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Einleitung

Der wahre Schneider

Zum drittenmal und etwas ungeduldig zog ich am Klingelgriff neben dem schmucklosen, aber festverschlossenen Tor der städtischen Bibliothek. Es war allerdings nicht die übliche Besuchsstunde: ein grauer Morgen in dichtem Donaunebel; allein der Mann, der in einer Mauernische des altertümlichen, völlig stillosen Baues neben dem herrlichen Münster mit einer Katze auf der Schulter und dem Ulmer Tagblatt in der Hand Äpfel verkauft, hatte mir gesagt, daß der Herr Professor schon seit Tagesanbruch oben sei, und so war ich entschlossen, entweder den Herrn Bibliothekar oder den städtischen Glockenzug herunterzuholen. Jetzt endlich hörte man ein krachendes Geräusch auf der Treppe. Ein Schlüssel drehte sich von innen in dem halbverrosteten Schloß, und das freundliche Gesicht des alten Herrn erschien in der vorsichtig sich öffnenden Spalte. Aber ein merklicher Schatten flog darüber, als er mich sah.

»Bedaure wirklich, Sie gestört zu haben, Herr Professor!« sagte ich im Ton lebhaftester Entschuldigung, obgleich ich seit zehn Minuten bemüht gewesen war, dies zu tun. »Kann der Bibliotheksdiener nicht öffnen oder haben Sie noch immer kein Zuggestänge an Ihrem wohlverwahrten Burgtor?«

»Mein Diener macht meist Ausgänge für den Herrn Ratsschreiber drüben«, erklärte der gefälligste aller Bibliothekare, wieder ganz Freundlichkeit. »Dagegen habe ich die Genugtuung zu wissen, daß der Türzug vom Magistrat bewilligt wurde. Leider aber ist der Antrag bei den Herren Stadtverordneten auf Widerspruch gestoßen, und zweifellos: es ist geboten, die städtischen Auslagen in möglichst engen Grenzen zu halten. So muß ich das Tor vorläufig noch selbst öffnen, wenn jemand außer den bestimmten Stunden anläutet: Montag und Donnerstag von zehn bis zwölf Uhr, Herr Geheimer Hofrat! Mein Vorgänger, der alte Veesenmeyer, hatte es auch nicht besser, und eine kleine Bewegung hier und da ist bei sitzender Lebensart eine wahre Wohltat. Bitte, fallen Sie nicht!«

Er war in sichtlicher Verlegenheit, wie er mich zuerst durch die Tür gehen lassen könnte, da er schon drinnen war. Die Ulmer sind in dieser Hinsicht Muster der Höflichkeit. Schweigend stiegen wir die steile Treppe hinan, die in überraschender Weise unmittelbar hinter der Torschwelle beginnt, und traten in das unregelmäßige, saalartige Gemach, dessen Wände aus Büchern von ehrwürdigem Alter aufgebaut und dessen Bücher von nicht weniger ehrwürdigem Staub bedeckt schienen. Nur da und dort verriet ein einfacher, aber noch glänzender Einband das Dasein eines Werkes neuerer Zeit. In einer der vielen Ecken standen ein mächtiger Erd- und ein kleiner Himmelsglobus aus dem achtzehnten Jahrhundert, und von den freistehenden Holzpfeilern, die die Decke tragen halfen, hingen Fahnen, mit altdeutschen Adlern geschmückt, die, obgleich meist nur aus der Sturmzeit der Vierziger des vorigen Jahrhunderts stammend, den Altertumsforscher an siegreiche Kämpfe der alten Reichsstadt mit Franzosen, Bayern und Österreichern erinnern mochten. Mahnte doch mancher mottenzerfressene Band in gebräuntem Schweinsleder an die Geisteskämpfe, die in der Reformationszeit auch im Weichbild der guten Stadt Ulm ausgefochten worden waren. Beides blieb heute von uns unbeachtet. Der Bibliothekar führte mich in sein schlicht ausgestattetes Arbeitszimmer, das ebenfalls aus Bänden verschiedener Gattung hergestellt schien, und bat mich, auf etlichen zwölf Büchern Platz zu nehmen, die seine drei Stühle bedeckten.

»Ich komme, Herr Professor, um –« begann ich.

»Sie kommen, um Ihr Manuskript zu holen«, unterbrach er mich im Drang seiner zuvorkommenden Herzensgüte. »Sehen Sie, hier liegt es schon, sorgfältig eingepackt. Ich hätte es Ihnen heute zugesandt – ja – ja; ich hätte es Ihnen heute schon zugeschickt, wenn der Bibliotheksdiener nicht Ausgänge für den Herrn Ratsschreiber machen müßte.«

»Und wie hat es Ihnen gefallen?« fragte ich aufmunternd, denn er sprach mit einemmal sehr langsam und nachdenklich. »Ich darf doch annehmen, daß Sie es durchgeblättert haben.«

»Na – natürlich; das dürfen Sie. Gefallen? Ich bin expreß heute zwei Stunden früher auf die Bibliothek gekommen, dermaßen hat es mich interessiert. Die Wendungen, die Sie der Geschichte geben! – die – die – der Spielraum, den Sie der Phantasie gestatten! Es hat mich zwei Tage gekostet, so neugierig war ich, zu erfahren, wo Sie mit dem Berblinger hinauswollen. – Gefallen? – Wissen Sie was: ich bin eine Art Büchersybarite, ein Mensch, der nicht kritisiert, sondern nur genießen will. Sehen Sie, all das an den Wänden herum kritisiere ich nicht; ich genieße es. Wenn mir nur der gütige Himmel einen Weg zeigen wollte, meine Genüsse zu katalogisieren. Zum drittenmal nehme ich einen Anlauf, sehe aber voraus, daß es wieder nichts wird. Da schenken uns vorigen Monat die Schad von Mittelbiberachschen Erben die Bibliothek ihres Großvaters mit der Bestimmung, daß die Bücher beisammen bleiben müssen! Das ist der sechste Fall ähnlicher Art seit dem Dreißigjährigen Krieg. Ich bitte Sie, wie kann da eine Ordnung in das Ganze kommen? Es wird immer toller. Ich auch.«

»Zweifellos eine unmögliche Aufgabe«, gab ich zu, indem ich mein Manuskript liebevoll zwischen den Händen rieb. »Aber aufrichtig! Wie hat Ihnen die Geschichte gefallen?«

»Die Geschichte? Sie meinen Ihre Geschichte vom Schneider von Ulm? Darf ich – soll ich ehrlich sein?«

»Welche Frage, mein bester Herr Professor! Sie sind es doch gewöhnlich im bürgerlichen Leben, darüber besteht in Ulm nicht der geringste Zweifel.«

Er lächelte verlegen. Dann fuhr er fort:

»Ja, mit der Ehrlichkeit, das ist so eine Sache. Es gibt vielerlei Ehrlichkeiten. Die einen sind unbedingt notwendig; bei anderen ist es unbedingt notwendig, ihnen vorsichtig aus dem Weg zu gehen.«

»Machen Sie doch nicht so viel Federlesens, Verehrtester«, bat ich etwas ungeduldig. »Ich bin ein hartgesottener Sünder und kann die Wahrheit ertragen. Die Geschichte hat Ihnen nicht gefallen. Mir gefällt sie auch nicht.«

»Das freut mich! Das freut mich ganz ungewöhnlich!« rief der gute Herr, mir lebhaft die Hand schüttelnd. Dann fuhr er, plötzlich ernst werdend, fort: »Aber Sie können kaum wissen, wie sehr Sie mich betrübt haben. ›Geärgert‹ ist nicht das richtige Wort. Ich würde eine Unwahrheit aussprechen, wenn ich sagte: geärgert. So ganz unerwartet! Es hieß in der Stadt, Sie seien bei Schneidermeister Glöckle in der Herrenkellergasse förmlich in die Lehre gegangen, um das sogenannte Milieu richtig schildern zu können. Erst gestern sagte unsere Magd meiner Tochter, es sei zweifellos richtig. Man habe den Herrn Geheimen Hofrat drei Wochen lang in Hemdsärmeln auf dem Schneidertisch sitzen sehen; wissen Sie, aus Schuster Schempps Haus, vis-à-vis. Und bei dieser Gewissenhaftigkeit müssen Sie mir das antun!«

»Aber was denn, mein bester Herr Bibliothekar? Was habe ich Ihnen angetan?«

»Was?! – Habe ich Ihnen nicht alles zusammengesucht, was die Bibliothek über den Berblinger besitzt: Zeitungsnotizen, Spottgedichte, sehr genaue Skizzen seines lächerlichen Flugapparats, handschriftliche Aufzeichnungen über seine Geburt, sein Herkommen, seinen Lebenslauf, sein trauriges Ende. Es ist nicht viel, aber genug, um ein annähernd wahrheitsgetreues Bild des närrischen Kerls festzulegen. Ich will nun einmal ehrlich sein, wenn Sie es durchaus haben wollen: das alles haben Sie verschoben und verdreht, übermalt und ausgeschmückt, daß selbst ich meine städtischen Dokumente nicht mehr erkenne. Nehmen sie mir's nicht übel, aber wir wollen wenigstens ein Beispiel zitieren und gleich mit dem Anfang beginnen. Der Schneider, der wahre Ludwig Albrecht Berblinger, den man nach damaligem Sprachgebrauch wahrscheinlich Luile hieß und nicht Brechtle, wofür sich nicht der geringste Anhalt finden läßt, ist am 28. September 1771 zu Ulm geboren, und keineswegs im Mai. Sie geben zwar vorsichtigerweise keine Jahreszahl an, aber nach allem, was sich aus den von Ihnen erdichteten Nebenumständen herausrechnen läßt, müßte er zehn oder zwölf Jahre später, und zwar ganz woanders auf die Welt gekommen sein. Eine Art Wiedergeburt könnte man's heißen, wenn man über solche Dinge spaßen dürfte.«

»Eine Art Wiedergeburt habe ich allerdings mit dem Mann vorgenommen«, gestand ich kleinlaut.

»Nur keine geistreichelnden Doppelsinnigkeiten, wenn es sich um geschichtliche Tatsachen handelt! Mit der guten Stadt Ulm und ihren Verhältnissen sind Sie allerdings etwas vorsichtiger umgegangen. Manches stimmt auffallend. Aber ich bitte Sie, wie kommen Sie zu den tollen Familiennamen, von denen das Buch wimmelt? Was mach' ich aus den Schwarzmanns, Bockelhardts, Krummachers, Knöppels, die in keiner Ulmer Chronik zu finden sind und die ganze ehrwürdige Geschichte der alten Reichsstadt in die bodenloseste Verwirrung stürzen?«

»Darüber habe ich mich auch nicht wenig geärgert«, entgegnete ich mit freudiger Zustimmung, »aber was blieb mir übrig? Es gehört ins Kapitel der Ehrlichkeiten, denen man aus dem Weg gehen muß. Die meisten Familien, von denen ich erzähle, leben und blühen heute noch in der guten Stadt Ulm. Wenn ich nun aber einen Esel in meiner Geschichte brauchte – dieses Bedürfnis hat ein Poet nicht selten – und den Urgroßvater meines Freundes, Herrn von Kolb, dazu gemacht hätte: wer weiß, ob dann die neueste Geschichte der guten Stadt Ulm nicht in noch größere Verwirrung geraten wäre! Glauben Sie mir, es war ein Akt peinlicher Entsagung, die Namen der hervorragendsten Persönlichkeiten in dieser nur allzu wahren Geschichte ein wenig zu verschleiern. Auch die besten Großväter waren nicht durchweg Heldengestalten und Muster von Tugend und Weisheit, und unsere gute Stadt glänzte in jener jammervollen Zeit zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wie andere deutsche Städte in sehr bescheidener Weise. Das werden Sie wohl zugeben.«

Mein erregter Freund gab nichts zu. Mißmutig fuhr er fort:

»Allerdings – um auf die Hauptsache zurückzukommen – einem Herrn Schriftsteller, der von Leuten zu erzählen weiß, die zweihundert Jahre vor ihrer Zeit geboren sind, ist es ein kleines, sie fünfzehn Jahre nach ihrer Geburt in die Welt zu setzen. Aber das geht nicht, das geht nicht! Der Berblinger ist entweder im Jahr 1771 geboren, oder er ist überhaupt nicht geboren. Was seinen Geburtsort betrifft – ich kann wirklich schwer Worte finden, die einen Akt richtig bezeichnen, der einen geborenen Ulmer mindestens sechs Wegstunden von seinem allerdings unbekannten Geburtshaus entfernt das Licht des Tages erblicken läßt. Wozu haben Sie mich eigentlich um all die Dokumente gebeten, die ich Ihnen nicht ohne beträchtliche Mühe zusammengesucht habe? Unverzeihlich, einfach unverzeihlich!«

Der wackere Professor hatte sich in eine Hitze geredet, die ich nie zuvor bei ihm bemerkt hatte, und stockte plötzlich. Nach einer Pause fuhr er gefaßter und ganz leise fort:

»Ja, wenn das das einzige wäre! Aber – aber – wo soll ich anfangen? Wie steht es mit der Episode in Blaubeuren? Was wissen wir von seinen Wanderjahren in Schlesien und in Wien? Wie kommen Sie zu der unglückseligen Liebesgeschichte mit dem Fräulein von Baldinger, wie Sie sie zu nennen belieben; ein Verhältnis, das bei den damaligen Verhältnissen nach meinem Dafürhalten völlig inkorrekt, ja unmöglich gewesen wäre? Wie – doch wo soll ich aufhören?«

Er brach ab und wandte sich nach dem nächsten Büchergestell, als ob er einen Band zu suchen hätte, der hoffnungslos verstellt und verloren war. Drei Minuten lang ließ ich ihn suchen; dann begann ich, wie wenn auch ich in aller Ruhe für mich selbst Betrachtungen anstellte:

»Wenn in diesem Augenblick unter dem Zauberstab einer wohltätigen Fee alles aus Ihren ehrwürdigen Regalen verschwände, was sich nicht wirklich zugetragen hat; wenn alles, was nicht der wahren Wahrheit im Leben von Geist- und Körperwelt entspricht, mit einem Schlag verduftete: Druckerschwärze, Papier und Einbände –, wie leer, glauben Sie wohl, daß diese Wände aussehen würden?«

Der Bibliothekar tat, als ob er mich nicht gehört hätte, nahm einen wohlerhaltenen Band des Livius aus der Bücherei des alten Schad von Mittelbiberach herunter und begann eifrig darin zu blättern. Das kam mir gerade recht.

»Wir haben den würdigen Livius von Kindesbeinen an gläubig gelesen, Herr Professor«, fuhr ich fort. »Wie viel glauben Sie, daß von ihm übrigbliebe, wenn meine Fee der geschichtlichen Wahrheit den dicken Band berührte? Die Deckel vielleicht, die Deckel, Herr Professor! Dort unten sehe ich ein anderes kostbares Buch: die erste Ausgabe von Schillers Tell. Würde eine Zeile von diesem Machwerk des irregeleiteten Poeten bestehen können, wenn es auf seine tatsächliche Wahrheit geprüft würde? Himmlische Mächte! Der Tell selbst hat vielleicht gar nicht existiert und ist nur eine vergessene nordische oder indische Mythe, die in der Schweiz sich wieder ihrer selbst erinnerte. Dabei hat dieser Tell, fast seitdem wir lesen können, uns erhoben und begeistert, wurde eine Wahrheit für uns, aus der wir Freiheitslust und Mannesmut schöpften. Denn es lag Wahrheit in dem, was der Dichter aus ihm gemacht hat: die Wahrheit von Schillers großer und freier Seele. Die ist mehr wert als all der historische Kleinkram der Altertümler und Bibliothekare, den sie um sich her aufhäufen und der zumeist doch nichts weiter ist als eine große, unentwirrbare Lüge. Sollen wir die verrosteten Ketten durch all unser Denken und Fühlen schleppen, weil sie anderen ehrwürdig erscheinen? Freiheit, die ich meine! – Übrigens trösten Sie sich. Wir haben uns ja beide über das Buch geärgert, ich mehr und länger als sie, weil ich nicht den Mut gehabt habe, diese Fesseln ganz zum alten Eisen zu werfen und dadurch, vielleicht auch aus anderen Gründen, nicht das zustande gekommen ist, was ich geträumt und erhofft habe.«

Dies rührte meinen gutherzigen Freund, denn er sah, daß mir's ernst war.

»Natürlich«, sagte er knurrend. »Man kann die Sache auch so auffassen; aber Sie dürfen mir nicht zumuten, dies zu tun. Der Schneider von Ulm ist eine historische Persönlichkeit. Er hat gelebt, hat geschneidert, ist geflogen.«

»Das erzähle ich ja!« rief ich ärgerlich.

»Daran aber soll man nicht deuteln! Mit Ihrer ›Freiheit die ich meine‹! ›Komm mit deinem Scheine‹, heißt's, glaube ich, in dem unklaren, verschwommenen Gedicht weiter. Scheine! Scheine! Wo wir Tatsachen brauchen, Tatsachen haben. Bleiben Sie mir mit Ihren poetischen Lizenzen zehn Schritt vom Leib! Sie verlangten ein ehrliches Wort. Da haben Sie's und Ihr Manuskript dazu. Wenn Sie einen Verleger dafür finden – na, dem Mann wünsche ich Glück. Eine Bibliothek, die sich selbst respektiert, kann das Buch jedenfalls nicht kaufen.«

Er sagte dies freundlich lachend, doch war es auch ihm bitterer Ernst.

Ruhiger fuhr er dann fort:

»Ich bin von Natur ein mutiger Mann, obgleich man es mir nicht ansieht, Herr Hofrat. Haben Sie gestern im Tagblatt von den zwei Pferden gelesen, die in der Heerdbruckerstraße durchgegangen sind? Das war ein Trubel. Im Galopp kamen die rasenden Bestien vom Rathaus herunter. Alles schrie, lief, rannte wie von Sinnen. Sie sollten den Herrn Oberbürgermeister gesehen haben – diese Behendigkeit! Ich allein blieb gefaßt und stellte mich in die nächste Haustürnische, bis der Sturm vorüber war. Selbst der Doktor Wacker sagte am Abend in der ›Ofengabel‹, er begreife nicht, wo ich die Geistesgegenwart her habe. Nein, Herr Eyth, einen Feigling hat mich noch niemand genannt; aber ich wage nicht daran zu denken, was die Ulmer dazu sagen werden, wenn Ihre Geschichte je gedruckt werden sollte – die Magistratssitzung, der Obermeister der ehrsamen Schifferzunft –«

»Aber was kann ich dafür?« versetzte ich kleinlaut. »Es war eine Jammerzeit in ganz Deutschland. So waren die Leute damals, jetzt sind sie natürlich ganz anders. Ich könnte dies ja da und dort hinzusetzen.«

»Hilft nichts!« sagte der Bibliothekar mit Entschiedenheit. »Man glaubt Ihnen ja doch nichts mehr nach diesen Vorgängen.«

Wir schwiegen beide. Hierauf dankte ich ihm herzlich für seine Unterstützung, wozu er den Kopf schüttelte, legte die vergilbten Blätter und Blättchen, die er mir geliehen hatte, auf den Tisch und nahm mein Manuskript unter den Arm. Dann trennten wir uns, schon halb versöhnt, noch halb verstimmt. Ganz wohl wurde mir erst wieder, als ich die Bibliothek hinter mir hatte und den Michelsberg hinaufstieg, meinem provisorischen Athos entgegen. Dort hatte ich blauen Himmel über mir und Sonnenschein um mich, während die Stadt noch in grauem, dichtem Nebel lag. Nur die Hälfte des schlanken Münsterturms und der First des Münsterdachs, auf dem der weltberühmte Ulmer Spatz sitzt, ragte aus dem Dunst empor: Ernst und Scherz, hoch über dem grauen Meer des Alltagslebens. War dies nicht auch eine Wahrheit?

Überdies war ich mehr als je überzeugt, daß ich trotz aller Mängel, die ihr anhaften, die wahre Geschichte des Schneiders von Ulm geschrieben hatte, so wie er gefühlt, gedacht und gelebt haben müßte, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre.


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