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16 Musiö François

Es war zweifellos: die Meisterin hatte das Geheimnis des Hühnerstalls entdeckt. Gretle wollte sogar bemerkt haben, wie sie in dem Glauben, unbeobachtet zu sein, den Versuch machte, in das obere Stockwerk hinaufzuklettern, das mehr und mehr in eine ›schöne Stube‹ verwandelt worden war. Merkwürdigerweise aber sprach sie nie ein Wort über die Sache, obgleich sie nach wie vor in allem, was Gretle oder der jüngste Junge taten oder zu tun unterließen, Veranlassung sah, ihre Mißbilligung in schärfster Weise auszudrücken. Die kleine Magd konnte die Zwillinge stundenlang ungestört in dem Versteck spielen lassen, obgleich sie gelegentlich aus der Beletage ins Parterre herunterkugelten; Berblinger fand am Abend, wenn ihm der Tag zu sauer geworden war, eine halbe Stunde Ruhe auf dem vermoderten Balken, der den Sofa vorstellte, und hatte sogar ein Plätzchen für seinen Euklid, des Pestilenziarius' Neues Testament und ein uraltes Physikbuch mit wertvollen alchimistischen Rezepten gefunden, das aus der Klosterzeit stammte. Eine zerbrochene Küchenlampe vermochte er so weit herzustellen, daß sie wieder glänzende Dienste tat. Selbst Gotthilf ging ein und aus, wenn er in Ulm war, ohne sich allzu ängstlich durch die Hausflur stehlen zu müssen. Einmal war er sogar eingeschlafen und hatte sich erst am frühen Morgen davongeschlichen. Er konnte nicht genug rühmen, wie wohl ihm diese Nacht getan habe. Es war trockener als in seinem Keller und bei dem milden Winter des Jahres ganz warm in dem Ställchen, wenn man die Luken mit Stroh verstopfte. So wurden die drei immer dreister, meinte Gretle, und die Meisterin sagte noch immer nichts.

Es war das Weihnachtsbäumchen, das bis in den Frühling hinein strahlte.

Auch in andern Dingen wurde manches erträglicher. Berblinger hatte ganz unerwartet einen geschäftlichen Erfolg erzielt und dadurch eine gewisse Stellung gewonnen, die allerdings, wie der Altgeselle erklärte, allem Handwerksgebrauch ins Gesicht schlug und Nick zu erneuten Bosheiten anspornte. Die ›Maße‹ der Kunden, lange, mit Nadeln zusammengeheftete Papierstreifen, in denen nur dem Eingeweihten verständliche Kerben und Einschnitten die Abmessungen für Rock, Hose und Weste des Herrn X, Y und Z bezeichneten, hingen in zwei schweren Bündeln an der Wand der Werkstatt. Jeder Streifen war mit den Namen des betreffenden Herrn und dem Anfertigungstag versehen. Traf die Bestellung eines früheren Kunden ein, so wurde sein ›Maß‹ hervorgesucht, und wenn keine allzu sichtbaren Veränderungen mit dem Umfang eines würdigen Papas oder der Länge seines Söhnchens vor sich gegangen waren, danach das Tuch zugeschnitten und die Arbeit begonnen. In dem alten Geschäft waren nun diese Bündel ins Unförmliche angewachsen und enthielten Maße von alten Patriziern, Ratsherren und Zunftmeistern, die längst keine Kleider mehr brauchten. Ein bestimmtes Maß herauszusuchen, prüfte Bockelhardts Geduld wöchentlich ein- bis zweimal aufs schwerste und kostete oft stundenlange Arbeit, die immer schwieriger wurde, da ihn der Stolz auf die Dicke seiner Maßbündel verhinderte, die alten, sozusagen abgestorbenen Maße zu vernichten.

Nachdem dies Berblinger einige Monate lang mit angesehen hatte, faßte ihn eines Tags, zum erstenmal wieder seit langer Zeit, jenes freudige Gefühl des Schaffens, das einen großen Gedanken, das Entstehen einer Erfindung begleitet. Eine Woche lang trug er die Sache still in sich herum, dann konnte er dies nicht länger ertragen und verschaffte sich mit dem Beistand Gotthilfs vierundzwanzig alte Nägel. Hierauf benutzte er eines Abends die Abwesenheit von Meister und Altgesellen, schlug sie zum Staunen Enderles und unter gräßlichen Prophezeiungen Nickels in die Wand und schrieb über jeden auf die schwarze Täfelung mit Kreide einen Buchstaben des Abc. Dann hing er die Maßstreifen nach dem Alphabet geordnet an den vierundzwanzig Nägeln auf und wurde mit dieser Arbeit gerade fertig, als Meister und Altgeselle zusammen eintraten. Stirnrunzelnd, mit weit aufgerissenen Augen betrachtete der erstere die Veränderung, die mit den Bündeln und der Wand vor sich gegangen war. Wer hatte diesen Schabernack ins Werk gesetzt? Nick wies verschmitzt lächelnd auf Berblinger. Der Altgeselle griff instinktmäßig nach der Elle, und Nicks schlimmste Voraussagen schienen in Erfüllung gehen zu wollen.

Da, im Augenblick der höchsten Gefahr, öffnete sich die Tür und ein kleiner Junge im blauen Gymnasialmäntelchen schrie, ehe er ganz in der Stube war: Einen schönen Gruß vom Herrn Oberlehrer Quaste, und der Herr Oberlehrer Quaste brauche so schnell als möglich ein Paar neue schwarze Kniehosen wegen der Visitation. Der Herr Regierungspräsident von Hertling werde schon übermorgen erwartet.

Das war das neue bayerische Oberhaupt der einst freien Reichsstadt Ulm, und die Kniehosen waren zweifellos ein dringendes Bedürfnis der neuen Zeit. Bockelhardt warf einen fast verzweifelten Blick auf seine wie er glaubte vernichteten Maßbündel. Berblinger aber sprang auf, nahm den ›Oberlehrer Quaste‹ von dem Q-Nagel, an dem er in würdiger Einsamkeit baumelte, und überreichte ihn dem Meister. Diesem ging plötzlich ein Licht auf. Er sprach: »Donnerwetter! Der Lausbub!« – Das höchste Lob, das ihm Prätle bis jetzt abzuringen vermocht hatte. Aber noch nach Wochen konnte man den Meister sehen, wie er in stiller Betrachtung, den Kopf nicht unfreundlich schüttelnd, vor den vierundzwanzig Bündeln stand, aufs Geratewohl einen Namen murmelte und nach wenigen Minuten das entsprechende Maß aus dem entsprechenden Bündel zog. In der Herberge erklärte er einem engeren Kreis frühschoppengewohnter Meister, daß sein Studentle nicht ganz so dumm sei als er aussehe. Aus dem könne noch etwas werden, wenn man ihn, nach Handwerksgebrauch, gehörig zustutze. Dafür sorgte der Altgeselle mit gesteigerter Gewissenhaftigkeit. ›Hatte je ein Lehrjunge die Frechheit gehabt mit den Maßen zu hantieren wie dieser verdammte Prätle!‹ war der leitende Gedanke, der für die nächsten Monate seinem Erziehungssystem zugrunde lag. Da und dort tauchte die Frage auf, ob die Zunft eine derartige Neuerung dulden könne, da sie den Meistern, die sich ihrer bedienten, einen unberechtigten Vorteil gewähre. Der Fall wurde sogar vor offener Lade besprochen und Berblinger erlangte hierdurch eine für einen Lehrjungen ganz ungebührliche Berühmtheit. Man entschied sich jedoch dahin, die Sache auf sich beruhen zu lassen, da die Mehrzahl der Meister in der Lage sei, das neue System ohne große Kosten und Umstände einzuführen.

Das Bockelhardtsche Geschäft ging auch im allgemeinen etwas besser. Gegen Ostern erschienen ein paar alte Kunden wieder, darunter der Altbürgermeister und Staatsrat Baldinger, die längst abgefallen waren. Es war stadtbekannt geworden, daß der Neffe des Rats Schwarzmann bei Bockelhardt Lehrling geworden war, und der Herr Rat gehörte zu den bestgekleideten Leuten der Stadt. Daraus schloß man, daß Bockelhardt doch nicht so übel sein dürfte. Man konnte ihn ja wieder einmal versuchen, und dem Schwarzmann, dessen Einfluß bei den neuen Herrn aus Bayern augenscheinlich wuchs, gelegentlich einen Wink geben, daß man auf den kleinen Berblinger schon jetzt Rücksicht nehme. Solch kleine Dinge haben manchmal große Folgen gehabt, und der Schwarzmann mit seiner Anstelligkeit und Triebigkeit, Durchtriebenheit sagten manche – wer weiß! – eine Hand wäscht die andre.

Der Schneidermeister verstand die Sache allerdings anders. Er glaubte, daß die Leute vielleicht unter dem Einfluß der neuen Regierung endlich zur Vernunft gekommen seien und den besten Meister von Ulm zu würdigen anfingen. Noch weniger ahnte Berblinger, daß er oder die neue Regierung einen wohltätigen Einfluß auf das Geschäft ausübe. Letzteres kam ihm zuerst durch den Nachtwächter, der im Taubengäßchen seines Amtes wartete, zu vollem Bewußtsein. Er hatte infolge des Frühaufstehens dessen bekanntes ›Hört ihr Leute, laßt euch sagen, d' Glock hat viere g'schlagen. Hin ist die Vie-ie-re!‹ zum hundertstenmal gehört und sich nach und nach nicht ohne vielfache Beklemmungen daran gewöhnt. Nun verfügte ein hohes Regierungspräsidium, das auch im kleinen Wohl und Wohlanständigkeit der städtischen Verhältnisse zu erwägen trachtete, daß die Wächter nicht mehr rufen sollten: ›Hin ist die Viere‹, da solches nach neuerem Sprachgebrauch einer unfreundlichen und fast gröblichen Verunglimpfung der soeben verflossenen Stunde gleichkomme. In Zukunft sei zu rufen: ›Vorbei ist die Viere!‹ – Diese Verordnung wurde am 26. April 1804 erlassen und schon zwei Monate später weckte der neue Nachtwächter – mit dem alten war nichts mehr zu machen – Berblinger und die beunruhigten Hausbewohner des Taubengäßchens mit dem passenderen Ruf: ›Vorbei ist die Viere!‹

Das einförmige Tagewerk blieb trotzdem dasselbe; doch machte Berblinger Fortschritte. Über seine Knopflochstiche schüttelte Joseph zwar noch immer scheinbar zornig den Kopf, jedoch mit einem kaum merklichen feinen Unterschied, den der erfahrene Enderle bemerkte und zu erklären wußte. Das Schütteln, an das sich ein leises Nicken anschloß, bedeutete, daß die Stiche für einen Lehrjungen zu regelmäßig und zu fein ausfielen. Das war schon mehr die Arbeit eines Gesellen und konnte nach Handwerksgewohnheit kaum geduldet werden. Über Berblinger selbst kam jetzt hier und da ein Gefühl der Befriedigung mit seinem Werk. Die Nadel bekam Leben und hüpfte munter durch das Tuch, wenn auch noch nicht immer genau an der Stelle, die sie treffen sollte. Wäre es denkbar, daß selbst in einer Schneiderwerkstätte das alte Sätzchen: Arbeit macht das Leben süß! Wahrheit werden könnte? »Nicht möglich!« seufzte er dann, dachte an Zeller zurück und den Euklid, und sah sehnsüchtig den Ulmer Spatzen nach, die ums Fenster flogen.

Der Hühnerstall trug viel zur Besserung seiner Lage in der Werkstatt bei, denn es ist nun einmal eine unumstößliche Wahrheit, daß drei Viertel des menschlichen Glücks und Unglücks nicht in tatsächlichen Verhältnissen liegen, sondern in der Stimmung, in der sie uns finden. Sein schweigend anerkanntes Talent für Knopflöcher hatte den Nachteil, daß ihm zuerst der brummende Altgeselle, dann freundlich lachend Enderle und schließlich mit einem boshaften Rippenstoß Nick, kurz die gesamte Werkstatt ihre Knopflöcher zuschob und der Meister nur ärgerlich nickte, wenn er wenigstens gegen Nicks Löcher protestierte. Denn auch dem Meister lag daran, zierlich geformte Knopflöcher aus seiner Werkstatt hervorgehen zu sehen, solange er es umsonst haben konnte. Dies war zweifellos ehrenvoll, aber auch langweilig, und Brechtle sehnte sich lange Stunden hindurch nach den Zwillingen, nach Gretle, nach Gotthilf, kurz nach dem Hühnerstall. Ein solches Sehnen aber kann ganz unterhaltend werden, wenn man weiß, daß es schließlich zum Ziel führt.

Gotthilf kam natürlich nur selten, denn er war meist auf der Walze mit seinen Regenschirmen. Wenn er aber kam, war es besonders für Gretle ein wehmütiges Fest. Sie meinte, er werde immer magerer und bleicher, und trotz des milderen Wetters wurde sein Husten nicht besser; auch die Geschichten, die er von der Wanderschaft mitbrachte, nicht. Der alte Stallmeyer, der vor etlichen Monaten wegen der Kälte getrunken hatte, trank in den wärmer werdenden Tagen wegen des Dursts, und Gotthilf hatte es nach wie vor zu büßen. Einmal war er ins Fundelhaus zurückgelaufen und hatte dort seine wunden Füße und einen zerbrochenen Zeigefinger vorgewiesen. Es war ihm schlecht bekommen, obgleich sein Finger geschindelt wurde. In der Tat wurden sein bleichen Wangen hohler und seine großen Augen größer; es selbst wurde ruhiger und stiller, fast als habe er von dieser Welt nichts mehr zu hoffen. Dagegen leuchteten die Augen manchmal, als ob sie in eine andre, glücklichere sehen könnten. Zu andern Zeiten sprach er von seiner Mutter und von der Donau, wie wenn das seine Heimat wäre. Wenn ihn dann Gretle erschrocken ansah, lachte er freundlich und erklärte, er denke nicht daran, ohne zu sagen, an was. Die beiden verstanden sich jedoch so gut, daß Berblinger mit heimlichem Neid fühlte, um wieviel leichter dreifaches Elend zu tragen war, wenn man zu zweien daran trug. Es war dies nach Euklid und andern Mathematikern nicht richtig, aber es gibt geheimnisvolle Dinge, die wahrer sind als alle Mathematik. Auch tat es ihm gut, diese Beobachtungen zu machen und die eigentümliche weiche, kindliche Altstimme zu hören, wenn sie ihren Bruder, der keinen Trost brauchte, zu trösten suchte. War es in seinem eignen Elend nicht schmachvoll, sich von den beiden andern beschämen zu lassen?

Eine greifbare Erleichterung stand in naher Aussicht. Nickel sollte Ende Mai freigesprochen werden und wollte dann unverzüglich die Wanderschaft antreten. Dagegen hatte Enderle noch immer das Ränzel nicht ernstlich geschnürt. Warum, war ihm selbst ein Rätsel; denn daß ihn Bockelhardt nicht gern ziehen ließ, wog nicht schwer, und Gretle war doch noch zu jung, um mit ihr ein vernünftiges Wort sprechen zu können. Daß er sie mit den Augen verfolgte, wenn sie in der Stube herumhantierte und dem Arbeitstisch zu nahe kam, hatte Berblinger mehr als einmal bemerkt und sich darüber geärgert. Was wollte der Enderle eigentlich? Sie war ja noch ein halbes Kind.

Nun trat ein Ereignis dazwischen, das vielen Gesellen, die nicht ans Wandern denken mochten, Füße machte und Angst und Entsetzen im alten Reichsstadtgebiet verbreitete. Unter dem milden Zepter ihres neuen Kurfürsten hatte die Stadt ein ruhiges halbes Jahr genossen, Handel und Gewerbe schienen förmlich aufzuleben, und nur wenige beklagten heimlich den Zusammenbruch der alten, höchst fadenscheinig gewordenen Herrlichkeit, obgleich nicht bloß die Nachtwächter in etwas andrer Tonart singen lernen mußten. Die Patrizierfamilien hatten sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts nicht beliebt gemacht. Man ließ sie ohne sonderliches Mitleid knurren und freute sich fast darob. Neue Leute mühten sich eifrig, an die Spitze zu kommen, die ihnen in den alten Zeiten ganz unzugänglich gewesen war. Aber seit einigen Wochen drohte auch den gemeinen Leute, und gerade diesen besonders, etwas Neues, Unerhörtes: die Konskription. Soldaten sollten die jungen Leute werden, nicht Stadtmiliz, wirkliche Soldaten, in den Krieg ziehen, der morgen wieder ausbrechen konnte, aus dem nicht die Hälfte der Leute zurückzukehren pflegte. Die Söhne vornehmer Leute und der Beamten waren frei, die Reichen konnten sich loskaufen. Für die armen Leute, die Handwerker und die Bauern gab es keine Rettung mehr; selbst aus dem kleinsten Schneiderlein ließ sich ein leidlicher Soldat machen. Dem Vaterland zu dienen ist die höchste Ehre, sagten die Reichen, dulce et decorum est pro patria mori, zitierten die Gebildeten und kauften sich Stellvertreter. Was war dem Enderle das Vaterland? Bayrisch war er seit acht Monaten und wußte nicht, ob er es in acht Monaten noch sein werde. Niemand hätte ihm sagen können, wo er augenblicklich das deutsche Reich zu suchen habe, wenn er dazu Lust gehabt hätte. Aber er hatte nicht die geringste Lust. Das klügste war, sich beizeiten aus dem Staub zu machen. Er suchte deshalb sein Ränzlein wieder hervor, das er seit mehrere Monaten vernachlässigt hatte, und ließ sich von einem befreundeten Schuster die Stiefel sohlen. Nick wartete nur auf ihn, und Bockelhardt mußte sich nach einem oder zwei neuen Gesellen umsehen, denn das Geschäft blühte, wie es seit Jahren nicht floriert hatte.

Doch noch immer saßen sie an einem Juninachmittag vollzählig auf dem Arbeitstisch und nähten stumm und verdrossen bei offenen Fenstern, durch das die Sonne geschienen hätte, wäre sie vom Giebel des Nachbarhauses nicht verdeckt worden. Der Gipfel des Gaishirtlesbaums im Hof fing ihre Strahlen auf und winkte sommerlich und wanderlustig herunter. Berblinger mußte an Ochsenwang denken und wie sonnig es dort gewesen war.

Da klopfte es kräftig an die Tür – es mochte eher ein Stockknopf als der Knöchel einer Hand sein –, und ohne das Herein! abzuwarten, trat ein Mann in die Stube, dessen goldbrauner derber Ziegenhainer und die auf seinen Ranzen geschnallten zerrissenen Stiefel den vielgewanderten Handwerksburschen erkennen ließen. Er war keiner von den jungen, trug einen halbergrauten Bocksbart und blickte mit zwei schwarzen, stechenden Augen in dem braunen Gesicht keck um sich. Auch war er sichtlich ein dufter Kunde und wußte, was Handwerksbrauch war, stellte sich mitten in die Stube, den Ziegenhainer in der Rechten, den ›Filz‹ in der Linken, und begann:

»Gott willkommen, Meister und Gesellschaft, von wegen des Handwerks!«

Der Altgeselle stand auf und nahm eine ernst herablassende Haltung an. Sichtlich war der Zugewanderte noch einer aus der guten alten Zeit, der wußte, was sich schickt. Es geziemte sich, ihn würdig zu empfangen.

»Ich sage dir Dank, mein Gesellschaft«, sagte er höflich. »Bist du des Handwerks, mit Verlaub, daß ich frage?«

»Ich weiß nicht anders«, versetzte der Fremde. »Mit Verlaub und Gunst: So bist du der Altgesell?«

»Ich weiß nicht anders.«

»So will ich dich gebeten haben, du wollest mir Handwerksgewohnheit widerfahren lassen und für mich umschauen, es sei heut oder morgen; ist hier nichts, so ist's anderswo.«

»Warum nicht? Es ist Handwerksgebrauch«, versetzte Joseph und fuhr fort, wie der Fremde in einem eigentümlich schnurrenden Pathos zu sprechen, dem man anhörte, daß es sich um einen wohleingelernten, oft wiederholten Brauch handelte. Es war der Kanzelton des alten Handwerks, und nicht bloß Nick und Enderle, auch Berblinger hörte mit einer gewissen Ehrfurcht auf die wunderliche Wechselrede. Der Meister nähte ruhig weiter, als ob ihn die Sache zunächst nichts angehe. Auch dies gehörte zur jahrhundertealten Handwerksgewohnheit.

»Auch sage ich dir Dank, daß du bist zu mir gekommen«, ließ sich der Altgeselle des weiteren vernehmen, »denn wärest du nicht zu mir gekommen, so könnte ich nicht mit dir reden und du mit mir auch nicht.«

»So mit Gunst hätte ich ein Wort fürzubringen. Ich bitte dich, du wollest mir's nicht für übel haben.«

»Nichts überall! Rede, was dir vonnöten ist.«

»So mit Gunst, mein Gesellschaft, so bin ich hierhergewandert von der wohlberühmten Stadt Esslingen, allwo ich in Arbeit gestanden, und ist mein Gesellenname François Zwillich, und begehre von dir und allen guten ehrlichen Meistern und Gesellen und Jungen, Handwerksgewohnheit nach, in acht oder vierzehn Tagen in eines ehrlichen Meisters Werkstatt zu arbeiten, solange es mir und ihm gefällt. Kann mir solches von dir und deinen Gesellen, desgleichen auch den Jungen, die neben dir in Arbeit stehen, widerfahren, so möge es sein heut oder morgen; ist's hier nicht, ist's anderswo, wo ein guter ehrlicher Geselle einer zum andern kommt. Berg und Tal kommen nicht zusammen; aber ein guter ehrlicher Gesell oder Junge kommt wohl zum andern. So mit Gunst habe ich ausgeredet.«

Joseph blähte sich förmlich auf im Gefühl seiner Würde. Er war schon lange nicht mehr einem Gesellen begegnet, der die alten Sprüche in so korrekter Weise vorbringen konnte, und auch Meister Bockelhardt nickte wohlgefällig. Etwas vom alten Zunft- und Gesellenstolz lebte noch in den veralteten Formeln. Die Jungen überkam das Gefühl, mit dem wir im Abendsonnenglanz eine ehrwürdige Ruine betrachten.

»So mit Gunst«, begann der Altgeselle wieder, »was du von mir und allen guten und ehrlichen Meistem, Gesellen und Jungen begehrest, das soll dir widerfahren. Verzieh einen Stich! – So hält's Handwerksgewohnheit hier in der hoch- und weitberühmten freien Reichsstadt – will sagen, nunmehr kurfürstlich bayrischen Hauptstadt von Schwaben, Ulm. Zum ersten –«

Und nun begann er des langen und breiten eine Reihe Bestimmungen aufzuzählen, von denen einige noch heute beachtenswert wären, andre schon seit ein paar hundert Jahren keine Bedeutung mehr hatten, die meisten aber wie ein langer hinderlicher Zopf durch die Zeit der langsamen Entwicklung der Gewerbe nachgeschleppt wurden. Sie betrafen die Einlage in die Gesellenlade, das große hochlöbliche Ein- und Ausgeschenk, gewisse Beschränkungen in der Bearbeitung verschiedener Stoffe und in der Art der Arbeit selbst das Betragen gegenüber den Meistern und den Jungen, den Verkehr der Gesellen untereinander, Einzelheiten bezüglich des Aufstehens, des Beginns und Schlusses der Arbeitszeit, ja sogar des wöchentlichen Badens. Endlich schloß der Altgeselle:

»So mit Gunst, mein Gesellschaft, so weiß ich für diesmal nichts mehr vorzuhalten; es ist auch mir nicht mehr vorgehalten worden. Hab' ich ein Wort oder zwei ausgelassen, so bitt' ich dich, du wollest mir's nicht für übel halten. Wenn wir vor der Lade zusammenkommen, so soll dir's besser vorgehalten werden, was ich vergessen habe. Willst du nun solche Handwerksgewohnheit helfen stärken und nicht schwächen, so will ich für dich umschauen.«

Darauf erwiderte der Fremde mit einem Augenzwinkern, das Berblinger, auf den die ganze Zeremonie nicht ohne Eindruck geblieben war, unangenehm berührte:

»So mit Gunst, mein Altgesell: was Handwerksgewohnheit in dieser Stadt innehält und ausweist, will ich helfen stärken und nicht schwächen, denn es ist vorher schwach genug.«

»So mit Gunst, mein Gesellschaft«, fragte Joseph, »wo hast du das Handwerk gelernt?«

»Das Handwerk hab' ich gelernt in der weltberühmten Stadt Straßburg, so nunmehr zu dem ruhmreichen Kaiserreich oder vormaligen Republik Frankreich gehört, bin aber selbst deutschen Geblüts und Sprache, auch bin ich auf der Wanderschaft in Arbeit gestanden als ehrlicher Geselle zu Freiburg im Breisgau, zu Kolmar im Elsaß, zu Basel im Schweizerland, zu Nanzig, vornehmlich aber in der weltberühmten Stadt Paris, so jetzo eine Kaiserstadt geworden, und des ehrsamen Schneiderhandwerks Kaiserstadt gewest ist seit Anbeginn der Welt. Zuletzt bin ich in Arbeit gestanden zu Esslingen, im Kurfürstentum Württemberg, und ist hier mein Lehrbrief nebst meinem Wanderbuch, solches zu bekunden.«

»Wo begehrst du hin?« fragte der Altgeselle, indem er die Papiere zu sich nahm.

»So mit Gunst, mein Gesellschaft, so begehre ich am ersten zu dem Meister da ich angetreten bin, und danach vom ältesten bis zum jüngsten, sofern das Handwerk ehrlich ist.«

»So mit Gunst«, antwortete Joseph, »laß dir die Zeit nicht lange sein. Ich will bald Bescheid bringen.« Dann wandte er sich an Bockelhardt, der jetzt erst die Nadel weglegte, und sprach:

»Guten Tag, Meister! Gott segne das Handwerk! Ich hab' Euch um ein Wort oder zwei anzusprechen. Ihr wollt mir's nicht verübeln.«

»Nichts überall!« versetzte Bockelhardt in demselben wunderlichen Deutsch des vergangenen Jahrhunderts, indem er die Nadel wegsteckte. »Rede, was vonnöten ist.«

»Es ist ein fremder Gesell hier gewandert gekommen. Gelernt hat er zu Straßburg, ist aber deutschen Geblüts; in Arbeit hat er gestanden an manchen Orten, vornehmlich aber in der Stadt Paris, so nunmehr eine Kaiserstadt sein soll. Er begehrt ein acht oder vierzehn Tage in eines ehrlichen Meisters Werkstatt zu arbeiten, solange es Euch und ihm gefällt. Kann ihm solches von Euch widerfahren, so sei es heute oder morgen. Ist's hier nicht, so ist es anderswo.«

»Mit Gunst, Altgesell«, erwiderte der Meister nach einigem Nachdenken, »sag ihm, er möge einen Stich verziehen. Ich muß mir's überlegen.«

Nun verließ Bockelhardt die Stube, um seine Frau aufzusuchen, die er in der Küche fand. Bei wichtigen, nicht auf Frühschoppen und Herbergsabende bezüglichen Entscheidungen zog er es vor, sie nicht von Anfang an im feindlichen Lager zu wissen. Nach wenigen Minuten kam er zurück und begann mit der sich stets wiederholenden Einleitung:

»Mit Gunst, Altgesell! Ich hab' mir's überlegt. Der Nickel soll wandern und den Enderle hält nichts vom Laufen, wenn er die bayrischen Trommeln hört. Auch blüht das Handwerk, Gott sei Dank. Da kommt mir der Pariser nicht ungelegen. Ich will's versuchen.«

»Ich dank Euch, Meister, für den Bescheid und will's wohl ausrichten«, versetzte Joseph und wandte sich wieder an den fremden Handwerksburschen:

»Guten Tag, Gesellschaft. Ich hab' für dich umgeschaut. Ist dir die Zeit lang geworden? Gott geb' dir besser Glück!«

»Dank' dir Gott willkommen!«

»Ich sag' dir Dank, mein Gesellschaft. Was du von mir und allen guten und ehrlichen Meistern begehrt hast, das ist dir widerfahren. So hab' ich mich umgeschaut nach deinem Begehr, nach meinem Vermögen, nach Handwerksgewohnheit und Handwerksgebrauch. Der erste, dem du bist zugewandert, Meister David Bockelhardt, läßt dir ein acht oder vierzehn Tage Arbeit zusagen, solang es dir und ihm gefällt. Ich aber wünsche dir Glück zum ehrsamen Meister. Und mit Verlaub und Gunst, so wird dir von mir und den Gesellen allen, desgleichen auch von den Jungen, die hier in Arbeit stehen, landesläufige Münz' verehrt, nämlich sechzehn Pfennig, zum kleinen Geschenk, damit du kannst einem ehrlichen Meister zuziehen und einen unehrlichen meiden, und nimm mit vorlieb. Das Kloster ist arm und der Mönche sind viele und der Abt trinkt selber gern. So wünsch' ich dir viel Glück zum kleinen Geschenk.«

»Dank' euch Gott um und um, so komm' ich schnell herum!« schloß der Fremde und schnitt plötzlich eine Grimasse, daß Enderle, der wie alle andern sehr ernst geblieben war, laut auflachte. Joseph setzte sich auf den Arbeitstisch, und alle nahmen die gewöhnliche Alltagsmiene wieder an. Der fremde Geselle sagte, er habe in der Herberge noch einen Rock zu holen, und verließ mit einer schwungvollen Verbeugung gegen die eintretende Meisterin die Stube.

»Das war wieder einmal, wie es sein sollte, Prätle!« sagte der Altgeselle, sichtlich hochbefriedigt. »Der kann's noch. Aber in Paris hat er es nicht gelernt. Was er von dort mitbringt, werden wir ja sehen.«

Mit dem Franzosen, der sich am liebsten ›Musiö François‹ nennen ließ, kam Leben in die alte Werkstätte. Sein unverfälschtes Elsässer Dütsch war für Enderle eine unerschöpfliche Quelle der Heiterkeit, und selbst Gretle war anfänglich geneigt, den Musiö François für einen netten Menschen zu halten. Später änderte sich die Stimmung. Der Altgeselle namentlich hielt ihn nach wenigen Tagen für einen ganz gefährlichen Kunden, obgleich er die alten Handwerksgebräuche und -sprüche kannte wie kaum ein andrer in Ulm. Sie hatten sich in Straßburg unter dem Druck der Fremdherrschaft, den das Volk bis vor kurzer Zeit lebhafter empfand als die nur zu gerne französelnden oberen Stände, länger und reiner erhalten als anderwärts. Was der ehrliche Joseph aus Ansbach nicht begriff, war, daß François, dessen drittes Wort französisch war, die alten Sprüche mit feierlichem Anstand herplappern und im nächsten Augenblick seinen beißenden Spott über sie ergießen konnte. Es war ja alles altväterischer Unsinn, erklärte er unverhohlen, nur dazu da, die Jungen zu erschrecken und den Alten ihren Brei in den Bart zu schmieren. Geschickt aber war Musiö François, das mußte man ihm lassen. Er brachte neumodische Gedanken und neue Handgriffe in die Werkstatt, daß es dem alten Joseph angst und bange wurde. Besonders bügeln konnte der Kerl, daß ein verpfuschter Rock einen Tag lang wie ein Meisterstück aussah. Ein paar Tage später kamen allerdings die schiefen Falten wieder zum Vorschein. Dann aber hatte sie der befriedigte Kunde auf dem Leib und wohl gar die Rechnung schon bezahlt. Bockelhardt war mit dem neuen Gesellen, den er heimlich bewunderte, wohlzufrieden, und die Meisterin begann von ihm und seinen französischen Verbeugungen zu träumen.

Für Berblinger, der noch zu tief in den Lehrlingsschuhen stak, wurde eine andre Seite des Mannes von Bedeutung. Niemand vermochte seiner Zunge Halt zu gebieten. Der Altgeselle hatte anfänglich versucht, dies zu tun. Es war nicht Handwerksgewohnheit, weder im Ansbachschen noch in Schwaben, während der Arbeit zu schwatzen, aber es war nicht möglich, den quecksilbernen Halbfranzosen, dessen Zunge stach wie eine Nadel, hiervon zu überzeugen. Zum erstenmal, seitdem er Altgeselle geworden war, mußte er zugeben, daß seine Autorität diesem Windbeutel gegenüber machtlos war. Er ließ ihn gewähren und horchte schließlich nicht selten selbst mit staunender Spannung auf die wunderbaren Geschichten, die Musiö François in der großen Republik erlebt haben wollte.

»Handwerksgebrauch?« konnte er entrüstet fragen, wenn Joseph ihn an die Ulmer Zunftartikel erinnerte, die er zu stärken und nicht zu schwächen versprochen hatte. »Papperlapapp, Musiö Schosef. Wer einen Rock d'une élégance fine fabrizieren kann, ist maître tailleur von Gottes Gnaden. Nein, nicht von Gottes Gnaden, denn mit unserm Herrgott über dem Rhein ist es eine eigne Sache. Sie schaffen ihn ab und stellen ihn wieder ein, je nach Bedarf. Das tun sie auch mit ihrem König. Als sie ihn nicht mehr ganz brauchen konnten, machten sie ihn um einen Kopf kürzer, und es ging vortrefflich auch so. Ich will nicht behaupten, daß ich das mit eignen Augen gesehen habe, denn ich bin wahrheitsliebend, comme un Allemand, und stand dazumal noch in Nanzig in Arbeit. Aber ich hab' Hunderte gekannt, die es gesehen haben und es zeitlebens nicht vergessen. Später brauchten sie wieder etwas derart, und – eins, zwei, drei, hast du mich gesehen! – haben sie wieder einen Kaiser mit einem Kopf, größer und härter als die der kaiserliche Majestäten von Deutschland und Rußland und aller hundertzweiundzwanzig Fürsten, die uns die Haut über die Ohren ziehen. Menschenrechte! Drüben haben sie die Menschenrechte erfunden, Musiö Prätle, die auch einem Knirps wie dir von deiner jämmerlichen Geburt an zustehen. Die wissen etwas von Gleichheit, Nick! Wenn dir dort drüben der Bürgermeister Schad von Mittelbiberach eines hinter die Ohren haut, schwups! zahlst du's ihm heim mit Zinsen, und alles, was er machen kann, wenn er nicht am nächsten Laternenpfahl hängen will, ist, sich den roten Kopf zu reiben wie du. Das heißt man Gleichheit und ist mehr wert als aller Zunft- und Handwerksbrauch der Welt. Es ist Vernunft und Religion in eines gewickelt. Den Adel haben sie abgeschafft, von hochmögenden Patriziern wußten sie sowieso nichts, alle Zunftmeister hat der Teufel an ein und demselben Tag geholt. Alle sind gleich; alles ist gleich. Damit kommt die Brüderlichkeit ganz von selbst. Ich will nicht behaupten, daß ich das mit eigenen Augen gesehen habe, es mag erst nach meiner Zeit eintreten. Aber kommen wird sie, wenn es so fortgeht, darauf könnt ihr dummen Schwaben euch verlassen!«

Joseph griff instinktiv, aber sprachlos nach seiner Elle, François tat dasselbe. Um Enderles Lippen zuckte ein fröhliches Lächeln, Nicks Augen funkelten in Erwartung eines unerhörten Zweikampfs zwischen der alten und der neuen Zeit, und Berblinger, in tiefes Nachdenken versunken, verdoppelte die Geschwindigkeit, mit der er einen Knopflochstich an den andere setzte.

»Mit Gunst, Altgesell«, fuhr François nach einer kurzen Pause fort, nachdem jeder lautlos sein Ellenmaß wieder niedergelegt hatte, »das heißt man Gleichheit! Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – kann ich dafür? – davon habt ihr hier noch keinen Begriff, schindet und quält euch untereinander bis aufs Blut und kommt doch nicht weiter. Das haben die Philosophen der großen Nation drüben herausgefunden und zeigen uns, wie's gemacht wird. Wer sich um einen Kopf größer dünkt als andre, wird um denselben kleiner gemacht, und zwar geschieht dies mit der Maschine; kein Zunftzwang, freie Kunst! Wer andre drückt, wird zerquetscht. Wer lügt und schwindelt, stiehlt und raubt, um sich zu bereichern, wird ohne Hemd und Hosen an die Luft gesetzt, zumeist an einem Strick. Wer nimmt, was andre zuviel haben, kommt in unsern Himmel, und der ist auf dieser Welt und wird in wenigen Jahren eröffnet werden. Wahrscheinlich auch in Ulm, wenn mit euch jungen Kaulquappen etwas anzufangen ist, Prätle. Mille tonnerres! Ich bin nicht umsonst in Paris gewesen. Ich zeig' euch, wie's gemacht wird. Gleichheit, das ist vorerst die Hauptsache.«

»Wie steht's dabei mit der Brüderlichkeit?« fragte Berblinger, der mit klopfendem Herzen zuhörte.

»Maul halten!« rief der Altgeselle und griff wieder nach dem Ellenmaß. »Das wäre noch schöner, wenn auch die Buben anfingen zu krakeelen.«

»Ungefähr wie mit der Gleichheit«, antwortete François, ohne auf Joseph Rücksicht zu nehmen. »Fortschritte, überall Fortschritte! Aber ganz fertig zum Abliefern ist das eine wie das andre noch nicht. Es fehlt das Aufbügeln. Daran ist man jetzt. Der Napoleon, der kleine Satan, wird es schon fertigbringen und bügelt auch euch. Paßt mal auf, in ein paar Jahren hat er auch auf dieser Seite des Rheins alles egalisiert. Keine Meister, keine Gesellen, keine Jungen mehr. Alles Brüder, Bürger, citoyens, und jeder bekommt soviel als der andre. Niemand ist reich, niemand arm, niemand hoch, niemand niedrig. Millenium haben's die Pfaffen früher geheißen. Jetzt nennt man's Menschenrechte, Weltweisheit, Vernunft. Die ganze Kirchenwirtschaft hat man abgeschafft und verehrt dafür die Vernunft. Aber auch die Vernunft, ein bildschönes Weibsbild, das ich mit eignen Augen gesehen habe, wurde zu eingebildet; man mußte auch sie wieder abschaffen. Viele sind jetzt nicht ganz klar darüber, was zu verehren sei. Das nennt man Volksaufklärung, Volkswille; Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Was wißt ihr dummen Schwaben von all dem!«

»Jetzt hab' ich's aber genug, Kreuzbombenelement«, rief der Altgeselle und schlug mit der Elle nur um eine Daumenbreite vom Knie des Elsässers auf den Arbeitstisch. François schnellte aus seinem Loch heraus, warf sich auf den Tisch zurück, schlegelte mit den Beinen in der Luft und trat wie aus Versehen dem Altgesellen mit der rechten Ferse unsanft auf die Nase. Dann wurde er plötzlich ruhig, sagte höflich: »Mit Gunst und Verlaub, mein Gesellschaft«, steckte die Beine wieder unter den Arbeitstisch und nähte in der nächsten Viertelstunde lautlos weiter.

Auch Berblinger arbeitete still vor sich hin, den Kopf voll von den wirren Ideen des Halbfranzosen. Er dachte an Schillers ›Räuber‹, für die sie in Blaubeuren geschwärmt hatten. Dort war alles klarer, reiner; aber es war nur Dichtung. Hier machten sie Ernst mit der Sache. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; die Worte lagen in der Luft, und im Elend der Zeit glaubte mancher arme Teufel das hoffnungsvolle Wehen einer Zukunft zu spüren, über welcher dieses Dreigestirn strahlte. Langsam bohrten sich solche Gedanken in seine Seele, und manchmal fragte er jetzt François in der Dämmerung der länger gewordenen Abende nach der einen oder andern der halbzerstörten Basteien und ließ sich erzählen, wie das alles in Paris schon aufgeblüht sei, nachdem der wilde Sturm des Völkerfrühlings vorübergebraust war. Musiö François freute sich des aufmerksamen Zuhörers. In dem jungen Kopf aber wurde das Bild des französischen Milleniums mit jedem Tage heller und farbenprächtiger.

Darunter litten die heimlichen Zusammenkünfte im Hühnerstall, die noch vor kurzem sein fast einziger Trost gewesen waren. Wenn er jetzt Gotthilf begegnete und ihm das Glück des anbrechenden neuen Jahrhunderts schilderte, schüttelte dieser in seiner sanften Weise den Kopf und meinte, er werde das doch nicht mehr erleben.

»Du auch nicht«, setzte er nach einigem Besinnen hinzu. »Bis das alles wahr wird, braucht man überhaupt keine Schneider mehr.«

Das ärgerte Berblinger, bei dem trotz allem Druck das Gefühl für sein Handwerk zu keimen begann. Alles machte schlechte Witze über die Schneider, und jedermann brauchte sie! Selbst der arme Regenschirmjunge! Und wer war es jetzt wieder, der neue große Gedanken in die alte Stadt brachte? Ein Schneider, ein feiner, denkender, wenn auch etwas verrückter Schneider.

Der Junge konnte sich dem Einfluß seiner Umgebung nicht mehr entziehen, und das gehört wohl zu dem Guten, das der Schöpfer in die Menschenseele gelegt hat, die sich unmerklich biegt und beugt, um sich schließlich in jede Form zu schmiegen, die ihr das harte Leben bietet. Wie könnte sie sonst ertragen, was zu ertragen ihr Beruf ist. Sklavenmoral? – Nein, Lebensweisheit!

Seitdem Nick freigesprochen war, gehörte es zu Berblingers Pflichten, fertige Kleider abzuliefern oder da und dort ein paar Beinkleider, einen Rock zu holen, der des Ausbesserns oder Wendens bedürftig war. Viele Leute, denen er aus diesen Gründen seine Besuche abstattete, kannten ihn und erkundigten sich, die einen lachend, die andern teilnehmend, wie ihm die Lehrzeit zusage. Konnten sie ihn nicht in Ruhe tun lassen, was seines Berufs war? Selbst das erste kleine Trinkgeld, das man ihm in die Hand drückte, hatte er mit dem Gefühl der Demütigung eingesteckt und erst nach vierundzwanzig Stunden wieder hervorgezogen und dann allerdings nicht ohne Wohlgefallen betrachtet. Es hatte mittlerweile den peinlichen Geruch des Almosens verloren und sah so harmlos aus wie jeder andre Batzen. Nach einigen Wochen waren diese Empfindungen und Empfindlichkeiten geschwunden. Er lachte, wenn auch etwas gezwungen, mit den Lachenden, machte ein sehr natürlich trauriges Gesicht, wenn man ihn bedauerte, und freute sich seiner Kreuzer und Groschen, denn er hatte für das nächste Fest im Hühnerstall, Gretles vierzehnten Geburtstag, einen großartigen Plan. Ein Ulmer Häubchen!

Trotz des mildernden Einflusses der Gewohnheit trat er eines Tags mit klopfendem Herzen in ein Haus in der Frauenstraße, das er bis zur Stunde nur dem Namen nach gekannt hatte. Es war die Wohnung des Altbürgermeistes und Staatsrats von Baldinger, mit dem sein Onkel Schwarzmann in allerdings entferntem Grade verwandt zu sein beanspruchte und der wohl aus diesem Grund an dem unvergeßlichen Familienfest teilgenommen hatte, mit dem Brechtle vor vier Jahren aus Ulm geschieden war. Natürlich war es nicht der alte Herr, der ihm das Herzklopfen verursachte, obgleich er ihm ein prächtig verbrämtes, seidengefüttertes Staatskleid überbringen mußte, das selbst der Meister nur mit respektvoller Vorsicht behandelte, sondern die Erinnerung an das Engelsköpfchen, das in seiner knabenhaften Phantasie immer himmlischere Züge angenommen hatte.

Der schwere Messingklopfer donnerte zu seinem Schrecken förmlich an das prachtvoll geschnitzte schwarze Haustor, das wie von selbst aufsprang. Nachdem es sich hinter ihm ebenfalls wie von selbst geschlossen hatte, fand sich Berblinger in einem halbdunklen geräumigen Flur, in der man zwischen sechs Oleanderbäumchen schreitend nach der breiten eichenen Treppe gelangte, die zum ersten Stock hinaufführte. Es war totenstill ringsum, und alles sah sehr vornehm aus. Dies mochte daher rühren, daß der Herr Staatsrat der letzte Sproß einer der ältesten Patrizierfamilien der Stadt war. Ein geschnitztes Treppengeländer stellte phantastische Tiere der Cerberusgattung vor, die den Emporsteigenden nicht gerade freundlich begrüßten. Auch oben angelangt, sah der Junge niemand. Eine Zeitlang stand er still und wartete. Da dies zu nichts führte, faßte er sich ein Herz und klopfte an der nächstgelegenen Türe. Eine klare Mädchenstimme, wohl etwas schärfer, als er erwartet hatte, rief »Herein!« und im nächsten Augenblick stand er vor Lucinde von Baldinger.

Es war noch immer der schwarze Lockenkopf und das stolze bleiche Gesichtchen von damals. Aber sie war gewachsen, hatte ein beängstigendes, nicht allzu kleines Reifröckchen an und ein sehr steifes, geradliniges Mieder und sah aus wie eine zierliche Schäferin auf Bildern von Versailles, die Berblinger schon gesehen hatte. Auch blickte sie ihm erstaunt und gerade ins Gesicht. Er ließ das Staatskleid fallen und wäre in der Verwirrung ihm nach auf die Knie gesunken, wenn sie nicht laut gerufen hätte:

» Mon Dieu, Papa! Papa! Ich glaube, Herrn Schwarzmanns Brechtle ist hier!«

Ein schwerer, krachender Schritt ließ sich im Nebenzimmer hören, und gleich darauf erschien in einem grünen Schlafrock, auf dem große rote Tulpen prangten, der Herr Staatsrat von Baldinger, ein großer, würdiger Herr, der dem Jungen nicht unfreundlich zunickte.

»So, so«, sagte er halb lachend. »Sapperlot! Ich weiß schon! – Das ist also das saubere Früchtchen, das der Herr Vetter Schwarzmann unter die Schneider stecken mußte. Laß dich mal ansehn, Bub! – Na, du hast's weit gebracht, das muß ich sagen, und kannst's noch weiter bringen! Candidatus der Gottesgelehrsamkeit, fahrlässiger Brandstifter, Schneiderlehrling. Behagt dir wohl jetzt besser als das Kloster? Na, jeder nach seinem Geschmack. Ein ehrsames Handwerk ist immerhin besser als brandstiften und mit verrückten Ideen zum Kirchendach hinauswollen. Das wird dir wohl nachträglich eingeleuchtet haben, kleiner Taugenichts. – Nimm ihm den Rock ab, Lu! – Ich hoffe, dein Meister hat ihn gemacht, wie ich ihn haben muß, und nichts gespart: feinstes Tuch, schwere Goldknöpfe, guter alter Schnitt, wie es die Baldinger gewohnt sind. Nichts von euern französischen Windbeuteleien. – Mach's Maul auf, Bub!«

Berblinger gehorchte in seiner Verwirrung. Mademoiselle Lucinde lachte laut auf.

»Nicht so!« sagte ihr Papa, ebenfalls lachend. »Ich meinte, du solltest etwas sagen, sprechen, parlieren: ob der Rock gut wattiert ist, ob er dem Meister gehörig warm gemacht hat; was weiß ich! Merk dir eins, Bub. Der Mensch muß in diesem Leben das Maul aufmachen, wenn er anständig essen und trinken will. Tut er das, kann's auch ein Schneiderlehrling zu sechs Batzen bringen.«

Damit warf er ihm ein Geldstück zu, das klingend auf den Boden fiel.

»Nimm ihm den Rock ab, Lucinde!« wiederholte er dabei, noch immer lachend, »er ist sonst imstand und läuft wieder damit davon. Na, adieu! Das nächstemal wird's schon besser gehen. Ich werde deinem Onkel sagen, daß du kein Genie seist, er könne unbesorgt sein. Vergiß dein Trinkgeld nicht!«

Berblinger hob das Geldstück auf, warf noch einen schüchternen Blick in Lucindes Gesicht, dessen Lächeln ihm wie hundert Nadelstiche durch die Seele ging, und war vor der Türe, die Treppe hinab und zum Haus hinaus, ehe er zur Besinnung kam.

Es war ein Engel, darüber war kein Zweifel. Daß aber Engel so weh tun konnten, so unerträglich weh, das ging über seine Begriffe.

Als er rot vor Scham und noch immer halb betäubt bei Bockelhardts über die Schwelle trat, stand Nick vor ihm, der ihn erwartet haben mußte, denn er kam plötzlich hinter der Haustüre hervor. Er schlug sie heftig zu, so daß die Jungen in der Dunkelheit kaum gesehen werden konnten.

»Wieviel ist's?« fragte er mit halberstickter Stimme, wie wenn er in unbändiger Wut wäre.

»Was? Laß mich vorbei!« versetzte Berblinger.

»Stell dich nicht so dumm. Der alte Baldinger ist ein Guter; er gibt nie weniger als sechs Batzen. Die Hälfte gehört mir.«

Berblinger raffte sich auf. Jetzt packte auch ihn ein gerechter Zorn.

»Nichts gehört dir. Das Geld ist mein und ich brauch's!«

»Ich brauch's auch! Her mit dem Kies!«

Nickel war jetzt in wirklicher Wut und griff mit Gewalt in die Tasche seines Feindes. Eine Sekunde später waren die beiden Jungen zum zweitenmal in einen Ringkampf verwickelt, den sie stöhnend auszufechten begannen.

Aber schon nach einer Minute fühlte Berblinger, daß ihn ein zweiter Gegner mit einer Hand von hinten packte und mit der andern ebenfalls nach seiner Tasche suchte, wo nicht nur der Sechsbätzner, sondern alle kleinen Ersparnisse der letzten Wochen durcheinander klingelten.

»Gleichheit!« flüsterte eine boshaft zischende Stimme. »Jedem ein Drittel! – Nanu! Beißt der Bub wie eine wilde Katze, soll er's büßen. Katzen brauchen keine Trinkgelder!«

Es war François. Sie hatten Berblinger jetzt auf dem Boden.

»Handwerksgebrauch!« lachte Nick, indem er ihm die linke Tasche umdrehte, aus der ein halbes Dutzend Kupferstücke herausrollten.

»Brüderlichkeit!« sagte der Elsässer ebenfalls lachend. »Laß ihn los, eh' er erstickt. Wieviel hast du?«

Es war Berblinger gelungen, unter Nickel, der die rollenden Geldstücke inmitten des Ringens aufzuklauben begann, durchzukriechen und seine Bewegungsfreiheit wiederzugewinnen. Er sprang auf. Mehr, das war ihm jedoch klar, konnte er nicht erreichen. Die beiden Gesellen setzten sich, ohne ihn weiter zu beachten, auf die unterste Stufe der Treppe und begannen ihren Raub brüderlich zu teilen. Es war des Raubens kaum wert; auch schienen sie die Sache mehr als eine Art Sport anzusehen und warfen ihrem Opfer spottend einige Hellerstücke zu, die Nick an den Zähnen probiert hatte und für falsch hielt.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Berblinger durch die Hintertüre in den Hof hinaus und wandte sich nach dem Hühnerstall. Er wußte, daß um diese Zeit weder Gretle noch die Zwillinge, noch Gotthilf dort sein konnten, und das gerade war es, was er brauchte. Er hatte nur achtundvierzig Kreuzer eingebüßt. Aber Gretles Geburtstag stand vor der Tür, und er hatte sich auf das Ulmer Häubchen gefreut wie ein Kind.

War das Leben nicht ein Ekel?!


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