« Krummacher wartete, bis der Junge etwas ruhiger geworden war. Dann sagte er sanft:

»Siehst du jetzt, wohin das Luftschiffen fährt?«

»Nichts seh' ich, Schneider soll ich werden!«

»Siehst du einen Ausweg, Brechtle? Etwas, das wir tun könnten, dir dies zu ersparen?«

»Nichts seh' ich, Schneider soll ich werden!«

»Brechtle, auch ich sehe nichts, und dabei bleibt nichts andres übrig, als du wirst Schneider. Wenn es Gottes Wille ist, was willst du machen? Er braucht auch Schneider in seiner Welt, und es gibt Schlimmeres in diesem Erdenjammer.«

»Was?« fuhr Berblinger auf, als ob er wieder zornig werden könnte.

»Zum Beispiel«, fuhr der Pestilenziarius in dem ruhigen, tröstenden Ton fort, den er angeschlagen hatte, »zum Beispiel, wenn man sein ganzes Leben verträumt mit einer Sehnsucht im Herzen und zu guter Letzt an einem offenen Grab steht, in dem auch die Sehnsucht begraben wird.«

Der Junge starrte ihn verständnislos an.

»Von all dem bleibst nur du übrig, Brechtle. Ich will dich nicht verlassen. Versprich mir nur eins. – Du mußt Lehrjunge werden. Tausende müssen's. Und du wirst ein braver Schneider werden?«

»Nie!« schrie der Junge auf.

»Dann wirst du ein Schneider werden ohne Eigenschaftswort. Gib dich drein. Um deiner Mutter willen sei vernünftig und versprech mir eins: besuche den Münstertürmer nicht, drei Jahre lang.«

»Weshalb?«

»Denk, wohin dich das Fliegen geführt hat. Bei dem Türmer hat's dich gepackt mit all den schlimmen Gedanken, die der Böse dort oben in die Luft rührt. Denk an die Stunde, die du heute hier auf der alten Stadtmauer verweinst, und gib mir die Hand. Ich habe mir nie verziehen, daß ich dich dort hinaufgeführt habe. Nun versprich mir's. Drei Jahre lang. Dann magst du tun, was du nicht lassen kannst.«

»Aber ich halt's nicht aus. Schneider, Schneider!« jammerte Brechtle.

»Um deiner Mutter willen!«

Brechtle gab ihm die Hand, die Krummacher lang in der seinen hielt.

»Nun sei kein Kind«, sagte er endlich in heiterem Ton, »du bist keins mehr. Bilde dir nicht ein, daß Frösche besser seien als Schnecken. Der eine hüpft, der andre kriecht, jeder tut das Seine, so gut er kann, und schließlich schmecken beide den Herren aller Kreatur, je nach ihrem Geschmack, dem einen dieser, dem andern jener. Es gibt wohl Esel, die sich einbilden, der Mensch habe vor andern Geschöpfen ein besonderes Recht und Privilegium, glücklich zu sein. Niemand hat das, und je bälder du dies einsiehst, um so besser für dich. Renne nicht mit deinem schwachen Kopf durch jede Wand. Beiß die Zähne zusammen und ergib dich; darin liegt mehr Heldenmut, als wenn du noch so trotzig an den Mond hinaufheulst. So viel habe ich vom Leben gelernt. Lern's auch.«

»Ich – ich will's versuchen«, sagte Berblinger, über den eine weiche, wehmütige Stimmung gekommen war, welche die Erlebnisse der letzten Tage wohl entschuldigen mochten.

»Halt aus! Nur drei Jahre lang«, fuhr Krummacher ganz vergnügt fort. »Was sind drei Jahre, wenn du es deiner guten Mutter versprichst, die ihre Stunden jetzt nach Ewigkeiten zählt. Dann kannst du wieder fliegen, soviel du willst: die Donau hinunter, nach Süd und Nord. Ein gefiedert Schneiderlein mag weiter kommen als ein gerupfter Pfarrer.«

»Ich will's versuchen!« wiederholte der Junge lächelnd und trocknete seine Tränen. Der arme Kerl war noch zu jung für die Bitterkeit des Lebens, das ihn plötzlich so hart angefaßt hatte, und verstand sie nicht.

»Und du wirst deinen Lohn empfangen«, sprach der Pestilenziarius zuversichtlich und setzte dann ganz leise hinzu: »Glaube und hoffe, wenn auch das Lieben begraben sein muß.«

Sie sahen noch die Sonne untergehen, prächtig in roter Glut, daß der ganze Himmel samt der Donau in Flammen zu stehen schien. Dann begleitete Krummacher seinen Pflegling nach der Taubengasse hinter dem Marktplatz. Dort stand eingezwängt zwischen zwei größeren ein schmales hohes Haus mit krummem Giebel, aus dem wie der Arm eines begehrlichen Galgens ein Balken hervorragte, an dem sich ein Flaschenzug zum Holzaufziehen schaukelte, denn es war mit einem Male windig und herbstlich kalt geworden. Das schmale Haustor, mit rohgemeißeltem gotischen Stabwerk verziert, stammte sichtlich aus alten Zeiten; aber schon damals hatten die Bauleute auf zwei Wappenschilde, die an den Kämpfern des gedrückten Spitzbodens angebracht waren, links eine Schere, rechts einen Ziegenbock eingehauen. Über dem Klopfer hing eine Tafel mit der Inschrift: Bockelhardt, Schneidermeister, und auf der Türschwelle stand eine kleine Holzkiste.

Berblinger stieß einen Freudenschrei aus. Es war sein Waschkistchen, das am Klosterhoftor von Blaubeuren stehengeblieben war und das er im Elend der letzten Tage fast vergessen hatte. Niemand anders als der gute Zeller konnte es ihm nachgeschickt haben. Auf dem Deckel stand die Adresse seines Onkels, und von dessen Haus war es unverzüglich nach des Schneiders Wohnung gewandert; ein Beweis, daß er in der Herbelgasse nichts mehr zu suchen hatte.

Und doch war es ein Freudenschrei, mit dem er sein Eigentum begrüßte. Jetzt hatte er wenigstens seinen Euklid wieder und ein altes Physikbuch, das ihm Zeller geschenkt, und die acht Pläne, ein Luftschiff zu steuern, die er im Hörsaal zu Blaubeuren ausgesonnen und unter dem Schutz seiner großen griechischen Chrestomathie auf Papierstückchen verschiedenster Form und Größe aufgezeichnet hatte. Wollte er sie doch alle seinem Freund Lombard beim nächsten Besuche vorzeigen!

Für den Augenblick war vergessen, was er vor kaum einer Stunde versprochen hatte.

Glücklicher Augenblick, glückliches Vergessen!


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