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3. Im Grollen der Weltgeschichte

Zwei lange Winter waren wieder vorübergegangen. Brechtle war jetzt zehn Jahre alt und sah aus, als ob er ›schon acht‹ wäre, wie die Jungen im Pfarrhaus zu Neidlingen sagten, die etwas vom väterlichen Witz geerbt zu haben glaubten. Aber seine zwei hellen blauen Augen schauten altkluger in die Welt hinaus als die zwölf der Neidlinger Kinder, und sein Pate, der Pfarrer, hatte öfter Gelegenheit, sich im stillen über die Bemerkungen des Bürschchens zu wundern, der einen Verstand zeigte, welcher weit über seine zehn Jahre hinausging, und der überdies sein kleines Herz am rechten Fleck zu haben schien.

Äußerlich hatte sich in Ochsenwang nichts geändert. Der Frühling war mit gewohnter Unregelmäßigkeit gekommen, hatte dieselbe Mühe wie alljährlich, über den Winter Herr zu werden und den steinigen Albboden mit dem nötigen Grün zu bekleiden, und fand die gleiche Zahl von Strohdächern an der alten Stelle. Ein paar barfüßige Bübchen und Mädchen mehr wackelten zögernd zur Schule, ein paar ältere warfen ihre zwei Schulbücher freudig in die Ecke und begannen hinter des Vaters Pflug herzulaufen. Die Anzahl der runden Flachsköpfchen blieb ungefähr die gleiche, und der Schulmeister waltete seines Amtes wohlwollend, gleichgültig und geistesabwesend wie seit nunmehr vierzehn Jahren.

Die Kleinen merkten natürlich nicht, daß eine große Veränderung mit ihm vor sich ging, die Größeren ahnten etwas davon. Sie waren seit Sommersanfang schon dreimal zu einem Nachmittagsspaziergang aufgefordert worden, hatten mit dem Lehrer den nahen Reußenstein, die Teck und den Hohen Neuffen besucht und mit stummem Staunen vernommen, daß die ganze Herrlichkeit da unten, Saatfelder, Kirschbäume, Dörfer und Städtchen, ihr Vaterland sei und daß es Frühling werden wolle. War's doch eigentlich schon voller Sommer. Nur Brechtle, der mitlaufen durfte, soweit ihn seine kleinen Beine trugen, horchte dabei mit ganzer Seele, obgleich er nicht viel mehr davon verstand als die anderen, denn sein Vater hatte sich noch immer nicht abgewöhnt, in Monologen zu sprechen und darauf zu verzichten, daß ihm jemand zuhörte.

Die Schulmeisterin dagegen beobachtete die gehobene Stimmung ihres Mannes mit schüchterner Freude, wenn sie auch ebensowenig begriff, wem sie sie verdankte. Was kümmerte sie's in Ochsenwang, daß die Franzosen in weiter Ferne die neuerfundene Freiheit und Brüderlichkeit dazu benutzten, sich die Hälse mit Maschinen abzuschneiden! Gediehen ihre Rettiche und ihr Schnittlauch üppiger, seitdem die gottlose Bande überm Rhein einen König abgeschlachtet, überstand Brechtle seine roten Flecken glücklicher, weil sie drüben die rote Fahne aufgepflanzt hatten? »Das alles hatte keinen Wert.« Dankbar aber war sie der französischen Revolution dafür, daß nun fast seit einem Jahr das Perpetulum unberührt und unbeweglich in seinem Schuppen stand und ihr Franz jeden Montag nach Neidlingen hinunterpilgerte, um aus der ›Zeitung‹, wie man kurzweg das Stuttgarter Wochen- und Intelligenzblatt nannte, das Neueste drei Tage früher zu erfahren, als es sonst möglich gewesen wäre. Denn auch der Neidlinger Schulmeister und der Schultheiß hatten ihre Ansprüche auf das kostbare Exemplar, das der Dekan zu Kirchheim dem Pfarrer Fischer nach einem Rundlauf durch sechs Kirchheimer Honoratiorenfamilien zusandte. Die Nachrichten waren deshalb nicht mehr ganz neu, neuerdings aber wieder aufregend genug, selbst für die halbschlummernden Dörfchen auf der Rauhen Alb, so daß Berblinger gewöhnlich mit geröteten Wangen und mitteilsamer als in seinen besten Jahren zu Rosel zurückkam und voll heimlicher Hoffnungsfreudigkeit zu sein schien, für die sie keine Ursache zu finden vermochte.

So saß das seltene Paar, der Pfarrer und der Schulmeister, wieder einmal in der mit blühendem Jasmin bedeckten Laube des Neidlinger Pfarrgartens. Die Kinder spielten mit Brechtle wilde Räuberspiele um die benachbarten Scheunen, bei denen das vierjährige Schwesterchen der Gegenstand heftiger Kämpfe und Überfälle, Gefangennahmen und Befreiungen war, die regelmäßig mit dem leidenschaftlichen Geschrei der unterliegenden Partei: »Das gilt nicht! Das gilt nicht!« endeten. Mit bekümmerter Miene und der großen Familienkaffeekanne ging die Pfarrerin ab und zu und bat um Verzeihung, daß die Herren genötigt waren, Holzlöffelchen zu gebrauchen. Sie habe schon am frühen Morgen ihr gesamtes Silberzeug unter einem Kirschbaum im Garten vergraben, wobei ihr Mann sie mit unpassender Heiterkeit unterstützt und mehrere Nachbarn ängstlich zugesehen hätten. Schon seit zehn Tagen sei keine Zeitung mehr nach Neidlingen gekommen. Niemand wisse, wie es in Stuttgart stehe, seitdem die Franzosen den Kniebis erstürmt und über den Schwarzwald hereingebrochen seien, denn auf die Berichte, welche Hausierer und Metzgerknechte das Tal heraufbrächten, könne sich doch niemand verlassen. Es heiße, der Feind wüte schon in Herrenberg wie die Vandalen; die Österreicher und das ganze schwäbische Reichskontingent seien in vollem Rückzug, niemand wisse wohin. Der Herzog habe vergeblich versucht, für sein Land Frieden oder wenigstens einen Waffenstillstand zu schließen. Jedenfalls sei der Pfarrer vom benachbarten Owen schon gestern mit Sack und Pack nach Oberschwaben abgereist, habe Amt und Gemeinde Gott befohlen und seinem Vikar überlassen. Der, ein leichtsinniger junger Mensch, fordere die Bauern auf, sich mit Sensen und Dreschflegeln zu bewaffnen. Es wolle aber keiner. Sie meinen, es könne nicht schlechter werden, als es schon sei. –

Trotz alldem saßen sich Berblinger und der Pfarrer behaglich gegenüber, während die Pfarrerin den Kaffee einschenkte und erregt die Dorfgerüchte wiedergab. Beide hatten, wie es seit einiger Zeit schon Brauch geworden war, nach alter Studentenweise drei Fuß lange Tabakspfeifen im Mund und dampften gewaltig drauflos, ohne ein Wort zu sagen, bis die Hausfrau durch das mörderische Geschrei ihres Töchterchens, das Gefahr lief, von den feindlichen Raubritterbanden in Stücke gerissen zu werden, gezwungen war, dem Kampfplatz der Jugend zuzueilen und die Alten sich selbst zu überlassen.

»Da haben wir's, Berblinger!« sagte der Pfarrer, nachdem er mit der Pfeife zwischen den Zähnen bedächtig Feuer geschlagen und einen neuen Zunder auf den Tabak in dem Pfeifenkopf gedrückt hatte, den er kaum zu erreichen vermochte. »Da hast du's jetzt mit deinen Freiheitshelden! Keine Zeitung seit zehn Tagen; der Kollege von Owen auf der Flucht, der Herzog vermutlich außer Landes! Dafür Mord und Brand und, wer weiß, unser schönes Württemberg eine zweite Pfalz! Dieser Moreau, heißt es, sei ein Wüterich nach altem Rezept und ein feiner Soldat. Was die Reichstruppen wert sind, wissen wir.«

»Und das Reich dazu!« murrte Berblinger, zornig Rauchwolken in die Luft blasend. »Sie haben recht, die Bauern von Owen: Schlimmer kann's nicht werden.«

»Das solltest du nicht sagen, Schulmeister!« unterbrach ihn Fischer mit Wärme. »In den letzten Jahren des Herzogs Karl, seitdem wir sein eigenes durchlauchtigstes Sündenbekenntnis von den Kanzeln verlesen durften, war's erträglich genug, und der neue, unser allergnädigster Herzog Eugen Friedrich, meint es zum mindesten so gut als ein anderer. Er ist schon zu dick, um viel Böses zu tun.«

»Wenn er bestraft würde für das, was andere vor ihm gesündigt haben, ging's ihm nicht schlimmer als dem Franzosenkönig. Das gebe ich zu. Es ist unglaublich, wie kurz das Gedächtnis der Leute ist, sonderlich der Pastoren. Hast du's auch schon vergessen, wie der gute, bußfertige Herzog Karl gegen sein eigenes Volk gewütet hat; wie er das Land bis zum Verbluten schröpfte, wie er das alte Recht der Landschaft verdrehte zum Nichtwiedererkennen, wie er seine Landeskinder verschacherte an Franzosen und Holländer. Vergessen Moser und Schubart! ›Auf, auf, ihr Brüder, und seid stark!‹ auch schon vergessen! Habe ich selbst nicht laufen müssen wie ein gehetzter Hase?«

»Das steckt dir noch in den Gliedern, Berblinger. Es hat dir übrigens nichts geschadet, und ein christlicher Schulmeister sollte im Verzeihen nicht zu faul sein.«

»Ich spreche nicht vom Einzelnen«, fuhr Berblinger bitter fort. »Das sind Kleinigkeiten in dieser Welt voll Prunk und Elend. Das große Ganze ist verrottet und verfault von oben bis unten, sonderlich von oben, und ihr Pastoren gebt euch vergeblich Mühe, mit dem Mantel der christlichen Liebe zuzudecken, was bis zum Himmel stinkt. Verfault und verrottet! Dahin ist's gekommen im deutschen Reich, das kein Reich mehr ist, sondern eine zersetzte Leiche, in der sich die Würmer mästen.«

»Werde mir nur nicht poetisch! Denk an den Schubart. Es führt zu nichts Gutem –«

» Die Zeiten sind vorbei, seitdem sie drüben die Bastille gebrochen haben und mit ihren blutigen Fäusten an unsere Tür klopfen.«

»Naß von Königsblut; von heiligem Königsblut!« rief Fischer, jetzt auch zornig. »Das geht über meinen Witz. Sakrilegium! – Glaubst du noch an deinen Katechismus? Seid untertan der Obrigkeit –«

»Die Gewalt über euch hat«, unterbrach ihn der Schulmeister. »Paß mal auf! Vielleicht dauert es keine sechs Wochen mehr, so haben die Franzosen Gewalt über dich und mich, und das alte, bresthafte, vergrämte Reich stürzt zusammen, an dem wir seit Urväterzeiten gehangen haben.«

»Unmöglich! Mit seinen tausend Jahren, die es aufbauten!«

»Das dachten die Royalisten in Paris auch, und an ihren tausend Jahren sind sie zugrunde gegangen. Die Welt bewegt sich, Fischer, seitdem sie Gott geschaffen hat. Das Alte stirbt, in Ehren oder in Schande, aber es stirbt.«

»Und deine Jungen geben uns neues Leben! O Berblinger! Deine Sanskulottes und Jakobiner, dein Robespierre, der allen voran schon zur Hölle gefahren ist, deine Vernunftanbeter! Sie seien ja schon in Stuttgart. Wir werden sie kennenlernen, besser als uns lieb ist.«

»Und es wird Tag werden auch bei uns!« rief der Schulmeister. »Die Eulen und Fledermäuse und all das nächtliche Raubzeug, das dem Volk das Blut aussaugt, solange es schläft, wird noch eine Zeitlang kreischen zum Verzweifeln. Aber es wird zugrundegehen, wenn es Tag wird. Unser Herrgott braucht Geißeln und Skorpionen von wunderlicher Form, wenn er einmal zornig wird: einen Geiserich für das verrottete Rom, einen Moreau und Joubert mit ihren Sanskulottes für das verfaulte Reich. Die Menschheit geht nicht unter, Fischer; auch bei uns noch nicht. Nur was krank ist und vergiftet und halb tot, muß weg; mit dem Messer, wenn's nicht anders geht; selbst wenn es uns die Franzosen leihen müßten.«

»Du bist, kurz und bündig gesagt, ein Landesverräter«, rief der Pfarrer, »und kannst doppelt froh sein, dich in Ochsenwang verstecken zu können!«

»Die Zeit wird kommen, wo wir uns nicht verstecken werden, Fischer, wo sie uns holen werden, das Vaterland wieder aufzubauen. Ich weiß nicht, was mit mir heute ist, aber ich habe noch nie so deutlich gefühlt, daß ich ein Prophet bin; in aller Bescheidenheit sei dir's gesagt!«

»Gut, daß du nicht vergißt, die Bescheidenheit zu erwähnen. Du setzt mich übrigens nicht in Erstaunen. Ich sagt' es ja immer: Du bist ein großer Erfinder, Berblinger, und die Erfinder eurer gottvergessenen Neuzeit sind wohl Propheten. Wenn ich nur an dein Perpetuum mobile denke!«

»Sei mir still davon! Seit etlicher Zeit hört man selbst in Neidlingen die Räder der Weltgeschichte krachen, fern und dumpf, aber deutlich genug. Da hast du ein Perpetuum mobile, das man nicht zu erfinden braucht. Und selbst wenn es uns zermalmt – was tut's? Es bewegt sich; es bewegt sich vorwärts und nach oben.«

»So Gott will!« sagte der Pfarrer und dampfte etwas langsamer, was immer geschah, wenn ihm zu ernst zumut wurde.

»Berblinger«, fuhr er nach einer Pause fort, »du bist ein großes Kind, und ich vergesse den alten frommen Spruch nicht: Kinder und Narren sagen die Wahrheit. Wir wollen hoffen, daß uns unser Herrgott in Gnaden von deinen Weltbefreiern verschonen möge. Wenn sie aber kommen sollten, dann denk an mich. Ich bin auch so etwas wie ein Prophet, von Amts wegen, wenn auch einer von den kleinsten. Denk an mich und denk an Weib und Kind. Wie geht's der Frau Rosel?«

Sie sprachen ruhiger weiter, von häuslichen Dingen, von Hoffnungen und Sorgen, an denen es auch in Neidlingen nicht fehlte, der Pfarrer in seiner gewohnten christlichen Sperlingsstimmung, wie er es nannte, die auch in den gewagtesten Streichen seiner fünf Jungen den guten Kern herausfand oder wenigstens eine Zulassung des Herrn erkannte, Berblinger, wieder stiller werdend, mit ungewohnter Weichheit. Er erzählte, wie tapfer seine Frau sich durch die Not des letzten Winters hindurchgekämpft habe, der diesmal besonders hart und lang gewesen war, und wie er sich danach sehne, das Eis schmelzen zu sehen, das sich seit Jahren immer höher und kälter zwischen die beiden Eheleute geschoben habe.

»Dummheiten!« rief der Pfarrer. »Du nimmst das Maul voll genug, wenn du von deinen französischen Freiheitshelden perorierst. Kannst du nicht auch vor deine Frau hinstehen und den Mund auftun? Das ist alles, was ihr braucht. Du bist eben ein Schwab! Ein Demosthenes, wenn niemand um den Weg ist, stumm wie ein Fisch, wo du reden solltest. Geh hinauf nach deinem Ochsenwang, bilde dir ein, sie sei die Göttin der Vernunft –«

»Das ist nicht möglich«, seufzte Berblinger.

»Unsinn! Du bildest dir Unmöglicheres genug ein! – Sink vor ihr auf die Knie, wie vor vierzehn Jahren zu Ulm hinter der Adlerbastei – du kannst meinethalben auch stehen bleiben – und spreche also: Liebe Rosel, der Pfarrer von Neidlingen versichert mir, daß wir große Narren seien; ich der größere, wie sich's für deinen Eheherrn geziemt. Wir sind und bleiben arm; aber wir könnten glücklich sein. Merkst du noch immer nicht, daß ich es so gerne sein möchte? Dann stehst du auf – oder –«

Fischer stockte. Ein ungewohntes Geräusch unterbrach die Stille im Pfarrgarten: Hufschläge eines Pferdes, das in wildem Galopp die Dorfstraße heraufjagte. Auch hörte man vom fernen Ende des Dorfes einzelne Rufe.

»Das gehört nicht ins Programm«, sagte der Pfarrer unruhig, seine Pfeife weglegend.

»Ein durchgegangenes Pferd«, meinte Berblinger aufspringend.

»Ein Feuerreiter!« rief der Pfarrer und eilte nach dem Haus. Man hörte in der Tat den Schreckensruf: Feuerjo! zwei-, dreimal entlang der Dorfstraße.

Die Pfarrerin stand schon vom unter der Haustür, bleich und sichtlich zitternd.

»Sagt' ich's doch!« flüsterte sie ihrem Mann zu. »Wären wir der Pfarrerin von Owen gefolgt! Die sind jetzt in Sicherheit. – Um Gottes willen, wo sind die Kinder?«

Sieben Mann hoch standen sie, das Mädchen voran, schon auf der anderen Seite des Weges, wo vor dem Haus des Schulzen ein Bauernbursche von seinem schweren ungesattelten Ackerpferd abgesprungen war. Man suchte den würdigen Amtsvorsteher, der Kirschen pflückend auf einem Baum saß und fluchend herunterkam. Von allen Seiten liefen jetzt die Leute zusammen; Weiber laut jammernd, ehe sie wußten, warum; junges Volk schon halb vergnügt über die willkommene Aufregung, sobald es sah, daß nirgends ein Strohdach aufflammte: Was gibt's? Des Schulzen Peter von Weilheim! Wo brennt's? Was bringt er?

Das verwirrte Fragen brachte nichts Vernünftiges aus dem halbwüchsigen Menschen heraus, der mit offenem Mund dastand und sich den Schweiß von der Stirn trocknete. Nun nahm ihn der Pfarrer ins Gebet. Erst aber nachdem man ihm einen Krug Apfelmost gebracht hatte, kam langsam und stoßweise heraus, weshalb er hier sei und nach Münsingen weiterreisen müsse, so schnell ihn der Gaul trage. Der nächste Weg durchs Lenninger Tal sei schon verlegt.

In Stuttgart wimmle es von fünftausend oder fünfzigtausend Franzosen; genau wisse er das nicht mehr. Der Moreau habe die Stadt schon seit Freitag in der Gewalt und verlange fünfzigtausend oder fünftausend Gulden – genau wisse er auch das nicht mehr –, sonst lasse er seine Soldaten plündern. »Sie nehmen einem das Bett unter dem Leib weg«, erklärte der Bursche den Weibern, die ihn von hinten bedrängten. Vorgestern sei eine mörderische Schlacht bei Cannstatt geschlagen worden. Auf der Neckarbrücke. Unsere Freunde, die Österreicher, hätten sich gewehrt wie die Löwen; aber es habe nichts geholfen. Die Franzosen seien wie Teufel, nicht wie Christenmenschen drauflosgegangen und hätten den Unsern keine Zeit zum Laden gelassen. Gestern seien sie in Eilmärschen das Neckartal heraufgekommen. Das Hauptkorps stehe bei Plochingen. Einzelne Trüpplein seien aber auch schon in Kirchheim und weiter herauf gesehen worden; man sei nirgends mehr seines Lebens sicher. Man glaube, sie wollen über die Alb nach der Donau, wo vom Schwarzwald und Tuttlingen her eine andere französische Armee vordringe. Er sei beauftragt, den Amtmann von Münsingen und den von Blaubeuren zu warnen, wenn die Franzosen nicht vor ihm ankämen. Die Herren sollen die Kameralamtskassen salvieren, was auch in Kirchheim noch rechtzeitig gelungen sei.

Damit kletterte er wieder auf sein Pferd, schob es im Schritt durch den Haufen der entsetzt gaffenden Bauern und trabte davon.

Der Pfarrer und Berblinger sahen sich an, während sie nach dem Haus zurückgingen.

»Nun hast du deine Volksbeglücker hier«, sagte der erstere, nicht ohne eine gewisse Bitterkeit.

»Ich bin nur froh, daß das Silberzeug vergraben ist«, seufzte die Pfarrerin.

»Dafür haben ich und meine Rosel nicht zu sorgen«, lachte der Schulmeister, den die Erregung heiter gestimmt hatte. »Warten wir's ab, Fischer. Natürlich: es gibt zerschlagene Eier, wenn man Pfannkuchen backt. Aber die Schulmeisterei zu Ochsenwang wird demnächst am Nagel hängen.«

»So Gott will!« rief der Pfarrer. »Mach jetzt daß du heimkommst und deine Siebensachen zusammenpackst, ehe sich deine neuen Brüder drein teilen.«

»Auf Wiedersehen also, an einem ruhigeren Tag!«

»So Gott will, so Gott will!« sagte der Pfarrer noch einmal. »Vergiß deine Pfeife nicht!«

Damit trennten sie sich. Brechtle, der sehr aufgeregt war, hatte sich fast ängstlich an seinen Vater geschmiegt, nahm jetzt seine Hand und zog ihn förmlich vorwärts, obgleich Berblinger tüchtig ausschritt. Er war still und achtete kaum auf das Geplauder des Kleinen, der mit wunderlichen Kreuz- und Querfragen dem Rätsel auf den Grund zu kommen suchte: wie die Feinde auch unsere Freunde sein könnten. Etwas wirr gingen auch seinem Vater die Gedanken durch den Kopf: Es war nicht seine Sache, der Weltgeschichte in die Speichen zu greifen, die jetzt so furchtbar nahe an ihnen vorüberbrauste. Mit Rosel aber und ihm sollte es anders werden. Harte Zeiten standen vermutlich vor der Tür. Er wollte sie durchkämpfen, den Kopf hoch, die Augen offen, den Arm um sein Weib und seinen Jungen. Wie ein Mann, nicht wie ein Träumer. Dann, was auch sonst kommen mochte, würden sie auch ihm Freiheit und einen Teil von dem Glück bringen, auf das die Welt wartete und das ihr Gott im Himmel so lange vorenthalten hatte. Die neue Zeit regte sich in deutschen Köpfen anders als in den tollen, blutlechzenden Haufen der ›enfants de la patrie‹, die über den Rhein geströmt kamen.

Schon nach einer kleinen Stunde hatten sie die Kante des Gebirges erreicht. Noch einmal warf Berblinger einen Blick über die herrliche Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete: die Dörfchen im grünen Hügelland, so weit das Auge reichte, die stolzen, felsgekrönten Spitzen in nächster Nähe, das weite deutsche Land, über das der kaiserliche Staufen sein ernstes kahles Haupt erhob.

»Brechtle!« sagte der Vater nach einer langen Pause, »du brauchst es noch nicht zu verstehen. Dein und mein Feind sind sie nicht, die Franzosen, wenn sie uns heute auch an den Kragen gehen. Aber vergiß nie: was wir da unten sehen und dort drüben und so weit das Auge reicht: das ist deutsches Land und soll es bleiben in Zeit und Ewigkeit.«

»Amen!« sagte Brechtle, der wußte, daß ein Schulgebet mit ›Zeit und Ewigkeit‹ aufhört und daß man dann ›Amen‹ zu sagen hatte. Dann gingen sie weiter, dem Dorf zu.

Kaum hatten sie den Waldsaum hinter sich, als ihnen die alte Kätter mit ihrer Tochter begegnete, die der Huppelbauer heiraten sollte, beide keuchend unter zwei großen Bündeln, welche aus Betten und verschiedenem Hausgerät zu bestehen schienen. Die alte Kätter heulte laut, als sie den Schulmeister sah. »Sie sind da! Sie sind da!« schrie sie ihm entgegen. »Wir gehen nach Neidlingen, wenn wir nicht im Wald liegen bleiben. Alles ist besser als die Franzosen, davon weiß ein altes Weib zu erzählen. Wenigstens haben wir Berbeles neues Bett gerettet. Lauf, Berbele, lauf!« Damit verschwand das Paar im Buschwerk.

Dann kam der Aldinger Jakob, schwerfällig hinkend, wie immer, und trieb eine Kuh vor sich her. »Beim Stadelbauer haben sie schon den Stall ausgeleert«, berichtete er, stotternd vor Angst. »Willst laufen, Rindvieh, verfluchtiges!« Dabei schlug er mit aller Macht auf das magere Tier los, das plötzlich stillstand, wie aus Holz, und laut zu brüllen begann.

»Wieviel sind's?« fragte Berblinger.

»An die dreißig, schätz' ich. Reiter. Sind alle abgestiegen, laufen von Stall zu Stall. Willst laufen, Sakermentsvieh, dummes! merkst nicht, daß der Franzos hinter dir her ist?«

Berblinger lief jetzt auch. Vom Bühl herunter sahen sie drei Knechte mit Gabeln und Dreschflegeln ebenfalls dem Dorf zu rennen. Die waren wenigstens noch nicht auf der Flucht. Jetzt rannte auch der Lehrer, daß ihm Brechtle kaum folgen konnte.

Vor dem Pfarrhaus standen vier gesattelte Pferde, mit Gegenständen aller Art wunderlich behängt. Hinter der Scheuer des Stadelbauers hörte er unverständliches Rufen und Fluchen. Eine unheimliche Angst hatte ihn gepackt. In Sprüngen lief er am Ziehbrunnen vorbei, neben dem des Stadelbauers Knecht auf dem Boden lag, ohne sich zu rühren. Jetzt war er um die Ecke. Die Tür des Schulhauses stand offen. Hinein! In der Wohnstube fand er niemand; aber es waren Leute dagewesen. Auf dem Tisch standen vier halbgefüllte Gläser; ein fünftes und der Krug lagen zerbrochen auf der Diele. Hier hatten sie gezecht. Aber wo war sie? Wo war seine Frau? Er starrte entsetzt ins Leere. Da hörte er einen Schrei und jetzt noch einen. Im Gärtchen. Hinaus! Mitten im Blumenbeet vor dem Holzschuppen standen drei Soldaten in zerlumpter Uniform, die eher entsprungenen Zuchthäuslern glichen, höhnisch einem vierten Mut zurufend. Dieser, ein großer Bengel mit braunrotem Gesicht und einem gewaltigen Schnurrbart, hielt Rosel mit beiden Händen an den Armen und drückte sie gegen die Wand des Schuppens.

»Franz!« schrie die Frau. Es war ein Jubelschrei.

Er hörte nichts weiter. Mit einem Satz war er über die Beete weg. Im Sprung hatte er den Pfahl eines Rosenstocks ausgerissen, und ein krachender Schlag sauste auf den Schädel des Soldaten. Sein Tschako kollerte auf die Erde, ein Teil des Pfahls flog durch die Luft. Der Mann taumelte und wandte sich wie trunken gegen seinen Gegner. Ein Blutstrom schoß ihm über ein Auge und die rechte Wange, aber mit einem ›Mille tonnerres‹ riß er den Säbel aus der Scheide, stürzte sich wie eine Katze auf Berblinger und schlug ihm den erhobenen Pfahlstumpf aus der Hand. Ehe er jedoch zum zweiten Hieb ausholen konnte, hatte ihn Berblinger an der Kehle. Sie taumelten ringend hin und her, die Blumenbeete zerstampfend. Das Gesicht des Franzosen wurde blau, seine Augen schienen aus dem Kopf zu treten. Einen Augenblick noch und er mußte zusammenbrechen. Aber auch Berblinger fühlte seine Rippen krachen, und wie von Sinnen schrie Rosel um Hilfe. Und Hilfe kam. Vier, fünf Bauernburschen, mit Sensen und Dreschflegeln bewaffnet, suchten durch die dichte Gartenhecke zu brechen, die sie vom Kampfplatz trennte. Es war keine Zeit für den Umweg durchs Haus, und der erste Schreck war vorüber. Das Raufen Mann gegen Mann war den Leuten nichts Entsetzliches. »Donnerwetter! Ein Schwab ist so gut als ein Franzos!« schrie einer. Das wirkte. Die Hecke gab nach. »Haut sie! Haut sie!«

Da knallte ein Schuß.

Den Knall hörte Berblinger nicht. Dagegen hörte er, wie das Herz des Franzosen gegen seine eigene Brust klopfte. Sie hatten sich eine halbe Minute lang, alle Muskeln angespannt, in wütender Umklammerung fast regungslos gegenüber gestanden. Er fühlte den heißen Atem des Erstickenden in seinem Gesicht und das warme blutige Naß an seinen Fingern, mit der wilden Freude des Siegers und einem tollen Gedankenblitz: »Brüderlichkeit!« Gleichzeitig fühlte er einen scharfen Stich im Rücken und dann einen erstickenden Schmerz in der Brust. Seine Hände verloren ihren Halt. Er warf die Arme nach oben und stürzte rückwärts zu Boden, der Soldat schwer und hilflos über ihn.

Mit einem Kampfgeheul, halb Schrecken, halb Wut, wie es die alten Deutschen ausgestoßen haben mögen, wenn sie sich auf einen Römer warfen, hatten im selben Augenblick die Bauernburschen den Gartenzaun durchbrochen. Eine Minute lang war alles ein häßlicher Knäuel: wildes Fluchen, keuchendes Stöhnen, dumpfe, unsichere Schläge. Dann entwirrte sich die Masse. Die Burschen sahen sich an, in dummer Wut, bereit, alles zu zerschlagen, was sich ihnen in den Weg stellte. Allein nichts stand ihnen im Weg. Einer hatte eine furchtbare Beule über der Stirne, ein anderer untersuchte seinen blutenden Arm. Die Franzosen waren verschwunden; wie weggeblasen. Einige Augenblicke später hörte man den Galopp ihrer Pferde die Dorfstraße hinunter.

Auf dem Boden lag Berblinger mit zurückgesunkenem Kopf, die Augen weit offen, regungslos. Über seine Brust hatte sich Brechtle geworfen, laut schluchzend, seine kleinen Hände verzweifelnd auf die Wunde drückend, aus der sich unter dem zerfetzten Hemd stoßweise ein rieselnder Strom von Blut ergoß. Die Kugel, aus nächster Nähe abgeschossen, hatte den starken Körper völlig durchbohrt. Helft, helft! schluchzte das Kind und drückte mit aller Macht auf die klaffende Schußwunde. Berblinger zuckte noch einmal, bewegte den Arm, wie wenn er nach einer Hand suchte. Aber er fand sie nicht mehr.

Rosel, die während des Handgemenges stillgestanden war wie im Traum, unfähig ein Glied zu rühren, hatte die Bewegung bemerkt, stürzte auf den Daliegenden, warf sich auf die Knie, faßte die Hand und küßte sie in wildem Schmerz. Mußten sie sich so wiederfinden? Das Perpetuum mobile hinter der Schuppenwand, gegen die sie ihn jetzt lehnten, stand still für immer. Aber auch er war tot.

Schon am frühen Morgen des folgenden Tages kam Fischer von Neidlingen herauf. Der achtzigjährige Pfarrer von Ochsenwang lag krank zu Bett. Der gestrige Tag war auch für ihn zu viel gewesen. Fischer sorgte für die Beerdigung seines Freundes, der in dem schlichtesten Sarg, welcher selbst zu Ochsenwang je gezimmert worden war, schon am Nachmittag begraben wurde. Man mußte sich beeilen, denn man erwartete stündlich neue Banden französischer Soldaten, vielleicht gar eine Strafexpedition gegen das Dorf, in dem den vier Marodeuren übel mitgespielt worden war. Überall rüsteten sich denn auch die Leute zur Flucht, sie wußten nicht wohin; zunächst in die Wälder und Felslöcher an den Bergabhängen der Alb, deren Zugänglichkeit und Bewohnbarkeit für Menschen und Vieh eifrig besprochen wurde. Es war unnötig. Der Hauptteil der französischen Armee zog durchs Lenninger Tal und dachte nicht an Ochsenwang, und die guten Ochsenwanger, die keine Gnade vom Feind erwarteten, ahnten nicht, daß sie nur von vier verkommenen Schnapphähnen erschreckt worden waren, die im Gefolge der damaligen Kriegsheere wie von jeher ihr häßliches Räuberhandwerk trieben.

Brechtle mußte mit Gewalt vom Grab seines Vaters weggeschleppt werden. Der Neidlinger Pfarrer hatte mit Müh und Not einen Bauern aus seinem eigenen Ort mitgebracht, wo sie ihm um einen Kronentaler durch Feuer und Wasser gingen, der bereit war, die Frau Schulmeisterin und den Jungen in der Nacht nach Blaubeuren zu führen. Von dort konnten sie wohl ohne Schwierigkeit nach Ulm kommen. Frau Berblinger war damit einverstanden, weil ihr für den Augenblick gleichgültig war, was mit ihr geschah. Fischer hätte sie am liebsten selbst begleitet, wenn er in solchen Tagen seine Familie und seine Pfarrei hätte verlassen können. So tat er, was ein treuer Freund dem Toten schuldig war, half der Frau ein paar Habseligkeiten auf das Wägelchen packen und wünschte ihr in der Abenddämmerung des Tages, der wie ein Traum an ihr vorübergegangen war, Gottes Schutz auf ihrer Flucht nach der alten Vaterstadt.

Weinend saßen die beiden, Mutter und Kind, auf dem kleinen offenen Fuhrwerk, das durch die mondhelle Sommernacht über die fast kahle, schweigende Hochebene hinschlich, bis Brechtle auf dem Strohbündel, auf dem sie saßen, in tiefen Schlaf versank. Dann blickte seine Mutter, lauter schluchzend, zu den Sternen empor, die ruhig und freundlich wie immer auf das Elend der Menschen herabsahen. »Über den Sternen!« flüsterte sie wer weiß wie oft in jener langen Nacht, und wie leiser Trost zog es durch ihr wundes Herz. Sie glaubten damals noch, trotz allem Jammer, der hinter ihnen lag, trotz allem Elend, dem sie entgegengingen, und zweifelten nicht.

Als Brechtle in der Morgendämmerung vom Knirschen des gesperrten Rades erwachte, während sie die Steige bei Blaubeuren hinabfuhren, war alles um ihn her fremd und neu. Ein dumpfes Leid, eine schwere Last lag auf seinem kleinen Herzen, die er nie zuvor empfunden hatte, ein Druck von etwas unsäglich Traurigem. Erst dachte er an seinen Vater, der nun im Himmel war bei den Schwesterchen und wohl nicht lange auf seine Flügel warten werde. Doch das war's nicht. Dann glaubte er, es sei Hunger. Er wußte natürlich noch nicht, daß die glückliche Zeit seiner Kindheit, die glücklichste seines Lebens, gestern begraben worden war. Das war's.


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