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17. Harte Lehren

»Nun hat der arme Kerl, der Enderle, doch dran glauben müssen«, sagten sie Leute im Taubengäßchen und schüttelten mitleidig die Köpfe.

Seit Monaten sprachen sie davon. Es war der erste bittere Tropfen im bayrischen Bier, das sie alle – fast alle – nicht ungern tranken. Denn der Kurfürst war ein leutseliger Herr, hatte sich selbst mehrere Tage in der Stadt aufgehalten, war durch die Straßen gegangen wie ein gewöhnlicher Mensch – der Rat Schwarzmann hob den Kopf viel höher als der hohe Herr –, hatte mit dem und jenem gesprochen, so daß seine einfachsten Worte an allen Stammtischen, in jeder Familie hundertfach wiederholt, ausgelegt und verdreht werden konnten. Er ließ beim Abschied der Stadt, die zur Hauptstadt des Kreises Schwaben gemacht worden war, für seinen Empfang danken und sie seines landesväterlichen Wohlwollens versichern. Einige Herren der Geschlechter hatten hohe Auszeichnungen erhalten. Auch dem Rat Schwarzmann, der während dieser Tage in fieberhafter Tätigkeit gewesen war, sei ein Orden in Aussicht gestellt worden. Konnte man nach all dem erwarten, daß die Bürgerschaft in diesen gefährlichen Zeiten Felddienste leisten sollte wie die Bauern in Altbayern und im Württembergischen? Dem Frieden war nämlich nicht zu trauen. Die Russen und Österreicher, auch die Preußen, hieß es, wollten ihr Glück gegen den französischen Diktator, der sich in unglaublicher Überhebung jetzt sogar Kaiser nannte und von vielen für den leibhaftigen Antichristen gehalten wurde, noch einmal versuchen. Das konnte böse Folgen haben, obgleich Bayern und Württemberg in nutzbringender Freundschaft mit dem gefährlichen Nachbar lebten. Wozu also Konskription in der alten freien Reichsstadt? Das hatte ja gar keinen Sinn! Immer ängstlicher und lauter wurde es in der Bürgerschaft. Die Vornehmen lasse man natürlich ungeschoren, wie immer. Es sei nicht eigentlich der Kurfürst, der die Sache haben wolle, sondern der Napoleon, der Allerweltskonsul, der ihn dränge. Dem und seiner Republik verdanke man ja schon manches; aber die guten alten Zeiten seien sichtlich dahin. Und nun gar die Konskription! Das sei zuviel.

Man hatte Enderle gewarnt und ihm geraten, sich auf die Wanderschaft zu machen. Es sei für ihn sowieso Zeit, sich in der Welt umzusehen nach Handwerksgebrauch. Selbst Nickel drängte ihn, denn allein wollte auch dieser nicht wandern, obgleich es ihm bei Bockelhardt unbehaglich genug war, seitdem sich Berblinger nicht mehr ganz unterkriegen ließ. Aber Enderle verschob den Abschiedstag immer wieder, und der Meister ließ sich's gefallen; denn er wußte, daß er einen fleißigeren Gesellen nicht wieder bekommen würde. Das: ›Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus‹, das er seit Wochen in sich hineinsang, hatte es ihm angetan. Berblinger beobachtete ihn mit einer gewissen Unruhe. Hatte sein Zögern mit der zweiten Zeile des herzigen Handwerksburschenlieds: ›Und du, mei Schatz, bleibst hier‹ etwas zu tun? Sie wollten's im Haus noch nicht gelten lassen; aber Gretle wurde trotz allem Elend mit jedem Tag ein hübscheres Mädchen und wuchs mächtig heran.

Da erschien der gefürchtete Regierungserlaß. Alle jungen Leute zwischen neunzehn und zweiundzwanzig Jahren, die nicht Söhne der alten Geschlechter, der staatlichen und städtischen Beamten und der Großkaufmannschaft oder endlich verheiratet waren, sollten am 10. April dieses Jahres 1804 zum Zweck des Losziehens und der Musterung, bei schwerer Strafe im Unterlassungsfall, auf dem Schwörhaus erscheinen. Wie es in der guten alten Zeit üblich war, wurde der Anschlag, obgleich dreimal ›ausgeschellt‹, von der Hälfte der Betreffenden absichtlich oder aus Versehen nicht beachtet. Auch Enderle gehörte zu dieser Hälfte und war nicht wenig erstaunt, als er schon acht Tage später von zwei Stadtsoldaten vom Arbeitstisch heruntergeholt und in Hausschuhen und Hemdsärmeln aufs Rathaus abgeführt wurde. Das ganze Gäßchen war in Aufruhr, und es fehlte nicht viel, daß die Meisterin sich in einen Kampf mit den Vertretern des Stadtregiments eingelassen hätte, dessen Ausgang mindestens zweifelhaft gewesen wäre. Denn die ganze Frauenwelt des Taubengäßchens war bereit, sich um Enderle zu scharen. Doch schien es schließlich auch ihr klüger, der obrigkeitlichen Gewalt, von der sie mit Wasser und Brot bedroht wurde, zu weichen, und der arme Bursche verschwand – verschwand spurlos auf volle vierzehn Tage. Er sitze mit sechs andern im Gänseturm, erzählte Nickel, der jetzt entschlossen war, die Wanderschaft ohne Verzug auch allein anzutreten. Dann erschien der Verlorengeglaubte wieder mit lustig flatternden Bändern an einer entlehnten Soldatenmütze und dem jammervollsten Gesicht, das er je gezeigt hatte, um Abschied zu nehmen. Er sei ohne weitere Prüfung für tüchtig erklärt worden und habe jetzt zehn Jahre lang dem Vaterland zu dienen. Der Herr Hauptmann von Rintelen habe ihm empfohlen, dies sofort für eine hohe Ehre anzusehen. Sie sollten – eine ganze Truppe renitenter Ulmer – morgen unter Bedeckung nach Ingolstadt marschieren, wo sie einexerziert würden.

Der Abschied war ergreifend. Man – und vor allem Enderle – war überzeugt, daß man sich in diesem Leben nie mehr sehen werde. Es gebe wieder Krieg, das habe ihm der Herr Hauptmann von Rintelen auf den Kopf zugesagt; und das sei ein großes Glück für einen jungen Soldaten. Selbst die Meisterin weinte, was seit Jahren nicht mehr vorgekommen war, und erklärte ihn für den besten Jungen, den sie je gehabt habe. Nie habe sie ihre Zustimmung gegeben, daß die Stadt bayrisch würde. Jetzt sehe man's! Von Gretle verabschiedete er sich in der Flur hinter der Haustür. Man hörte ihn in der Werkstatt schluchzen. Berblinger war zartfühlend genug, sich während dieser peinlichen Minuten in seine Dachkammer zurückzuziehen. Auch er sah Enderle mit schwerem Herzen gehen; aber Krieg oder Frieden – am liebsten wäre er selbst in Enderles Haut gesteckt.

Noch an demselben Tag schaute sich Bockelhardt nach einem neuen Gesellen um und fand den Zunftmeister Knöppel, mit dem er, seit sein Geschäft sich hob, auf besserem Fuße stand, in der Herberge. Nachdem das unerschöpfliche Thema der Konskription besprochen war, kamen sie auf das Geschäft. Knöppel wollte ihm morgen einen Mann zuschicken, der gestern aus dem Österreichischen zugewandert war, kam dann aber auf Berblinger zu sprechen. Den sollte er nicht zu lange zappeln lassen. Der Bub habe Grütz' im Kopf. Daran könne man nicht zweifeln. Er, Knöppel, habe seine Maße jetzt auch nach dem Abc aufgehängt und die Sache probat gefunden. Er sei nicht für Neuerungen im Handwerk; das könne ihm niemand nachsagen. Aber was recht sei, sei recht, und Bockelhardt sollte den Buben, der ohnehin mehr als das Alter habe, zum Lohnjungen machen. Da sei überdies sein Onkel, der Schwarzmann, der beim Herrn Regierungspräsidenten ein und aus gehe. Darauf dürfte die Zunft mit Nutzen Rücksicht nehmen; die Herren aus Bayern seien nur allzu geneigt, ihre Sachen in München machen zu lassen. Dagegen könnte der Schwarzmann gelegentlich ein Wort einlegen. – Bockelhardt brachte verschiedene Einwände vor: der Bub sei zwar nicht gerade faul wie alle andern, noch fehle es ihm an Intelligenz, obgleich es mit dem Bügeln schlecht genug stehe; auch im Aufzeichnen und Zuschneiden sei er nicht ungeschickt, aber oft genug sitze der Junge da, wie wenn er an alles andre dächte als an die Arbeit unter seinen Fingern. Man könne nicht in Abrede stellen, daß er Grütz' im Kopf habe. Es könnte sogar zuviel sein, und das habe seine Schattenseiten, insonderheit bei Lohnjungen und jüngeren Gesellen. Je länger die unter dem Daumen gehalten würden, desto besser für sie und das Handwerk.

Knöppel nickte zustimmend; doch war das Ergebnis der Besprechung, daß Berblinger acht Tage später bei offener Lade zum Lohnjungen angemeldet und ins Zunftregister eingetragen wurde. Gleichzeitig trat der Österreicher, ein älterer Geselle namens Kalbfell, und als Lehrling Knöppels August bei Bockelhardt ein. Der Vater konnte ihn nicht selbst in die Lehre nehmen, weil er schon mit zwei Lehrlingen arbeitete und drei gegen die Ulmer Handwerksordnung war. Bockelhardts Arbeitstisch war wieder vollbesetzt.

Nickel feierte seinen Abschied zwei Wochen später in der Gesellenherberge im ›Goldenen Hecht‹ und verschwand zwei Tage später in Gesellschaft von zwei Bäckergesellen, ohne daß ihm eine Träne nachgeweint wurde. Er hatte sich im Lauf der Zeit nicht verfeinert, so eifrig er dem Elsässer nachgelaufen war, der ihn von Zeit zu Zeit zu Gesellenzusammenkünften mitnahm, die mit der Lade nichts zu tun hatten. Er war und blieb ein roher Bursche, der nur etwas bescheidener auftrat, wenn ihm ein noch roherer auf die Füße trat. Er hätte Metzger oder Grobschmied werden sollen, sagten die Schneider, oder wäre am besten Schiffersknecht in Günzburg geblieben, wohin er gehöre.

Das Schlimmste schien für Berblinger vorüber zu sein, und zum erstenmal wieder seit langer Zeit hatte er eine große Freude in Aussicht. Sie war in der Tat mehr als selten; denn nur einmal im günstigsten Falle empfängt der Mensch den erstmaligen Lohn für seiner Hände Arbeit. Mit einer gewissen Feierlichkeit überreichte ihm der Meister am Samstagabend vierundzwanzig Kreuzer in sechs neuen Batzenstücken, das Ergebnis von vier Kreuzer Tagelohn, die er nach Handwerksgebrauch beanspruchen konnte. Es war keine überwältigende Summe, aber es war selbstverdientes Geld, und es wurde ihm ganz warm zumut, wenn er bedachte, daß er in der verflossenen Woche zum mindesten für vierundzwanzig Kreuzer Werte geschaffen und sie der Welt überreicht habe. Man wußte damals noch nichts von Nationalökonomie und ihren Freuden. Berblinger aber hatte ›Grütz' im Kopf‹ und ein Gefühl für solche Dinge. Es war noch immer nur ein Schneidersjunge, aber, es war klar, er hatte nicht zwei Jahre lang umsonst gelitten und gelernt, gehungert und gefroren. Er war kein nutzloser Mensch mehr wie so viele andre, die dumm genug waren, auf Schneider herabzusehen. Die vierundzwanzig Kreuzer in seiner Hand bewiesen es und erfüllten ihn mit berechtigtem Stolz.

Daß sie kommen würden, wußte er schon seit einer Woche und hatte seine Pläne danach eingerichtet... Gotthilf war seit zwei Tagen müde und verhungert unter einem schweren Pack von Regenschirmen von einem seiner Feldzüge zurückgekehrt. Mit ihm und Gretle wollte er am Sonntag nachmittag einen Ausflug machen nach Thalfingen, nach Wiblingen, ins Ruhetal – wer weiß wohin! –, aber es sollte ein Fest geben, wie das geknickte Kleeblatt noch nie eins gefeiert hatte. Der Meister und die Gesellen brauchten davon nichts zu wissen, noch weniger die Meisterin. War nicht Berblinger jetzt ein Mann mit vierundzwanzig Kreuzer selbstverdienten Lohns in der Tasche und konnte die Summe mit seinen Freunden verprassen, wenn und wie er wollte? Nick, der noch immer um den Weg war, hatte zwar versucht, ihm unter dem Vorwand, daß es Handwerksgebrauch sei, die Hälfte abzunehmen, aber er hatte diesmal das Seine mit der Wut eines Tigers verteidigt, dessen Junge in Gefahr sind. War nicht jeder Batzen sozusagen ein Stück von ihm, stellte er nicht etliche Tropfen seines Schweißes und Bluts, etliche Stunden seines Lebens vor? Selbst François hatte ihm diesmal beigestanden. Der Elsässer war überhaupt zutunlicher geworden und behandelte ihn sogar mit einem gewissen Respekt, wenn sie auf Geschichte und Geographie, auf Politik und Philosophie zu sprechen kamen. François wußte einiges und merkte, daß der Junge mehr wußte.

Leider verlief schon der Anfang der geplanten Festlichkeit nicht ganz programmgemäß. Gotthilf erwartete Berblinger im Hühnerstall; dieser erwartete Gretle auf der Treppe, denn Gretle war in ihrem kleinen Schlafwinkel hinter der Küche damit beschäftigt, sich für den ersten Ausflug ihres jungen Lebens zu schmücken, was bei den bescheidenen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen und die aus einem Stückchen Seife, einem Kamm und einem roten Halstüchlein bestanden, manche Schwierigkeiten bereitete. Alle drei aber erwartete die Meisterin an der Haustüre, und als Gretle fröhlich, aber vorsichtig die Treppe herabgetrippelt kam, empfing sie die Tante mit ihrem schwersten Geschütz, weniger bildlich gesprochen: mit erhobenem Besen. Ob sie glaube, mit den jungen Burschen ohne Erlaubnis in der Stadt herumvagieren zu können? Ob sie keine Scham im Leibe habe? Ob sie nicht wisse, daß die Zwillinge heute nachmittag in Herrn Molfenters Garten gebracht und das neue Loch in dem alten Sofa geflickt werden müsse? Ob sie sich einbilde, aufgedonnert wie ein Pfau herumschwenzen zu dürfen? In unsrer Zeit sei eben keine Zucht und keine Ordnung mehr in der Jugend und alles aus Rand und Band. Sie werde ihr aber zeigen – sie werde –

Wie gewöhnlich wuchs der Zorn der Meisterin im Sturm ihrer Beredsamkeit, so daß für Gretle, die sich schuldbewußt an das Treppengeländer klammerte, das Äußerste, leider aber noch immer nicht Ungewöhnliche, zu befürchten gewesen wäre, wenn nicht die Zwillinge, stramme Bürschchen im mannhaften Alter von zusammen vierzehn Jahren, sich einmütig um sich geschart und unter Geheul Anstalt gemacht hätten, gegen ihre Mutter angriffsweise vorzugehen. Gedeckt von dieser Hilfstruppe stieg Gretle die Treppe wieder hinauf, um zunächst ihr rotes Tüchlein abzulegen, das den Grimm ihrer Tante besonders und immer aufs neue entflammte. Gotthilf und Berblinger mußten ohne Damenbegleitung den großen Vergnügungsausflug antreten.

 

»Wohin gehen wir?« fragten sie sich, als sie ziellos und durch den Zwischenfall etwas verstimmt in die Frauenstraße gelangt waren. Berblinger hätte es gern vermieden, an dem Baldingerschen Haus vorüberzugehen.

»Wir haben Zeit«, sagte Gotthilf müde, »und da Gretle nicht bei uns ist, wäre es nicht zu weit: am liebsten ginge ich an der Donau hinunter gegen Elchingen. Am Ufer entlang ist alles so frisch und grün.«

Berblinger wollte nichts davon wissen. Seit Monaten benutzte Gotthilf jede Gelegenheit, in dem ausgedehnten, waldartigen Weidengebüsch dort unten umherzustreifen, und kam jedesmal trauriger zurück, als er gegangen war. Er suchte nach dem Grab seiner Mutter.

»Es wird Herbst; die Bäume werden schon gelb«, sagte sein Freund, ohne merken zu lassen, daß er Gotthilfs Absicht erraten hatte; »wir brauchen Sonnenschein und frische Luft. Gehen wir über den Michelsberg ins Ruhetal. Daran denk' ich schon seit Wochen.«

Gotthilf folgte willenlos. Sie gingen durch das Frauentor am neuen Kirchhof entlang und dann durch Gärten und Feldwege den Bergabhang empor gegen den breiten, spärlich bewaldeten Gipfel, auf dem noch die Spuren eines dem Erzengel Michael geweihten Kirchleins zu finden waren. Dort warfen sie sich ins hohe Gras und sahen in die Ferne hinaus, wo über das Münster hinweg, wie hingehaucht in silberglänzendes Blau, die Umrisse der Alpen zu erkennen waren. Ein freies großes Bild lag vor ihnen: unten die rotbraune Stadt mit ihren Türmen und Mauern, ihren Gräben und Basteien, deren Zerstörung noch nicht weit genug gediehen war, um das stattliche Bild mittelalterlicher Wehrhaftigkeit zu verwischen; weiter hinaus die weite lichte Donauebene und das waldige Hügelland von Oberschwaben mit seinen Städtchen und Dörfern und darüber die Berge, nach denen sich jedes süddeutsche Herz in seinem unverstandenen Drang zu allen Zeiten gesehnt hat.

Sie sahen lange schweigend hinaus. Berblinger mit der Sehnsucht, mit der die meisten Jungen in die blaue Ferne blicken, Gotthilf mit starren, müden Augen, denen man ansah, daß er mehr in sich hinein als in die sonnige Weite blickte.

»Schade, daß Gretle nicht hier ist«, sagte endlich Berblinger. »Sie sieht nicht viel Sonnenschein im Taubengäßle.«

»Ich sah genug davon den heißen Sommer lang«, antwortete Gotthilf. »Er macht nicht glücklich!«

»Es geht dir noch immer nicht besser?« fragte Berblinger.

»Wo sollt' es herkommen?« entgegnete der andre. »Der Winter wird schnell genug da sein. Sieh meine Stiefel an!«

»Er ist ein miserabler Lump, der Stallmeyer! Wenn er dich zwingt, die ganze Welt nach Regenschirmen abzusuchen, sollte er wenigstens das Schuhzeug liefern«, sagte der Schneiderjunge entrüstet.

»Er hat selbst nichts, denn es geht ihm alles durch die Gurgel, und er kann nicht mehr anders.«

»Er kann dir noch die Zähne ausschlagen.«

»Ja!« sagte Gotthilf einfach und zeigte mit einem eigentümlichen Lächeln eine große Lücke in der sonst tadellosen Reihe seiner Zähne.

Sie schwiegen wieder wohl eine Viertelstunde lang. Die Stille und die Sonne und die frische reine Bergluft, die mit den langen Grashalmen spielte, tat beiden wohl. Dann, nach Schwabenart, als ob keine Pause dazwischen läge, fing Gotthilf wieder an:

»Aber das ist's nicht, weshalb mich die Sonne nicht mehr freut. Es ist, als ob ich jeden Abend von ihr Abschied nehmen müßte auf Nimmerwiedersehen.«

»Bist du so müd?« fragte Berblinger teilnehmend.

»Todmüd«, versetzte der andre; »und morgen geht's wieder weiter, Urach zu. Er hat keine Ruhe mehr, der Alte. Aber das ist's auch nicht. Endlich werd' ich wohl ans Ziel kommen, und ich weiß, da ist Ruh und Friede für alle Ewigkeit. Vielleicht reichen die Stiefel noch so weit. Aber was soll dann aus Gretle werden?«

»Sei ruhig, Gotthilf«, sagte Berblinger leis; er sprach ins Gras hinein. »So war mir's zumute zwei Jahre lang. Schlimmer. Ich sah kein Ziel, kein Licht, keine Hoffnung und hatte auch keine Kraft mehr. Da kam das kleine Gretle und erzählte den Kindern Geschichten. Ja; auch mir. Und zeigte uns Licht und Ziel und Hoffnung. Sie sagte nicht viel; sagte nicht, wie es gemacht wird; aber sie zeigte es täglich. Da kamen sie wieder, die drei, und mit ihnen die Kraft. Gott sei Dank.«

»Du bist gesund.«

»Gott sei Lob und Dank, sie kommt wieder. Ich spür' es in den Zehen, in den Fingerspitzen, wenn mir's auch noch oft genug weh und wund ums Herz ist. Siehst du dort oben die Staren? Ein ganzer Zug, viele Hunderte! Sie ziehen auf ihre große Wanderschaft, froh und frei durch die Luft, und wohnen in warmen, sonnigen Ländern, wenn hier alles erfriert. Dort würdest auch du wieder gesund werden. Daran hab' ich gedacht, als ich noch ein Kind war. Daran denke ich, seit ich wieder Atem holen kann. Eine Hoffnung muß der Mensch haben.«

»Du bist gesund.«

»Du wirst es auch wieder werden.«

»Das glaube ich selbst; aber nicht auf dieser Welt. Deine Staren gefallen mir. Viel tausend Menschenseelen fliegen jedes Jahr auch hinüber, wo es wärmer ist und sonniger in alle Ewigkeit. Hinter denen her werd' ich wohl auch das Fliegen lernen, und ich weiß einen, der mich's lehrt. Aber Gretle!«

»Du brauchst keine Angst zu haben, Gotthilf«, sagte Berblinger zuversichtlich. »Wer die Staren gelehrt hat und dich lehrt, lehrt auch andre. Sie soll nicht zurückbleiben, wenn ich fliege. Sie hat mir zwei Jahre lang gezeigt, wie's gemacht wird. Geduld. Aushalten. Sie kann es besser als wir Männer, und – und ich hab' sie furchtbar lieb. Das könntest du wissen.«

Er sprang auf.

»Warte nur, warte nur! Zeit mußt du mir lassen. Ohne die ist nichts zu machen. Alles Gute braucht Zeit. Sieh die Blumen an und die Bäume und Himmel und Erde. Aber ich weiß, sie hält so lange aus. Sie hält ja alles aus. Du kannst ruhig sein, als ob wir schon am Ziel wären.«

Gotthilf reichte ihm die Hand, ohne ein Wort zu sprechen. Dann stand er nicht ohne sichtliche Mühe auf.

»Es war hier gut liegen«, sagte er, »warm und weich; und die blauen Berge tun einem wohl. Aber nichts dauert lang hier unten – ich meine, hier oben.« Dabei lachte er freundlich in sich hinein, weil sich ihm Unten und Oben zu verwirren drohten, und die beiden Jungen, die noch keine Worte finden konnten, um sich zu sagen, was in ihnen vorging, machten sich wieder auf den Weg.

»Immer zu!« rief Berblinger munter, als ob er ein Gewicht abschüttelte. »Es kommt jetzt doch zu meinem alten Plan. Wir gehen geradewegs ins Paradies.«

 

Er dachte nicht an das Jenseits, das Gotthilfs Augen aufleuchten machte. Im Ruhetal, an der Westseite des Michelsbergs, lag im Grün von Wiesen und Obstbäumen ein kleines ländliches Wirtshaus; ein vielbesuchtes Ausflugsziel der Ulmer, dem man diesen Namen gegeben hatte. Die alten, einfachen Anlagen hatten die Franzosen vor zehn Jahren zerstört. Als ob sich ein neuer Besitzer hierfür bedanken wollte, hatte er sie in französischem Geschmack wieder angelegt, Taxushecken à la Versailles herangezogen, lauschige Lauben und Hüttchen eingerichtet und ein halbes Dutzend anständige Tische und Tischchen unter den zwei Lindenbäumen vor dem Wirtshaus aufgestellt. Auch unterließ er nicht, für gute Bewirtung zu sorgen, was die Ulmer besonders dankbar anerkennen. Das Ruhetal mit seinem Paradies stand wieder in voller Blüte.

Etwas schüchtern schlüpften die Jungen durch ein Hinterpförtchen in den Garten, aus dem ihnen schon in der Ferne Lachen und frohes Geplauder entgegentönte. Es war Lehrlingen streng verboten, Wirtschaften in Ulm zu besuchen, und sie waren nicht sicher, ob das Ruhetal von der Zunft zu Ulm gerechnet wurde. Aber Berblinger war entschlossen, nicht nur selbst sein Fest zu feiern, sondern auch seinem Freund eines zu geben, und dazu war das Paradies, wenn sie Glück hatten, wie geschaffen.

Und sie schienen Glück zu haben. Im hintersten Teil des Gartens neben dem Türchen, durch das sie ihn betraten, lag eine kleine Laube mit einem brüchigen Tischchen und einer halb abgefaulten Bank, die keinen Ulmer Bürgersmann mehr getragen hätte, beides so versteckt, daß man vor allen neugierigen Blicken sicher war. Dagegen konnte man durch die Lücken des Laubwerks einen Teil des Wirtsgartens übersehen, in dem sich eine bunte Gesellschaft hin und her bewegte. Dort ließen sich die Jungen nieder, und nach kurzer Zeit standen auch zwei Krüge Bier, ein halber Laib prächtigen Schwarzbrots und ein gutes Stück Käse auf dem Tischchen. Es wäre jedem, der sie hätte beobachten können, eine Lust gewesen, zu sehen, wie sie einhieben, nicht zum wenigsten der halbverhungerte Gotthilf. Das irdische Paradies hatte auch für ihn nicht alle Reize verloren. »Wenn nur Gretle hier wäre!« seufzte Berblinger fast sehnsüchtig, während er seinem Freund große Stücke Brot und Käse unterschob, die dieser verzehrte, ohne es zu bemerken. Dafür war Berblinger rascher mit seinem Bier zu Ende.

Der erste Ansturm war vorüber. Sie waren am zweiten Krug und aßen und tranken jetzt ruhiger. Das muntere Treiben im Garten draußen begann Berblinger zu fesseln. Da blieb ihm plötzlich ein Stückchen Brot im Halse stecken, so daß er bei dem Versuch, ein heftiges Husten zu unterdrücken, ganz blau wurde. Das helle Lachen einer Mädchenstimme hatte an sein Ohr geschlagen. Mit fast zitternder Hand schob er einen Geißblattzweig auf die Seite und konnte jetzt den ganzen Platz unter den beiden Linden vor dem Wirtshaus übersehen. Es war ein buntes, liebliches Bild, dessen Mittelpunkt ein zierlich gekleidetes junges Mädchen bildete. Ihre schwarzen Löckchen wirbelten durcheinander und glänzten in der Sonne, als ob sie eine funkelnde lebendige Krone aufhätte. Was sich sonst um den Engel in dem duftigen Rosakleide gruppierte, konnte er im ersten Schrecken nicht unterscheiden, aber es waren lauter bekannte Gestalten. Auf der linken Seite Lucindens saß Hans Schwarzmann, sein stattlicher Vetter, in blauem Frack und gelben Nankinghosen, nach neuester Mode glänzend ausstaffiert. Berblinger kannte den Frack, denn er hatte seine sämtlichen Knopflöcher selbst eingefaßt. Auf ihrer andern Seite saß der Staatsrat Baldinger in seinem neuen altmodischen Staatskleid. Auch das kannte der Junge nur zu gut. Am gleichen Tisch, ihm den Rücken zukehrend, saßen seine beiden Bäschen; zwischen ihnen Onkel Schwarzmann. Doch war dies nicht alles. Den benachbarten Tisch hatten fünf Studenten besetzt, zwei in bunten Mützen, drei in bescheidenes Schwarz gekleidet, aber sichtlich nicht weniger überzeugt von der Wahrheit des alten Lieds: ›Der Bursch ist König in der Welt.‹ Die drei Schwarzen erkannte er auf den ersten Blick, so sehr sie sich verändert hatten; es waren Seeger, Fischer und Busch, seine alten Klosterschulfreunde aus Blaubeuren, jetzt ohne Zweifel Stiftler, die andern schienen ihre Freunde und Ulmer zu sein, die ihnen als Führer dienten; alle fünf sichtlich Tübinger im ersten glorreichen Semester.

Berblinger ließ den Zweig mit den schützenden Blättern aufschnellen, um sich zu sammeln. Er hatte die zwei Krügchen des ungewohnten Biers wohl etwas rasch geleert, aber das war es nicht, weshalb er halbbetäubt den Herzschlag bis in die Schläfen spürte. Nun brach er vorsichtig erst ein, dann ein zweites Geißblatt ab, so daß er die beiden Tische bequem übersehen konnte.

Gut, daß Gotthilfs ganze Aufmerksamkeit noch immer auf Brot und Käse gerichtet war, so daß er das Zittern seines Freundes nicht bemerkte. Wie schön sie war! Diese Löckchen, diese Grübchen in den Wangen! Dieser stolze weiße Nacken und diese blitzenden Augen! Eine Vereinigung von unnahbarer Hoheit und hinreißender, fast weh tuender Lieblichkeit. Armer Junge! Er horchte mit aller Macht, um keinen Laut zu verlieren, der aus ihrer Richtung kam, und doch empfand er jedes Wort, das sie sprach oder das zu ihr gesprochen wurde, wie einen Stich ins Herz.

Zwischen den zwei Tischen wurde hin und her geplaudert und gelacht. Der Staatsrat Baldinger schien in ganz besonders guter Laune zu sein.

»Wenn ich Studenten sehe, werde ich vierzig Jahre jünger«, sagte er fröhlich und hob seinen Krug. »Prosit, ihr Herren! Das war eine Zeit, Anno dazumal!«

Die fünf erhoben sich achtungsvoll wie auf Kommando und leerten ihre Krüge. Die drei Stiftler waren nicht die letzten, die sie mit einem lauten Schlag auf den Tisch setzten. »Na ja, es geht, wie ich sehe!« meinte der Staatsrat. »Singt ihr auch noch im alten Tübingen, wie ihr trinkt? Eins hat keine Art ohne das andre.«

Busch stieß einen tiefen grunzenden Ton aus. Er hatte sich in kurzer Zeit einen furchtbaren Baß angetrunken und war stolz darauf.

»Sehr gut!« lachte Baldinger. »Aber gebt Obacht, ihr jungen Herren, wir haben auch unsre Sänger im alten Ulm. Sind wir doch die letzte Stadt im Reich, in der noch Meistersinger florieren. Seht euch um: dort drüben sitzen ihrer drei. Gott segne die Zunft!«

Er winkte nach einem Nachbartisch, an dem drei wohlbejahrte Webermeister saßen, die sich sofort wohlgefällig räusperten und geneigt schienen, eine ihrer selbstgewobenen Weberweisen anzustimmen.

»Was sagst du dazu, Hans«, fuhr der Staatsrat fort. »Auch die Schiffer, die unruhigen Wandervögel, können's, und du seist, wie ich höre, eine ihrer Nachtigallen.«

Hans hatte inzwischen angelegentlich mit Lucinde gesprochen. Er war nicht mehr der eckige Junge in seinen Flegeljahren und machte dem schönen Mädchen eifrig den Hof. Auf die Studenten sah er mit etwas unsicherem Blick, der wunderlich mit einem hochmütigen Sichaufraffen wechselte, wenn ihn einer anredete.

»Die Herren sollten uns ein Studentenlied singen!« sagte er.

»Dann singst du uns eins deiner Schifferlieder«, versetzte der Staatsrat, »und wer das beste Lied singt, bekommt einen Preis. Die Herren Meistersinger drüben sollen richten.«

Alles lachte und suchte den Sängerkrieg zu entfachen, aber keiner wollte den Anfang machen.

»Schlechte Kerl', die Jungen von heute!« rief Baldinger. »Sie wollen nicht dran, ehe sie wissen, was der Preis sein soll. Kein Idealismus mehr!«

»Und was soll er sein?« fragte Busch, der am gierigsten schien, seinen Baß leuchten zu lassen, wie ihm Seeger vorwarf.

»Ich wüßte etwas!« sagte Fischer, mit fröhlichen, nicht unbescheidenen Blicken Lucinden zulächelnd.

Hans' Gesicht verfinsterte sich.

»Vorsicht!« rief einer der Ulmer Studenten. »Mit unsern Schiffern ist nicht zu spaßen!«

Aber Fischer fuhr unbekümmert fort, indem er sich an den dritten Tisch wandte.

»Mit Gunst, ihr Herren der edlen Zunft der Meistersinger! Mög's euch allen – wohl gefallen – was an diesem frohen Tage – ich zu propagieren wage! Ein Lied, sei's kürzer oder länger – das beste Lied, der beste Sänger – erhält als Angebinde – das Recht, in vollem Zuge – zu trinken aus dem Kruge – der himmlischen Lucinde.«

Alles lachte. Fräulein von Baldinger errötete angemessen und warf Fischer einen zärtlichen Blick zu. Das war ja ein Dichter, und für junge Dichter schwärmte sie fast mehr als für alte Sänger, die ihr Papa so hochhielt. Berblingers Herz klopfte zum Zerspringen. ›Selbst sein alter, bester Freund –!‹ Er kam nicht weiter in seinen qualvollen Gedanken, die sich mehr und mehr verwirrten.

»Meinethalben!« sagte der Staatsrat. »Aber Ihr seid keck, Herr Studiosus!«

»Das ist das Recht der Jugend«, versetzte Fischer. »War's anders vor vierzig Jahren, Herr Staatsrat?« – Er wollte noch einige altkluge, einem Theologen geziemende Bemerkungen hinzufügen, um den würdigen Herrn zu versöhnen; aber Busch war bereits auf den Beinen und räusperte sich heftig.

»Das Neueste von der Alma mater zu Tübingen!« rief er und begann:

»Krambambuli, das ist der Titel!«

Er sang nicht schlecht, und man fühlte, daß sein Herz bei der Sache war. Das hilft über manche Unebenheiten weg, so daß auch die drei Webermeister und Meistersinger wohlgefällig nickten, als er zu Ende war und sich zunächst mit einem kräftigen Schluck aus dem eignen Krug belohnte. Der Sang hatte jedenfalls die gute Folge gehabt, in Hans die unbeholfene Schüchternheit zu verscheuchen, die ihm zu frühzeitig den Schein eines hochmütigen Geldprotzen gab. Er war kürzlich vorteilhaft verändert von seiner ersten Reise als Schiffer aus Wien zurückgekehrt und mochte entlang der Donau im sangesfrohen Oberösterreich manches hübsche Lied gehört haben. Auf sein Singen hatte er sich von jeher etwas zugute getan. Der Rat und auch sein Vater winkten ihm ermutigend zu. Purpurn im Gesicht stand er auf und sang:

Die Donau hinunter, die Donau hinauf,
Wie schimmern die plätschernden Wellen im Lauf.
Hinauf und hinunter die Schiffer ziehn:
Vom Schätzle in Ulm zum Schatzerl in Wien.

Am Strudel bei Grein sitzt ein graugrünes Weib,
Es schimmert im Wasser ihr schuppiger Leib.
Sie nickt und sie wirbelt und zieht ihn hinein,
Das graugrüne Weiberl im Strudel bei Grein.

Die Donau hinauf und die Donau hinab
Liegt Schiffer an Schiffer im naßkalten Grab.
Das Weiberl zu Grein treibt heut noch ihr Spiel,
Vergeßt nicht, ihr Schiffer, drei sind euch zuviel.

Sämtliche Gäste im Paradies drängten sich während des Singens um die zwei Tische. Hans sang nach dem ersten Vers frisch drauflos, als ob er, das Steuer in der Hand, auf seiner Zille stände. Die Ulmer verstanden dies und klatschten und jubelten ihm zu. Die drei Meistersinger nickten lebhafter mit den Köpfen und machten überaus pfiffige Gesichter.

»Nicht übel, nicht übel«, sagte der älteste. »Es geht nach der ›gelben Rosmarinweise‹, wenn auch nicht genau nach zünftiger Regel. Es fehlt der Nachschlag im dritten und vierten Stab. Ganz bringen's die Schiffer nicht fertig. Das können nur die Weber. Es gehört zum ehrsamen Handwerk, das unser Herrgott erschaffen hat und erhalten wird, solange wir leben. Dichten und Singen ist eine Gottesgabe wie das Weben.«

»Mir gefiel's wohl, obschon es ein leichtfertig Lied ist«, sagte der jüngste – er mochte sechzig Jahre zählen – schmunzelnd. »Die zwei Allerliebsten – das hat Fleisch und Blut und ist aus dem Leben.«

»Du bist halt auch einer von den Neurern«, grollte der dritte. »Die Kunst hat nichts mit dem Fleisch zu schaffen noch mit der Wirtschaft auf den Zillen. Was wird dabei herauskommen, als daß die edle Zunft flöten geht, wie sie im Norden sagen. Sie pfeift jetzt schon aus dem letzten Loch.«

»Still! paßt auf!« ermahnte der älteste. »Jetzt kommt ein geistlich Lied.«

Der zweite Stiftler hatte sich erhoben und sah sehr ernst in den blauen Himmel hinauf.

»Verzapf eins vom eignen Gewächs!« rief ihm Seeger zu.

Fischer hatte einen hübschen, nicht allzu kräftigen Tenor, aber er konnte singen und kümmerte sich nichts darum, ob er in der Waldeseinsamkeit dahinschlenderte oder in einem Konzertsaal voller Leute stand. Er warf sein langes Haar in den Nacken und begann:

Im Kloster saß an seinem Pult
Ein fleißiger Scholar.
Zur Neige ging ihm die Geduld,
Seitdem es Frühling war.
Gar emsig suchte der Student
Ob dieses Falls sich Rats
In halbvergilbtem Pergament
Bei seinem Freund Horaz.

Ich ahne deine Weisheit wohl,
Flaccus Horatius,
Doch heute scheint mir alles Kohl,
Was man ergraben muß.
Was nützt Grammatik und Syntax,
Ach, fast verfluch' ich sie.
Zerschmolzen ist wie eitel Wachs
Der Geist Horatii.

Zum Fenster sah der Lenz herein
Gar fröhlichen Gesichts:
Du Armer, laß die Bücher sein,
Sonst lernst du ewig nichts.
Da warf er seinen Gänsekiel,
Sein Büchlein an die Wand,
Und zog hinaus zu Sang und Spiel
Entlang dem Bachesrand.

Ein schwarzbraun Mägdlein fand der Wicht
Am silberklaren Fluß,
Die gab ihm drei Vergißmeinnicht,
Dazu noch einen Kuß.
Er wehrte sich, entzückt, entsetzt:
Es half ihn nichts; sie tat's.
Nun jubelt er: O Himmel, jetzt
Versteh' ich dich, Horaz.

»Sehr nett, sehr fein!« sagte der Staatsrat höflich und klopfte mit seinem Krug beifällig auf den Tisch, worauf die übrige Gesellschaft, wenn auch weniger laut als zuvor, in den Beifall einstimmte. Das Lied war ihnen zu ›studiert‹. Auch kannten sie Fischer kaum und wußten deshalb nicht, ob sie es für gut oder schlecht halten sollten. Bei Hans war dies anders.

»Wer ist der nächste?« fragte Baldinger aufmunternd; aber niemand regte sich mehr.

»Da wären wir ja schon zu Ende! Gut; allzuviel ist ungesund«, rief der fröhliche Staatsrat. »Nun also, ihr Herren Preisrichter von der edlen und ehrsamen Zunft der Meistersinger, wem sprecht ihr die Krone oder vielmehr das Krüglein zu?«

Die drei Alten steckten die Köpfe zusammen und tuschelten mit großem Ernst. Da und dort unterbrach ein lautes Lachen, ein derber Witz die Stille, mit der die Umstehenden die Entscheidung erwarteten. Endlich trat der älteste der drei Webermeister vor des Staatsrats Tisch und sprach feierlich: »Mit Gunst, ihr hochmögenden Herren, wir han gewogen und gemessen – wohl nach Vermögen und Gewissen – auch nach Empfinden und Verstand – han wir den Preis euch zuerkannt: Hans Schwarzmann! Und wünschen dazu allerwegen Bescheidenheit und Gottes Segen. Begründung: Der Sang von dem Donauschiffer und den zwei Allerliebsten hat uns vor allen gefallen, weil er absonderlich zierlich gedichtet und gesungen worden, auch zu ziemlicher Warnung dienet, von wegen der drei Weibsleute, die selbst einem Ulmer Schiffer unzuträglich sein mögen. Auch hat uns das neue Lied Krambambuli wohlgefallen, denn solches gehet nach der seltenen ›warmen Regenwetterweise‹ und ist erfreulich für ein durstig Herz. Bliebe uns nur der Wunsch, zur Begründung unseres Urteils das erwähnte Getränke selbst kennenzulernen. Endlich sind wir der Ansicht und des Glaubens, daß das Lied von dem Wald auch nicht übel, allein da es in keinem von der hochedeln Zunft gebilligten Maß gedichtet erscheint, noch nach irgendwelcher bewährten Melodei zu singen wäre, sind wir nicht gewillt und imstande, solcher Neuerung das Wort zu reden.«

Der alte Herr verbeugte sich tief, ohne daß sich eine Muskel in seinen braungelben, hölzernen Zügen verzog. Fischer lachte fröhlich auf, erhob seinen Krug und rief: »Vivat der Sieger!« Alles stimmte ein, lachend, schwatzend, trinkend. Auch Lucinde nippte an ihrem Krügchen, sah über dessen Rand fast zärtlich auf Hans, der sich stolz aufrichtete. Dann reichte sie ihm den kleinen Humpen, den er in langen, durstigen Zügen leerte.

Berblinger wußte nicht mehr, was er tat. Er war während des Tumults aus der Laube getreten und stand fast neben seinem Onkel, sprachlos, zitternd, mit funkelnden Augen abwechslungsweise Lucinde und Hans anstarrend. Keine Frage. in der Erregung, die ihn erfaßt hatte, war er ein hübscher Junge. Selbst sein Anzug, so einfach er war, kleidete die zierlichen, kräftiger gewordenen Glieder nicht übel. Er verstand ja jetzt selbst, ihn zuzurichten, und hatte seines Festes und ein wenig Gretles wegen sich's angelegen sein lassen, dies zu tun. Hans setzte den Krug nieder und erkannte seinen Vetter. Die Augen, die er machte! Im gleichen Augenblick fühlte dieser eine Hand auf seiner Schulter. Es war Fischer, der auf ihn zugesprungen war.

»Bei den heiligen drei Königen«, rief er, »es ist unser alter Brechtle!«

Auch Busch kam herbei und donnerte: »Gambrin und Bacchus! Evoe! Evoe! Es ist der Berblinger, unser Kirchenbrandstifter! Gott grüß dir, Bruder Straubinger! Es lebe die Freiheit!«

Hans sah seinen Vetter mit verlegenen Blicken an. Schwarzmann war rot vor Zorn aufgestanden, seine zwei Töchterchen kicherten in ihre Taschentücher, und der Staatsrat lachte sein lustigstes Lachen. Mit ihrer hellen scharfen Stimme rief Lucinde abermals – Berblinger hatte es nicht vergessen, obgleich ein halbes Jahr darüber hingegangen war –, es klang wie gestern:

» Mon Dieu, Papa, Papa! Der Schneiderlehrling!«

»Dein Schneiderjunge!« wiederholte der Staatsrat, sich an Schwarzmann wendend. »Sperr's Maul auf, Bub!«

Da war auch das wieder.

Fischer begriff annähernd, wie alles zusammenhing.

»Komm herüber! Setz dich zu uns!« sagte er, ihn nach dem zweiten Tisch ziehend.

»Bei Cerevis! Das wäre noch schöner!« rief einer der Studenten in bunter Mütze. »Ein Schneider unter Korpsburschen! Ihr Stiftler seid verrückt.«

»Wer ist's!« brummte Busch auf. »Soll das tuschiert sein?«

»Kalt Blut! Ich sagte nicht, daß ihr dumme Jungen seid«, versetzte der andre. »Verrückt kann der anständigste Mensch werden.«

»Es scheint so!« erwiderte Busch prompt, aber höflich. »Prosit, altes Haus!«

Berblinger schlichtete den strittigen Punkt, ohne zu wissen, was er tat, während noch spöttische und zornige Worte über den Tisch flogen. Er riß die Hand aus Fischers Umklammerung und flog seinem Versteck zu. Dort nahm ihn Gotthilf, der alles erschrocken mit angesehen hatte, am Arm und zog den Willenlosen durch dasselbe Hinterpförtchen, durch das sie eingetreten waren, zum Paradies hinaus.

Am nächsten Rain hinter dichtem Buschwerk setzten sie sich, aber nur für einige Minuten. Aus dem Garten tönte ein mit wunderbaren Schnörkeln und Verzierungen, Trillern und Kadenzen geschmücktes Lied, das drei alte, fast krächzende Stimmen sangen und das Vers um Vers mit jubelndem Beifall aufgenommen wurde. Es ging nach der ›verschränkten Bindfadenweise‹ und lautete:

Der Schneider, der Schneider,
Der wollt' viel Ehre han.
Er ritt in einem blauen Rock
Auf einem gelben Ziegenbock
Den Michelsberg hinan.

Der Schneider, der Schneider
Kam glücklich oben an.
Der Bock macht' einen Freudensprung;
Der feine Schneider hat genung,
Er konnt' nicht widerstahn.

Der Schneider, der Schneider,
Der stolz im Sattel saß:
Den nahm der böse Bock nicht mit,
Er lag nach seinem Sonntagsritt
Gar kläglich auf der Nas'.

Fischer war den Flüchtlingen nachgeeilt und suchte sie eine Zeitlang vergeblich in dem wirren weglosen Dickicht. Er war zweimal nur fünf Schritte entfernt an ihnen vorübergegangen, aber Berblinger, der neben Gotthilf flach auf dem Boden lag und sein Gesicht im Moos begrub, regte sich nicht, obgleich er ihn sah und von einer brennenden Sehnsucht nach dem verlorenen Jugendfreund geschüttelt wurde. Gotthilf saß neben ihm und suchte mehrmals seine Hand zu fassen, die er ihm wie zornig wieder entriß. Berblinger gab keinen Laut von sich, aber man konnte an seinen Bewegungen sehen, daß er schluchzte.

Nach einer halben Stunde erhob er sich und sagte ruhig: »Es ist vorbei. Ich dank' dir, daß du ausgehalten hast. Wir wollen nach Haus gehen, Gotthilf.« Und langsam schlugen sie den Weg über den Kienlesberg nach der Stadt ein.

Bis zur Felsengruppe, von der aus man die Stadt überblickt, sagte keiner ein Wort. Es war spät geworden, und ein glühendes Abendrot tauchte die ganze Welt in seine Pracht, als sie auf der Höhe anlangten. Das düstere Häusergewimmel um den stumpfen Münsterturm und den schweren, halbfertigen Kirchenbau lag schon in dunstiger Dämmerung. Dort hinunter führte ihr Weg. Es war höchste Zeit, wenn sie die Stadt vor Torschluß erreichen wollten. Sie mußten dem goldenen Licht, in das sie eine Zeitlang bewundernd geblickt hatten, den Rücken kehren.

Aber auch das goldene Licht begann seinen Glanz zu verlieren. Vom Osten her schlich die Nacht über den Himmel. Da und dort begann ein Sternchen zu flimmern, und die Mondsichel, dünn wie ein silberner Faden, stand über dem Abendstern. Ganz ohne Licht ist ja auch die finsterste Nacht nicht.

Jetzt ergriff Berblinger die Hand seines Freundes.

»Es ist vorbei!« sagte er nochmals, aber entschlossener als zuvor. »Das alles liegt hinter mir, und ich will nicht zurückblicken. Du, Gotthilf, arm und krank, sollst mir weiterhelfen, wie du's heute getan hast: du und Gretle. Zu euch gehör' ich.«

»Noch nicht ganz«, sagte Gotthilf mit einem leisen Seufzer. »Morgen muß ich wieder wandern. Vergiß Gretle nicht.«

Dann stiegen sie Hand in Hand den Hügel hinunter, dem Neuen Tor zu.


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