Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Der Pestilenziarius

Bald donnernd und krachend, bald in geheimnisvoller Stille geht die Weltgeschichte ihren Weg, während Menschenschicksale, große wie kleine, lebenslang neben ihr herlaufen, als ob sie nichts damit zu tun hätten, und doch trägt jedes der Millionen Wesen mit an der Riesenlast, die sich dröhnend und stöhnend über sie hinwälzt. Wir haben es mit einem dieser Kleinen zu tun und müssen die großen Ereignisse unbeachtet lassen, die wirr und wild durch die nächsten Jahre tobten, wenn wir dem Verlauf eines Lebens folgen wollen, dessen ernstere Bedeutung vielleicht in hundert Jahren erkannt werden wird; vielleicht nicht einmal dann. Denn wer denkt an die vermoderten Keime, wenn die Früchte reifen?

Magister Krummacher, der Pestilenziarius, war einer von denen, die, wenn sie etwas zu tun finden, jederzeit bereit sind, ihre Hand danach auszustrecken und mit dem Eifer und der Umständlichkeit ans Werk gehen, welche den Kleinen das Gefühl gibt, etwas Großes zu leisten. Trotz der Aufregung einer fast schlaflosen Nacht, von der sich Ulm nur langsam erholen konnte, und trotz der drei Schwadronen Chasseurs, mit welchen die Schrecken des Krieges nun wirklich über die friedfertige Reichsstadt hereingebrochen waren, suchte er am frühen Morgen den Herrn Gregorius Horst, den Scholarchen und Konrektor des städtischen Gymnasiums, auf und erhielt von dem hochwürdigen Herrn unter dem Messer des Barbiers hervor die Weisung, sich mit seinem Schützling zwischen elf und zwölf Uhr im Rektorzimmer des Gymnasiums einzufinden. Mit schuldiger Rücksichtnahme auf den Herrn Rat Schwarzmann, dem er sich angelegentlich zu empfehlen bitte, lasse sich die Sache vielleicht, allerdings gegen alle Schulordnung, regeln. Dann aber, während der Barbier das hocherhobene Kinn des Gewaltigen abtrocknete, folgten sechs Klauseln, die der Pestilenziarius noch auf der Treppe in sein Taschenbuch schrieb, mit Ausnahme der fünften, deren er sich trotz allen Kopfzerbrechens nicht mehr erinnern konnte. Nur dunkel schwebte ihm vor, daß sie sich auf Brechtles Vater bezog, welcher am Gymnasium zu Ulm noch nicht vergessen sei, und daß der Sohn bezüglich des leider oder vielmehr glücklicherweise Verstorbenen gewisse bindende Zusagen zu machen habe. – Nunmehr verfügte sich Krummacher nach dem Schwarzmannschen Haus und machte Frau Berblinger seine Reverenz, fast ohne aufzusehen. Die noch immer tieferschütterte Frau ahnte nicht, daß in ihrer Nähe ein Herz schlug, ganz so heftig und genau so unbemerkt wie vor fünfzehn Jahren, und daß das unbeholfene Männchen ihr verhärmtes, hübsches Gesicht mit einem unbeschreiblichen Gefühl von Mitleid und Sehnsucht ansah; auch dies fast genau wie vor fünfzehn Jahren. Nur beschränkte sich damals das Mitleid auf seine eigene kleine Person. Brechtle, den er abzuholen gekommen war, folgte seinem neuen Beschützer nicht allzu freudig, immerhin jedoch so willig als andere Lämmchen, die zur Schlachtbank geführt werden.

Ihr Weg ging zunächst nicht nach dem Gymnasium, sondern nach Krummachers eigener wundersamer Behausung. Sozusagen eine Amtswohnung, denn sie war ihm seinerzeit vom Magistrat angewiesen worden, der schon vor vierzig Jahren einsah, daß die ›erkleckliche‹ Pension, die ihm der Kleine Rat bei Enthebung vom Amt eines Pestilenziarius aussetzen zu können glaubte, den verdienstvollen jungen Mann nicht vor dem Hungertod schützen würde, wenn er auch noch für Wohnung Licht und Heizung selbst hätte sorgen müssen. Nun war glücklicherweise der Stolz der Stadt, das herrliche Münster, soweit sein Bau gediehen war, mit mächtigen, nach außen weit vorspringenden Strebepfeilern versehen. In die Buchten, welche dieselben bildeten, war je ein Häuschen weltlicher Gattung eingebaut, das sich vertrauensvoll an das geistliche Gemäuer anschmiegte und zu mancherlei Zwecken benutzt wurde. Im ersten neben dem Hauptportal wohnte der Münstermesner mit zahlreicher Familie; das zweite auf der Südseite war an einen Obsthändler vermietet und duftete lieblich nach mancherlei Früchten des Feldes, den Münstermesnerjungen zur beständigen Versuchung. Das dritte, von Neugierigen viel besucht, triefte von verschüttetem Öl, weil dort die neue städtische Beleuchtungsdeputation Kanzlei, Werkstätte und Magazin eingerichtet hatte. Dann kam das ebenso berühmte westliche Südportal, über dessen uralten Basreliefs sich schon damals Altertumsforscher den Kopf zerbrachen, denn sie waren sichtlich älter als der ganze Münsterbau. In der folgenden Nische endlich hauste seit nahezu vierzig Jahren im allgemeinen zufrieden mit sich und der Welt als Privatgelehrter der letzte der städtischen Pestilenziarii hinter einem gewaltigen Holzstoß. Denn er erhielt neben seiner Pension von 32 Gulden 50 Kreuzer vierteljährlich 5 Klafter Buchenholz und 25 Wellen Reisig, die er mit seinem Freund, dem Türmer Lombard, zu teilen hatte.

Das Häuschen, das Brechtle seiner Kleinheit wegen ausnehmend wohl gefiel, hatte zwei Fensterchen und eine niedere Tür, die trotzdem bis an die Dachtraufe reichte. Es erinnerte ihn an die schönsten Märchen von Zwergen und Kobolden, die in den Spinnstuben von Ochsenwang erzählt wurden. Das Innere bestand aus zwei Gemächern. Das kleinere war des Pestilenziarius Schlafzimmer und geräumig genug, eine nicht allzu große Bettstätte, einen Stuhl und ein Tischchen aufzunehmen. Nur mußte der Magister, wenn er auf dem Bett sitzend seine Stiefel anziehen wollte, die Tür ins Nebenzimmer öffnen. Dieses diente ohne Schwierigkeiten als Empfangs-, Speise- und Studierzimmer. Es enthielt einen Ofen, in dem gekocht werden konnte, einen Bücherständer, der bis an die Decke mit sauberen, aber vielbenützten Bänden gefüllt war, ein kleines Stehpult, dessen unteres Stockwerk als Kleiderschrank diente, einen Tisch, der im Innern das Tafelgeschirr barg, und vier Stühle. »Drei mehr, als ich gebrauche«, erklärte der zufriedene Krummacher; eine Behauptung, die er in den kommenden Jahren nicht mehr aufrechtzuerhalten vermochte, denn ein zweiter war für Brechtle notwendig geworden, der auf einem dicken, in Schweinsleder gebundenen Kommentar der fünf Bücher Mosis sitzend den größeren Teil von vier hoffnungsvollen Jugendjahren in der stillen Klause verleben sollte. Im übrigen herrschte in derselben eine musterhafte Ordnung und eine fast peinliche Sauberkeit. Jedes Ding, Bürste, Tintenfaß, Schere, die blecherne Studierlampe mit ihrem grünen Schild, jedes Buch und jedes Blatt Papier hatte sichtlich seinen bestimmten Platz, und das Sonnenlicht, das gedämpft durch die grünen Vorhängchen auf die sandbestreuten Dielen fiel, fand in dem ganzen sorgfältig ausgenutzten Raum kein Fleckchen, an dem es hätte Anstoß nehmen können. Dazu kam noch, daß sich drinnen im Münster, dessen zerfressene Backsteinmauern Rück- und Seitenwände des Häuschens bildeten, ein Schüler des Kantors mit unermüdlicher Beharrlichkeit im Orgelspiel übte, und die langgezogenen, tiefen Töne fromm und friedlich durch die Steine zitterten. Brechtle fühlte, ohne daß er sich dessen klar bewußt wurde, daß er hier Schutz finden würde, wenn ihm der Herr Konrektor oder irgendein anderer Wüterich das Leben allzu sauer machen sollte.

Nachdem der obenerwähnte Kommentar ausgesucht und sich bezüglich seiner Dicke bewährt hatte, wurde der Kleine an den Tisch gesetzt. Der Pestilenziarius drückte ihm freundlich eine Feder zwischen die Fingerchen und legte ihm ein Blatt Papier unter die Nase. Dann begann ein erstes vorläufiges Examen, dem Brechtle einen zwar schüchternen, aber nicht ganz erfolglosen Widerstand entgegensetzte. Deutsches Lesen und Schreiben gingen nicht übel. Auch begann er, als er merkte, um was es sich handelte, aus eigenem Antrieb seine Rechenkunst aufzuzeigen, was vom Herrn Magister mit etwas ungeduldigem Kopfschütteln hingenommen wurde. Selbst einige geographische Kenntnisse verriet das Bürschchen, indem es auf die Frage, welchen Fluß das Volk Israel zu überschreiten hatte, um aus der Wüste ins Gelobte Land zu kommen, ohne Zögern erwiderte, daß der Neckar in den Rhein fließe und der Rhein in die Nordsee, in der Nordsee aber die Engländer wohnten, die Feuermaschinen zu bauen verstünden. In Classicis dagegen sah es höchst bedenklich aus.

»Wie alt bist du denn eigentlich?« fragte der Pestilenziarius nach einer kurzen Prüfung mit einem Blick der Verzweiflung. »Zehn Jahre? Und von mensa und amo keine Spur! Wie soll das enden?!«

Er seufzte schwer. Nach einer Pause aber fuhr er sehr ernst fort:

»Was willst du denn eigentlich werden?«

Brechtle, der ganz munter und gesprächig geworden war, glaubte jetzt auch traurig aussehen zu müssen, tat es und schwieg.

»Na, sag's nur!« ermutigte ihn Krummacher wieder lächelnd, und es war wunderbar, wie das häßliche Gesicht sich verändern konnte, wenn der Mann lächelte. »Hast du in Ochsenwang nie darüber nachgedacht, was du werden möchtest?«

Schüchtern, halblaut, aber doch mit plötzlich erwachendem Vertrauen sagte der Kleine:

»Ein Vogel.«

»Was?« rief der Pestilenziarius mit einer Grimasse des Entsetzens, die einen gereiften Mann hätte erschrecken können.

»Ein Vogel«, wiederholte der Junge trotzdem zuversichtlich und sah seinem erschrockenen Gönner voll und harmlos ins Gesicht.

»Dummheit! Dummheit, Brechtle!« brach dieser jetzt los. »Das darfst du niemand sagen, so lange du in Ulm bist! Versprich mir das! Man hält uns sonst für verrückt und sperrt uns ein. Ein Vogel! Ein Ulmer Spatz vielleicht? Dumms, dumms Büble! Komm jetzt, 's ist Zeit!«

Der Kleine war dem Weinen nahe. Er hatte ja nur sagen wollen, daß er fliegen können möchte – nach Ochsenwang, wo sein Vater begraben lag, der ihn gleich verstanden hätte, über die Donau, wo keine Brücken sind, über das Münsterdach. Da hätten die Ulmer die Augen aufgerissen! Das wäre doch nicht so dumm gewesen!

Aber er hatte jetzt keine Zeit zum Weinen. Vom Münsterturm herunter schlug's elf Uhr. Sie hätten schon an des Herrn Konrektors Zimmertür klopfen sollen.

Zum Glück hatten sie einen kurzen Weg. Auf dem jetzigen Münsterplatz stand damals ein kleines Kirchlein, das seinerzeit zu einem Franziskaner- oder Barfüßerkloster gehört hatte. Es wurde in einer Zeit niedergerissen, in der man keinen Sinn für architektonische Poesie hatte, und es für schön hielt, den Prachtbau des Münsters zu zeigen, wie man ihn auf einem Reißbrett aufzeichnet. In dem alten Kloster war das städtische Gymnasium untergebracht. Dort hauste der Allgewaltige, der mit einem spanischen Rohr gut schwäbischen Ursprungs als Zepter das Wohl und Wehe von dreihundertfünfzig Jungen der heranwachsenden geistlichen und weltlichen Aristokratie des reichsstädtischen Gebiets in der Hand, oder wie er vorzog, es zu nennen, unter dem Daumen hielt.

Die Audienz war kurz und entscheidend. »Na nu?« sagte der Herr Konrektor ohne ein Lächeln als Erwiderung auf eine tiefe Verbeugung des Pestilenziarius, die sein kleiner Schützling, überwältigt von Ehrfurcht, nachzuahmen suchte und damit jedem anderen Sterblichen ein herzliches Lachen abgezwungen hätte. »Na nu?«

Krummacher erklärte des längeren, um was es sich handele. Der Herr Rat Schwarzmann wünsche, daß sein Neffe, der hier anwesende Albrecht Ludwig Berblinger, möglichst sofort in die seinen bescheidenen Kenntnissen entsprechende Klasse des Gymnasii aufgenommen werde, und zwar bis auf weiteres als Partemist Partemisten nannte man Schüler, die aus alten Stiftungen, an denen es in Ulm nicht mangelte, ein kleines Stipendium erhielten, in den unteren Klassen 3–4, in den oberen 10 Kreuzer täglich., da sein Vater kürzlich, nicht mit irdischen Glücksgütern gesegnet, auf bedauerliche Weise ums Leben gekommen, sein Großvater aber ehrsamer Ulmer Bürger gewesen sei.

»Berblinger?« ließ sich der Gewaltige vernehmen, indem er wie ein Spürhund mit erhobener Nase schnupperte. »Berblinger! Ja, ja, erinnere mich; kenne den Namen leider. War dem Gymnasio keine Ehre. Aber mit Rücksicht auf den Herrn Rat Schwarzmann wollen wir's versuchen. – Man kann also nichts, Bub, gar nichts? Na, es ist nicht der einzige diese Sorte, den wir mitschleppen. Du kannst morgen in die achte Klasse, sitzen und zuhören – werde mit dem Präzeptor Stöckle sprechen – und dann im Herbst mit den anderen ABC-Schützen von vorn anfangen. Aber unter einer Bedingung, Herr Pestilenziarius, die anderen fünf sind nicht von Bedeutung, denn sie verstehen sich von selbst: amo, amas, amat! Wenn mir das Bürschchen anfängt, Allotria zu treiben, wie sein in Gott ruhender Papa, fliegt's hinaus und kann meinethalben Schneider werden! Adieu!«

 

Wenige Wochen später, wenn auch nicht ohne mancherlei Zwischenfälle, die ihn schmerzlich an die kindliche Freiheit, an die stillsonnigen Wiesen und rauschenden Wälder seiner Rauhen Alb erinnerten, hatte Brechtles Leben eine bestimmte und geregelte Form angenommen. Drei Tage nach der Vorstellung beim Konrektor war das blaue Mäntelchen fertig geworden, in dem er als Partemist, seine Schulbücher unter dem Arm, nunmehr täglich nach dem Münster wanderte, wofür ihm wie seinen gleichfalls blaubekleideten Kameraden täglich drei Kreuzer zustanden, die er anfänglich freudig erstaunt in Empfang nahm und sorgfältig zusammensparte, da er sie seinerzeit für große, noch nicht ganz reife Pläne auszugeben gedachte. Sein täglicher erster Besuch galt dem Herrn Pestilenziarius, den er beim selbstgebrauten Morgenkaffee in einer Tabaksrauchwolke antraf, in welcher eine Geschichte und Beschreibung des Münsters zu Ulm entstand, die nach seinem Tod die Welt in Erstaunen setzen sollte. Doch unterbrach er diese Lieblingsarbeit willig, um dem Jungen ›das Gewehr zu visitieren‹, wie er es nannte, das heißt sich zu überzeugen, ob die Schulaufgaben gemacht und nicht alles vergessen sei, was er ihm am verflossenen Nachmittag eingetrichtert hatte. Denn auch die Nachmittags- und Abendstunden brachte der Junge in dem kleinen Häuschen zu, das seine geistige Heimat geworden war.

Im Schwarzmannschen Haus wollte es ihm nicht warm werden. Der Onkel war nicht unfreundlicher und gleichgültiger gegen ihn als gegen die übrigen Hausgenossen und schien ihn nach kurzer Zeit kaum mehr zu sehen; auch die Tante kümmerte sich nur dann um ihn, wenn ihn sein Vetter Hans allzu roh hin und her stieß. Dieser zierte schon längst die letzte Bank der vierten Klasse des Gymnasiums und behandelte Brechtle mit gebührender Verachtung, nachdem sich gezeigt hatte, daß der Kleine nicht geneigt war, sich ganz als das Sklävchen des Größeren zu betrachten und er einmal mit blutüberströmtem Gesicht aus einem Kampf hervorgegangen war, der die Frage eines Modus vivendi zwischen beiden feststellen sollte. Es handelte sich zwar nur um die Nase, allein Blutvergießen in der eignen Familie war auch dem Onkel unangenehm, so daß der Sieg für Hans schmerzliche Folgen hatte und beide von nun an in stummer Feindschaft nebeneinander hergingen. Kaum erfreulicher gestaltete sich das Verhältnis zu Hansens Schwestern, von denen Lottchen, die jüngere, nicht an ihm vorübergehen konnte, ohne ihn wegen seines blauen Mäntelchens, wegen seiner Kleinheit, wegen seines unordentlichen Zöpfchens zu necken, bis er eines Tages, zur Verzweiflung gebracht, an dem großen Mädchen wie eine Katze hinauffuhr und ihr einen Ohrring zerbrach. Auch dies führte zu einer Familienszene, in der er den Kürzeren zog und sogar von seinem Gönner, dem Pestilenziarius, zwei Ohrfeigen erhielt, die ihn tief schmerzten. Denn wenn er auch scheinbar der Angreifer gewesen war und der Angriff mit den Geboten der Galanterie und Ritterlichkeit nicht in Einklang zu bringen war, so hatte ihn doch nur die Notwehr dazu getrieben. Auch erreichte er seinen Zweck immerhin so weit, daß das Bäschen ihn nur noch aus sicherer Entfernung über das Treppengeländer herab oder durchs Gangfenster heraus verhöhnte, wobei er sich den Schein geben konnte, sie nicht zu hören.

Einen nie ganz versagenden Trost hatte er auch im Haus des Onkels gefunden. In einer von sonst niemand betretenen Dachkammer des altertümlichen Gebäudes entstand mit der Zeit eine Werkstätte, die man für eine kindliche Nachbildung des Schuppens hätte halten können, in dem sein Vater zu Ochsenwang gehaust hatte. Dort entstanden unter einem Gewirr von Bindfäden und Brettchen, Nägeln und Schräubchen Kupferhämmer aus Holz, Stampfmühlen aus Pappe und später selbst rätselhafte Gegenstände, mit denen er das Perpetuum mobile zu verbessern hoffte. Als er in der Freude über einen derartigen Plan dem Pestilenziarius das Geheimnis dieser Kammer nicht mehr verbergen konnte, erschrak dieser heftig und verbot ihm streng, die kostbare Zeit seiner Jugend mit nichtsnutzigen, verwerflichen Spielereien noch ferner zu vergeuden. Es half wenig. Doch blieb es der Kummer seiner Schulzeit, daß er seinem Gönner nun nichts mehr von den Geheimnissen der Dachkammer mitteilen konnte, bis Lottchen sie entdeckte und Hans eine furchtbare Verwüstung unter seinen Erfindungen anrichtete. Fast schluchzend erzählte er dem Magister das Unglück, das ihn betroffen hatte, und mußte es hinnehmen, daß dieser mit einem inbrünstigen »Gott sei Dank!« die Sache für erledigt erklärte und ihn mit ungewöhnlicher Bitterkeit anwies, seine Aufmerksamkeit einem gestern verbrochenen ›ut mit dem Indikativ‹ zuzuwenden. »Das kommt davon!« schloß er. »Gib dich zufrieden, Brechtle, und sei ihm dankbar. Dein Vetter hat dich vielleicht gerettet.«

Das Schmerzlichste für den kleinen Partemisten und Lateinschüler, das ihn schon im Verlauf des ersten Vierteljahres traf, war die Trennung von seiner Mutter. Die arme Frau fühlte sich in ihrem alten elterlichen Haus, in dem sie Jahre zugebracht hatte, die ihr jetzt als die glücklichsten ihres Lebens erschienen, mit jedem Tag unglücklicher. Sie setzte deshalb auch bald ihrem Bruder keinen Widerstand mehr entgegen, der schon in den ersten Tagen ihrer Rückkehr angedeutet hatte, daß es das klügste wäre, wenn er versuchte, ihr eine passende Unterkunft in der ›Sammlung‹ zu verschaffen. Die Sammlung beruhte auf einer unter städtischer Verwaltung stehenden Stiftung. Es war ein aus einem Nonnenkloster hervorgegangenes Frauenstift, in dem zwölf dem Geschlecht der Patrizier oder der ›guten Gemeinde‹ angehörige Frauen oder Fräulein ein Heim fanden, ohne an ein klösterliches Gelübde gebunden zu sein. An Raum fehlte es nicht, denn die Sammlung war nicht sonderlich beliebt, wenn auch die mittelalterliche, wenig kleidsam Tracht der Stiftsdamen seit kurzem abgeschafft worden war, und Schwarzmanns Einfluß war groß genug, eine freie Stelle für seine Schwester zu sichern. Auch tat er sich etwas darauf zugute, es am nötigen Geld nicht fehlen zu lassen. Dies hatte eine geheime Ursache, über die er sich in rücksichtsvoller Weise nicht aussprach. Der tägliche Anblick seiner enterbten Schwester, deren Vermögensanteil seine Taschen schwellte, war ihm unangenehm, und alles Unangenehme mußte er sich aus dem Weg schaffen. Es sollte ihn nichts, auch keine unnötige Verstimmung in der Verfolgung wichtigerer Pläne hindern, die in den stürmischen Zeiten, in denen sich so vieles änderte, nicht aussichtslos waren. Er wollte den Adel, den sein Onkel leichtfertig weggeworfen hatte, erneuert haben, er wollte im Kleinen Rat und auf der Oberen Stube zu Hause sein, sagten die Leute halb lachend, halb bewundernd. Er wollte als Bürgermeister der freien Reichsstadt Ulm enden, sagte er sich selbst, so oft er das Rathaus betrat und ihn einer der alten Besserer, Welser, Krafft oder Schad über die Schultern ansah.

So kam es, daß Frau Berblinger nicht ungern nach der Frauenstraße übersiedelte und ihr Witwenstübchen in der Sammlung bezog, das etwas freundlicher in einen wohlgepflegten Garten hinabsah als die gelbe Stube in der Herbelgasse auf die Riegelwand des Nachbarhauses. Sie war dort bleicher geworden als je zuvor, aber auch das Grün und Blau des Gärtchens waren nicht mehr imstande, die alte Farbe auf die einfallenden Wangen der jungen Frau zurückzurufen. Für Brechtle, der seine Mutter zweimal in der Woche besuchen durfte, wurden diese Tage zu Festtagen, nicht bloß, weil er bei der Mutter sein Herz ohne Scheu ausschütten konnte, auch nicht, weil die anderen Frauen der Sammlung den kleinen Lockenkopf wie ein Spielzeug von Hand zu Hand gehen ließen und ihn mit Zimtsternen, Äpfeln und Nüssen beluden – er fühlte, daß er all dies für die Geduld verdiente, mit der er ihre Zärtlichkeiten ertrug –, sondern besonders, weil man ihm erlaubt hatte, des Vaters Perpetuum mobile als Schmuckstück auf einem Kommödchen aufzustellen und weil er nun allen Ernstes anfangen konnte, es zu verbessern und zu verschönern. Bald nahm er ein Schräubchen, bald eine kleine Stange oder eine Welle mit, um ihr eine andere, etwas hoffnungsvollere Form zu geben, und übersah fast, daß seine Mutter mit Tränen in den Augen zusah und von Monat zu Monat bleicher zu werden schien. Manchmal begleitete ihn bei diesen Besuchen sein treuer Gönner und Freund, der Pestilenziarius. Der übersah es nicht, wagte aber kaum etwas zu sagen, was von jeher seine Art gewesen war. Sie sprachen von Brechtles Vater, über Brechtles Fortschritte und Aussichten, die, wie er behauptete, mit jedem Tag etwas besser würden und ganz gut wären, wenn man ihn abhalten könnte, sich allzu eifrig mit Allotrii zu beschäftigen. Die Mühlen und der Kupferhammer, die Schiffe und Flöße zerstreuten ihn in ungebührlicher Weise, und es scheine kein Mittel zu geben, so gut er sonst zu leiten sei, ihn abzuhalten, in jeder freien Viertelstunde nach der Donau oder der Blau zu laufen. Trotzdem hoffe er das Beste und habe seinen Plan. Eigentlich sei Brechtle ja Württemberger und Blaubeuren ganz in der Nähe. Wenn sich das Bürschchen zusammennehmen wollte, brauchte es das Landexamen in Stuttgart nicht zu fürchten. Er werde mit dem Herrn Rat sprechen, und wenn dieser das Geld bewillige, sei er selbst bereit, mit dem Kleinen nach Stuttgart zu pilgern und am großen Wagnis teilzunehmen. Gehe es gut, so sei für Jahre, eigentlich für alle Zukunft gesorgt. Er sehe Brechtle heute schon im Geist auf einer Kanzel, ein niedliches Pfarrherrchen.

Zum erstenmal seit langer Zeit stieg ein freudiges Rot in Frau Berblingers Wangen auf, und sie dankte dem treuen Beschützer ihres Sohnes so lebhaft, daß dieser zweimal röter wurde. Dann überfiel sie ein heftiger Husten, so heftig und anhaltend, daß der Magister am folgenden Tag den Sanitätsrat Bühler, den Hausarzt der Schwarzmann, in die Sammlung schickte. Dieser berichtete am Abend, eine eigentliche Krankheit sei nicht festzustellen, doch sei mit dem Herzen nicht alles in Ordnung. Man könne jetzt noch nicht wissen, wie es gehen werde. Frau Berblinger müsse sich jedenfalls in acht nehmen. Worauf der gute Krummacher sie in einem ehrerbietigen Schreiben dringend bat, sich in acht zu nehmen.

Auch ihr Bruder mußte sich in diesen bösen Zeiten in acht nehmen. Kaum zwei Monate nach der Besetzung Ulms durch die Franzosen standen die Österreicher wieder vor den Toren der Stadt und begehrten Einlaß. Die französische Armee unter Moreau war in eiligem Rückzug, und seine letzten Regimenter verließen Ulm, nachdem sie in aller Eile eine Kriegskontribution von 200 000 Gulden eingezogen hatten. Auch Schwarzmanns Sympathien für die Fremden, die er ›im Interesse der Stadt‹ etwas auffällig zur Schau trug, erlitten hierdurch einen heftigen Stoß, denn trotz allen Protestierens beschloß der Magistrat, den reichen Schiffer und Zunftmeister mit 6000 Gulden heranzuziehen. Überdies erfolgte die Besitznahme der Stadt durch die befreundeten Kaiserlichen leider nicht so glatt wie vor kurzem durch die feindlichen Republikaner. Diese hatten beim Abzug sämtliche Stadttorschlüssel mitgenommen und die Aufzüge der Fallbrücken derart verdorben, daß trotz des besten Willens seitens des Magistrats die getreuen Bundesgenossen mehrere Stunden warten mußten, ehe der siegreiche Einzug des Reichskontingentes erfolgen und Herr Schwarzmann den kommandierenden General seiner unverbrüchlichen Treue zu Kaiser und Reich versichern konnte. Brechtle saß während dieser peinlichen Stunden, die zu einem kurzen mißverständlichen Bombardement der Stadt geführt und das Dach des Gänseturmes gekostet hatten, wohlgeborgen bei seinem Protektor zwischen den Pfeilern des Münsters und konjugierte bereits die lateinischen unregelmäßigsten Zeitwörter fehlerlos, wenn ihn nicht von Zeit zu Zeit ein freundschaftlicher Kanonenschuß ins Stocken brachte. Man wußte zur Zeit in der Tat nicht mehr genau, was oben und unten, vorn und hinten, gut oder bös, französisch oder deutsch war, so toll ging es zu.

Trotz alledem verflossen für Brechtle zwei Jahre, ehe ein entscheidendes Ereignis in sein Leben eingriff. Unermüdlich geschoben und gezogen, hatte er wirkliche Fortschritte gemacht, und da der gute Pestilenziarius den Einfluß des Herrn Onkels in schamloser Weise zur Geltung brachte, setzte er gewisse Unregelmäßigkeiten durch, die die erstaunlichsten Leistungen des Jungen nicht gerechtfertigt hätten. So saß er schon im zweiten Jahr seiner Gymnasiallaufbahn in der dritten Klasse, war auch dort und zwar noch viel mehr der Kleinste, aber trotzdem der fünfte unter seinen Mitschülern und erhielt als solcher bei der großen Osterprüfung seinen ersten Preis: eine Denkmünze, auf der das Bildnis eines Herkules in der Löwenhaut und der anfeuernde Sinnspruch ›plus ultra‹ prangte. Mit dieser Denkmünze begab sich der Pestilenziarius zum Herrn Rat und hatte mit ihm eine längere Unterredung, von der er freudestrahlend in sein Häuschen zurückkehrte, entschlossen, seinem kleinen Schützling etwas Außerordentliches zu gewähren.

Dies bedurfte keiner großen Vorbereitungen. Er hatte einen Freund, augenscheinlich den einzigen in der weiten Welt, dem er an jedem Freitagnachmittag einen Besuch abstattete, welchen dieser aber niemals erwiderte. Brechtle wußte dies, weil er infolge hiervon am Freitagnachmittag keine Privatstunden genoß, sondern gehen konnte, wohin ihn sein Herz trieb, nämlich in den Kupferhammer, oder in die Zundelmühle, oder auf die Zillen im Schwahl. Schon längst aber hätte er am liebsten seinen Gönner und Mentor begleitet, denn er wußte, daß dieser dann den Münsterturm bestieg und mit dem Turmwart Lombard einen bescheidenen Abendimbiß teilte. Vom Turmwart Lombard aber sprach man in der ganzen Stadt mit einer gewissen geheimnisvollen Scheu, niemand wußte so recht warum. Denn er tat seine Pflicht redlich, schlief nie, wie seine zwei Hilfswächter versicherten, und roch ein Feuer im Umkreis von zehn Meilen, ehe man die Spur eines Rauchs bemerken konnte. Vom großen Brand, der den Weinhof mit sechzehn stattlichen Häusern vernichtete, habe er acht Tage zuvor gesprochen. Daß er scheinbar mehr nach den Sternen guckte als nach der Stadt, konnte man ihm deshalb nachsehen. Dabei war er ein halber Gelehrter, hatte geschriebene uralte Bücher, die niemand lesen konnte, und erhielt Briefe aus der ganzen Welt, oft zwei in der Woche! Ältere, ehrbare Leute schüttelten den Kopf und meinten, der Lombard sei noch einer von den ganz Alten, die wie Henker und Schäfer und Türmer zu keiner ehrlichen Zunft gehörten.

»Brechtle«, sagte der Magister, als er dem Kleinen am Syrlingsbrunnen begegnete, wo er mit zwei anderen Lateinern aus wissenschaftlichem Forschungstrieb, wie sie versicherten, den Fischkasten zu öffnen versuchte, »mit dem Landexamen hat es seine Richtigkeit. Bedank dich bei deinem Herrn Onkel recht schön. Und heute hast du's verdient, daß ich dir eine Freude mache. Du hast mir auch eine gemacht und sollst mit auf den Turm und die ganze Welt von oben sehen.«

›Endlich!‹ dachte Brechtle fast zitternd vor Vergnügen, und ein kleiner Schauder, der sich in das Zittern mischte, machte es doppelt angenehm.


 << zurück weiter >>