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Zweiter Teil

Klosterschüler

7. Ikarus im Landexamen

Diesmal also, beim dritten- und letztenmal, war es gelungen; nicht ohne schwere Mühe, die dem guten Krummacher manche schlaflose Nacht gekostet, Brechtle dünn und bleich gemacht hatte, und fast wider Erwarten. »Nein, ganz wider Erwarten und sichtlich nur mit Gottes Hilfe!« murmelte der Pestilenziarius, indem er den soeben gelesenen Brief sorgfältig zusammenfaltete und mit feuchten, aber leuchtenden Augen durch die Butzenscheiben seines Stübchens auf den Münsterplatz hinausstarrte. An seinem inneren Auge aber ließ er vorübergehen, was in den letzten drei Jahren zur schweren Schädigung der Chronika des Münsterbaues sein stilles Leben ausgefüllt hatte. Nun war Brechtle versorgt und aufgehoben!

Vor einer Stunde war ihm das gewichtige Handschreiben seines würdigen Stuttgarter Freundes, des Konsistorialratsskribenten Dächle, überreicht worden, das mit dem herzoglich württembergischen Amtssigill und der Bezeichnung citissime versehen, nur drei Tage gebraucht hatte, um von Stuttgart bis Ulm in die Hände des Adressaten zu gelangen. Diese Freundschaft war neueren Datums. Die sechs Gulden, mit denen Onkel Schwarzmann den Pestilenziarius und seinen Neffen ausstattete, wenn die Tage des Landexamens herannahten, waren kaum ausreichend, um die in den laufenden Kriegszeiten kostspielige und schwierige Reise zu bestreiten, geschweige denn in der geistlichen Herberge bei der Stiftskirche zu Stuttgart abzusteigen, wo die Schar halb ängstlich, halb fröhlich dreinschauender ›pastores‹ Unterkunft zu suchen pflegten, deren ›filii‹ der Prüfung entgegensahen, die über ihr Lebensschicksal entscheiden sollte. Die Jungen selbst wurden fast ausnahmslos von den Präzeptoren ihrer Lateinschulen begleitet und gehütet, sahen aber trotzdem nicht weniger bange den kommenden schweren Stunden entgegen. Keiner der Lehrer des Gymnasiums zu Ulm fühlte sich jedoch verpflichtet oder selbst berechtigt, dem kleinen Berblinger in dieser Weise zur Seite zu stehen, den sie, so gut wie die Württemberger, als einen halben Ausländer ansahen. So blieb dem wackeren Krummacher nichts übrig, als diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Sie wurde ihm in etwa erleichtert, nachdem er schon bei der ersten Fahrt vor zwei Jahren den Herrn Konsistorialratsskribenten aufgefunden, bei dem sie um zwölf Kreuzer den Tag Wohnung und reichliche Atzung erhielten. Nur die Unterbringung des Pferdes machte einige Schwierigkeiten, da Herr Dächle im vierten Stock eines Hauses in der Schulgasse wohnte. Dächles Frau aber, eine entfernte Verwandte der Schwarzmann, war eine entschlossene Ulmerin und wußte für alles Rat. So waren die drei, der Pestilenziarius, Brechtle und der sehr erschöpfte Gaul, auf dem sie abwechslungsweise reitend die griechischen unregelmäßigen Verben zum letztenmal durchgenommen und Stuttgart glücklich erreicht hatten, schon bei ihrem ersten Besuch der großen fremden Stadt nicht ganz verlassen und brauchten auch beim zweiten und dritten Landexamen wenigstens um des Leibes Nahrung und Notdurft nicht allzusehr sorgen. Magister Krummacher legte hierfür eine rührende Dankbarkeit an den Tag, denn er war des Reisens nicht gewohnt; auch berührte es ihn angenehm, daß er in diesem Haus dem peinlichen Lächeln nicht begegnete, das er anderwärts bemerken mußte, wenn er seines Amtes und Titels Erwähnung tat. Frau Regina wußte, daß die Pestilenziarii in ihrer Vaterstadt ein paar Jahrhunderte lang eine würdige und angesehene Stellung eingenommen hatten, und erklärte es ihrem Mann in einer Weise, die jede unpassende Heiterkeit ausschloß. Trotzdem zählten diese Fahrten zum Landexamen sorgenvolle Stunden genug, sonderlich die dritte. Hatten sie sich doch diesmal durch das fremde Kriegsvolk des Generals Moreau, der wieder einmal auf Ulm loszog, förmlich durchschleichen müssen und waren zweimal – zu Alpirsbach und kurz vor Esslingen – angehalten und für kaiserliche Spione angesehen worden. Auch wäre es ihnen sicherlich übel ergangen, hätte nicht Brechtles harmloses Gesicht und das sichtliche Zittern des Pestilenziarius, der befürchten mußte, zum Landexamen zu spät einzutreffen, und sich durch das Vorlegen einer griechischen Grammatik zu legitimieren versuchte, ihre Unschuld dargetan.

Vor äußeren Gefahren für Leib und Leben waren sie zu Stuttgart allerdings geborgen. Denn obgleich die Stadt sozusagen in Feindes Hand war, gingen doch die wichtigsten Staatsangelegenheiten, zu denen die Württemberger immerhin auch das Landexamen zu rechnen pflegen, ihren gewohnten Gang. Der Konsistorialratsskribent und seine Frau interessierten sich in liebevoller Weise für das Schicksal ihrer Gäste und hatten ihren Kummer geteilt, als der Skribent das Ergebnis der beiden ersten Prüfungen aus den unerbittlichen Akten des hohen Konstistorii entnehmen und dem Herrn Rat und Zunftmeister Schwarzmann zu Ulm amtlich mitteilen mußte. Diesmal, das dritte und entscheidende Mal, hatte er sich vierzehn Tage vor der Zeit an einen ähnlichen, nicht amtlichen und ganz anders lautenden Bericht gemacht und den Brief heimlich unter Amtssiegel postfrei, wenn auch nicht ohne erkleckliche Bedenken abgehen lassen. Das Schreiben aber lautete also:

Hochwürdiger Herr Pestilenziarius und lieber Herr Vetter!

Viktoria! Viktoria!

(Eine halbe Stunde war nicht zu viel, diese beiden Eingangsworte mit dem gebührenden kalligraphischen Schmuck zu versehen; eine Kunst, in der Dächle Hervorragendes leistete.)

Der Sieg ist unser! Ludwig Albrecht Berblinger aus Ulm, Eurer Hochwürden Schützling und mein würdiger kleiner Freund, hat alle impedimenta überwunden und ist als alumnus in das herzoglich württembergische Seminar zu Blaubeuren rite aufgenommen, hiermit aber nach menschlichem Ermessen für dieses irdische Dasein geborgen. Es ist dies zwar zur Zeit noch das tiefste Amtsgeheimnis, von dem nur ich und die Herren Konsistorialräte Kenntnis haben; allein bis mein Viktoria nach Ulm dringen dürfte, wird unsers kleinen studiosi großer Sieg urbi et orbi bekannt sein, womit ich die Skrupel meines amtlichen Gewissens hinlänglich zu beschwichtigen hoffe. Dagegen bitte ich das Folgende für alle Zeiten als ein nicht zu enthüllendes arcanum zu behandeln: Unter den dreißig glücklich bestandenen competitores hat es unser Berblinger zum neunundzwanzigsten gebracht. Es ist dies immerhin besser, als wenn er der dreißigste geworden wäre. Gratulor, gratulor!

Wir müssen dieses hochdelektable Resultat specialiter als eine Fügung der Providenz ansehen, ohne welche unser lieber Brechtle zweifellos einen abermaligen Durchfall erlitten. Nun mußte aber der neue Herr Konsistorialrat Griesinger ein Thema für das lateinische extempore erwählen, das sicherlich niemand vorauszusehen vermochte, nämlich die descriptio des sogenannten Luftballons Montgolfierii, von dem neuerdings wieder manchfach die Rede gewesen, sintemal ein solcher vor Seiner Durchlaucht unserm allergnädigsten Herrn Herzog auf dem Cannstatter Wasen aufgestiegen und bei Häslach elendiglich in den Bäumen hängengeblieben ist, wobei der leichtfertige Luftschiffer gebührendermaßen ein Bein gebrochen. Nachdem nun unser Berblinger die verlangte Deskription zwar keineswegs fehlerlos, aber in verwunderlich korrekter Weise angefertigt und mit manchfachen selbständigen Zutaten und phrases versehen, fügte er einige Verse in lateinischer, griechischer, ja selbst in allerdings unnötiger Weise teutscher Sprache hinzu, in denen der Ruhm des allbekannten Ikari besungen war, welche Verse bei den Herren Examinatoren ungewöhnliches Erstaunen hervorriefen. Denn es war unerfindlich, welchem Klassiker oder sonstiger Auktorität besagte Verse entnommen, so daß die Vermutung nicht schlechterdings ausgeschlossen war, daß dieselben dem eigenen Gehirn des Examinanden entsprungen sein mögen. Hiernach war der Schluß zulässig, daß der junge Berblinger mit einer ungewöhnlichen poetischen Ader begabt sein dürfte, was überdies die zahlreichen grammatikalischen Freiheiten, ja Unrichtigkeiten wenn nicht entschuldigte, so doch erklärte. Ein solches ingenium sei trotzdem im künftigen geistlichen Beruf nicht ganz zu verwerfen, obwohl die Herren Konsistorialräte sich in erregtem Disput hierüber nicht zu einigen vermochten. Der Herr Konsistorialratspräsident von Huber dagegen vermeinte, der junge candidatus und Poetaster werde sich seine Ikarusflügel in Blaubeuren schon verbrennen und sei deshalb ein Versuch mit ihm wohl zulässig, worauf die anderen Herren ihre oppositio geziemend einstellten. Ich aber glaube, nachdem ich noch gestern abend die teutsche versio des mehrerwähnten Poems sorgfältig kopieret und zum Schluß zu Eurer Hochwürden delectatio beifüge, daß unser Berblinger noch zu großen Dingen bestimmt ist. Denn die gütige Vorsehung hat noch nie einem Landexaminanden in so augenfälliger Weise beigestanden und tut solches nicht ohne Ziel und Zweck, wofür wir nicht genug dankbar sein können.

Indem ich samt meiner Ehefrau Regina Euer Hochwürden und unseren Brechtle aufs herzlichste begrüße, bleibe ich für alle Zeiten dero gehorsamster Freund und Diener

Konrad Dächle,
herzoglich württembergischer Konsistorialratsskribent erster Klasse.

Postscriptum. Die noch restierenden 48 Kreuzer für Bestellung und Futter von dero Pferd sind mir gestern unabzüglich in versiegeltem Postpaket zugegangen, was wir in diesen Kriegszeiten ebenfalls als ein halbes Wunder ansehen müssen; wofür ich gehorsamst danke. Das schöne Gedicht aber, das der candidatus Berblinger dem Luftballon Montgolfierii beigefügt, lautet:

Es flog der Ikarus mit selbsterfundnen Schwingen
Er wollte hohen Muts bis auf zur Sonne dringen.
Er fiel und brach den Hals durch Götter Hinterlist,
Doch ewig ist sein Ruhm, weil er geflogen ist.
Drum spotte seiner nicht, so es ihm übel geht,
O Mensch, wenn wiederum ein Ikarus ersteht.

Krummacher entfaltete das Papier aufs neue, schüttelte den Kopf halb lachend, halb ärgerlich und las die Verse zum drittenmal. Zweieinhalb Jahre harter Arbeit hatten also dem Buben den Unsinn nicht aus dem Kopf getrieben, der mit jenem ersten Besuch beim Türmer Lombard zum Ausbruch gekommen war. Seit jenem verhängnisvollen Abend hatte der Pestilenziarius nicht aufgehört, bald mit milden, bald mit strengen Mitteln gegen die Verrücktheit des Jungen anzukämpfen, der sich's nicht nehmen lassen wollte, von Zeit zu Zeit den Münsterturm zu erklettern und seinem Freund einen verstohlenen Besuch abzustatten. Oft und inständig hatte Krummacher den Türmer gebeten, den Kleinen mit Schimpf und Schande fortzujagen; aber auch jener ließ nicht mit sich reden. Stundenlang saß das ungleiche Paar beisammen vor dem Wächterstübchen oder wie Eulen in einer versteckten Nische des Gemäuers, während der Alte die Werke aufzählte, welche die Menschen im Lauf der Jahrhunderte geschaffen haben: die Pyramiden Ägyptens, die Kanäle Mesopotamiens, die Tempel und Denkmäler der Griechen, die Paläste, die Straßen und Brücken der Römer. Dann kam er wohl auch auf die Wunder, die Kolumbus in Amerika entdeckt hat, auf die Geheimnisse der Südsee, des heißen Afrikas und des eisigen Nordpols, wo zur Zeit noch kühne Forscher versuchten, den Schleier zu heben, der ein Stück unsrer Erde bedeckte. Ganz besonders beredt aber wurde der Turmwart, der alles zu wissen schien, und mit leuchtenden Blicken hing Brechtle an seinen Lippen, wenn er von Dingen sprach, die in neuester Zeit die Welt bewegten: von der elektrischen Maschine, mit der man blitzen konnte, wenn auch nur im kleinen, von den Feuermaschinen, in denen Holz und Steinkohle für uns arbeiten mußten wie ein Hund oder ein Esel an einem Tretrad, nur gewaltiger; so gewaltig, daß sich der Mensch schwer eine Vorstellung davon machen könne, obgleich er selbst mit eigenen Händen die Riesen in die Welt gestellt habe und sie mit dem Druck eines Fingers in Bewegung setze und zum Stillstehen bringe. Wenn sie dann darauf zu sprechen kamen, was die Zukunft bringen müsse, zitterte Brechtle vor Freude, und der Türmer bedauerte wehmütig, daß er nicht Brechtle sei, um das alles zu sehen und miterleben zu können. Es waren die wunderlichsten Zwiegespräche, die im alten Ulm je geführt worden waren, und das wunderlichste Paar, das sie führte. Dafür sahen sie auch hoch über Ulm hinweg und hatten nichts über sich als den ewigen Sternenhimmel, meinte der Türmer in seiner träumerischen Weise, bei der es Brechtle ganz andächtig zumute wurde.

Das Unglück aber war, wie der Pestilenziarius bemerkte, daß jeder dieser verstohlenen Besuche den Jungen für eine Woche und auf länger geistig zugrunde richtete. Nichts, was ihm der gute Magister eintrichterte, wollte dann mehr haften. Im Gymnasium glitt er katastrophenartig aus einer erträglichen Mittellage an das Ende seiner Klasse. Selbst unter dem Stock des Präzeptors dachte der Junge an die künftige Möglichkeit des Entfliegens; denn Fliegen erschien ihm in den verschiedensten Lagen, auf der verhaßten Schulbank wie auf dem ersehnten Gipfel des Münsterturmes, das Ideal des Erreichbaren. Würde der Herr Präzeptor Augen machen, wenn sein Opfer plötzlich unter dem unangenehmen Bakel hinweg und davonschwebte!

Dem gutherzigen Krummacher sagten die Gewaltmaßregeln der Lateinschule nicht zu. Dafür hatte er Brechtle viel zu lieb. Er suchte deshalb durch andere Strafmittel auf ihn zu wirken. So oft er entdeckte, daß sich der Taugenichts wieder auf den Münsterturm geschlichen hatte, ein Verbrechen, das sich durch erhöhte Zerstreutheit sofort selbst anzeigte, wurden lange Strafarbeiten vorgenommen und als Grundlage derselben die Geschichte von Dädalus und Ikarus gewählt, die in lateinischen Versen, in griechischen Perioden und von allen erdenklichen Gesichtspunkten aus bearbeitet wurde. Brechtle sollte diese beiden Heiden und was sich ihrem Geist näherte, hassen lernen wie Gift. Da war vor allem eine glänzende, mit ciceronianischer Wendung reich geschmückte Periode, die Krummacher selbst aufgebaut hatte, zu memorieren und wieder und wieder abzuschreiben. Sie lautete, in elegantes Deutsch übertragen, wie folgt:

Nachdem Ikarus, verführt durch seines Herzens Ehrgeiz und den beobachteten Flug eines Adlers sowie unterstützt von seinem erfindungsreichen Vater Dädalus sowohl sich selbst als auch seinem Erzeuger je ein Paar künstliche Flügel aus den Federn der Gans und dem klebrigen, jedoch in der Kälte erstarrenden Wachs der Bienen hergestellt, sich mit denselben sodann vom Erdboden erhoben und der Sonne zu nahe gekommen war, schmolz der erzürnte Gott Phöbus das die Federn zusammenhaltende Wachs, so daß der leichtfertige Ikarus samt seinem betagten Vater Dädalus zur Warnung des Griechenvolkes und aller derer, welche der göttlichen Ordnung widerstrebend sich über die dem Menschen bestimmte Grenze zu erheben getrauen, zu Boden stürzte und elendiglich verstarb.

Fünfzigmal den Namen des unglückseligen Ikarus auf hebräisch zu schreiben war die letzte Bußübung, mit der Brechtle drei Wochen vor dem dritten Landexamen leise schluchzend einen herrlichen Samstagnachmittag im trübseligen Häuschen des Magisters verbrachte. Ähnliches hatte bis zum Schluß nichts gefruchtet. Ohne die verhängnisvollen Besuche auf dem Münsterturm wären die zwei ersten Examina vielleicht erträglich ausgefallen, und mit Zittern und Zagen hatten Schüler und Lehrer dem dritten entgegengesehen, ohne ein besseres Ergebnis zu erwarten, so eifrig sie zusammen Phrasen aus Cornelius Nepos, Livius und Cicero, unregelmäßige griechische Verben und Verse aus Homer und schließlich Sätze aus Logik und Rhetorik exerzierten und memorierten, von denen Brechtle nicht ein Wort verstand, die nun aber einmal zum eisernen Bestand des Wissens der Zeit und der vielgepriesenen Gymnasialbildung der Schwaben gehörten.

Und nun mußte es der Himmel fügen, daß doch schließlich mit diesem Ikarus die verloren geglaubte Schlacht gewonnen wurde! Fast unbegreiflich! Der Pestilenziarius schüttelte noch immer den Kopf und war im Begriff, den Brief seines Stuttgarter Freundes zum drittenmal zu entfalten, um sich zu überzeugen, ob nicht doch ein toller Traum mit im Spiel war, als er Brechtle im abgeschabten blauen Mäntelchen der Ulmer Gymnasiasten an den gegenüberliegenden Häusern hinschleichen sah. Der Kleine war bleich und ließ den Kopf hängen. Die letzten Wochen hatten auch ihn hart mitgenommen, so daß der Pestilenziarius, der bis hierher seine Pflicht mit fester Hand getan hatte, etwas wie Mitleid verspürte. Er riß die Tür auf und packte den Jungen gerade noch rechtzeitig am Rockkragen, als er um den letzten Münsterpfeiler gegen das Mesnerhäuschen einbog.

»Wohin, Brechtle?«

»Zum – Herr Pestilenziarius erlauben schon – ich wollte – ich dachte –«

»Wohin, frag' ich?«

»Zum – zum Herrn Turmwart – aber –«

»Nichts da! – Zu deiner Mutter gehen wir. Komm, Brechtle, sei lustig! Du bist aufgenommen.«

Brechtle fing an zu zittern.

»Auf – was – aufgenommen?«

»Natürlich, aufgenommen. Viktoria, Brechtle! Das ist etwas andres als dein verrücktes Münsterturmgekletter. Und deine liebe Mutter soll es zuerst hören von allen Leuten in Ulm! Hast du uns Sorge gemacht und Arbeit! Aufgenommen!«

Sie liefen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nach der Sammlung in der Frauenstraße. Die übliche Besuchszeit war längst vorüber, Krummacher aber erzwang eine Ausnahme. In den eingefallenen Wangen der müden Frau, die schon seit Monaten an einem bösen Husten litt, stieg das brennende Rot der Freude auf, als sie ihren Brechtle umarmte und von Krummacher hörte, daß nun alles gut sei. Sie reichte ihm die zitternde dünne Hand und dankte ihm und ihrem Gott, der Witwen und Waisen nicht verläßt. Und alle drei weinten, zwei aus Freude, der dritte aber, weil ein nie erfülltes, nie erfüllbares Sehnen bald für immer zur Ruhe kommen mußte. Was nicht alles in einem Magister stecken kann! Es war nur eine einzige Träne, und sie fiel auf ihre Hand. Dies versetzte ihn in die größte Verlegenheit, so daß er sich nicht anders zu helfen wußte, als indem er Brechtle bei den Ohren nahm und heftig schüttelte. Worüber dieser laut lachte, denn er wußte, wie es gemeint war.

 

Dann ging's zum Herrn Onkel. Es war schon Dämmerung, und sie kamen nicht sehr gelegen, denn der Rat versicherte, er wisse nicht mehr, wo ihm der Kopf stehe. Ein Wunder war dies nicht. Es ging andern in der guten Stadt Ulm ums Jahr 1800 auch nicht besser. Seit vier Monaten hatte die kaiserliche Armee unter General Kray die befestigte Reichsstadt als Stützpunkt benutzt und nichts erzielt, als daß die Franzosen sie blockierten und in der nächsten Umgebung nach damaligem Kriegsbrauch alles kurz und klein schlugen. Dazu mußte man noch lächeln und mit tiefen Bücklingen seinen gut kaiserlichen Sinn bekunden, obgleich man nicht mehr wußte, wo das Geld für all die Kontributionen herkommen sollte, die die eigenen Freunde der Stadt auferlegten. Dann war im Juni Kray mit der Hauptarmee aufgebrochen und hatte ein Korps von 10 000 Mann zurückgelassen, dem in nächster Nähe 12 000 Franzosen gegenüberstanden. Von Zeit zu Zeit beschoß der Feind die Stadt, in der die Teuerung in grausiger Weise zunahm. An das Schießen hatte man sich ja gewöhnt; der Schaden, den es anrichtete, war gering, aber das Zahlen! Und nun war heute die Nachricht eingetroffen, daß zu Hohenlinden ein Waffenstillstand abgeschlossen worden und die Reichsfeste Ulm den Franzosen zu übergeben sei. Schwarzmann hatte nach der vorangegangenen französischen Besetzung der Stadt nicht ohne Mühe die bei ihm einquartierten österreichischen Offiziere von seiner unerschütterlichen Treue für Kaiser und Reich zu überzeugen vermocht. Nun sollte er wieder die französische Flagge aufziehen. Doch was blieb den armen Ulmern übrig? Schwätzler, der Professor der Rhetorik am städtischen Gymnasium, war schon mit einem Festgedicht auf den ersten Konsul Europas beschäftigt und wartete nur auf den Abzug der letzten Österreicher, um es dem Magistrat vorzulegen. War nicht das große und glorreiche Frankreich eine Republik wie das berühmte Ulm, das Kaiser Franz seinem jämmerlichen Schicksal überließ. Sehe jeder, wo er bleibe. Das war seine Ansicht, soweit sie sich poetisch verwerten ließ, und der Magistrat teilte sie im Prinzip. 36 000 Obstbäume waren umgehauen, kein Gartenhaus auf den benachbarten Hügeln war verschont geblieben. Das hatte man von der Reichstreue. War's ein Wunder, daß sie in der Ofengabel und anderen versteckten Kneipen die Republik hochleben ließen und die Wirtin im Baumstark mit ihren drei Töchtern über Hals und Kopf Französisch lernten, als ob sie vom Adel wären?

Laut schimpfend in biederem Schifferdeutsch schritt der Rat in seiner großen Wohnstube auf und ab, aus der sich sämtliche Familienmitglieder weislich zurückgezogen hatten. »Und nun kommt auch noch das Mondkalb, der Pestilenziarius, mit dem Brechtle, der überall im Weg ist, wo man ihn nicht brauchen kann! Na, was ist wieder los?«

Krummacher verkündigte mit ungewohnter Entschlossenheit die freudige Nachricht. Die finstere Miene des Herrn Onkels lichtete sich ein wenig.

»So! Nun, das laß ich mir gefallen!« sagte er. »Seit sechs Wochen zum erstenmal wieder etwas, das nicht wie eine Hiobspost aussieht. Also er ist nicht ganz auf den Kopf gefallen, der Bub, meinen die Stuttgarter Herren, und ist nun gewissermaßen versorgt und aufgehoben?«

»Und auf dem geraden Weg, ein gelehrter und vielleicht ein berühmter Mann zu werden«, fiel der Magister lebhaft ein, der die wechselnde Stimmung des Herrn Rates nach Möglichkeit auszunutzen hoffte. »Aus den württembergischen Klöstern ist schon mancher hervorgegangen, Herr Rat, der die Ehre seiner Vaterstadt und der Stolz seiner Familie geworden ist: nicht bloß Gottesgelehrte; Philosophen, Diplomaten, Poeten, zum Beispiel –«

»Na, warten wir's ab«, lachte der Rat. »Vorläufig bin ich's zufrieden, daß er hineinkommt. Was dabei herauskommt werden wir ja sehen. Wenn er seinem Onkel Ehre macht und kein zweiter Pestilenziarius wird, um so besser. Kommt morgen pünktlich zum Abendessen. Man kann nicht ewig jammern. Wir feiern den Geburtstag der Käthe und den Abzug der Österreicher; dabei können wir des Buben Einzug mitfeiern. Es geht in einem hin. Morgen abend sieben Uhr, Herr Magister, und wenn Ihr mir ein Festpoem mitbrächtet – der Schwätzler ist doch nicht der einzige Poet in der Stadt, hoff' ich! – das wäre so übel nicht. Richtet es so ein, daß es die Österreicher goutieren können. Ich will zum Abschied den Major von Gallus und den Oberst Stürzer einladen. Man kann nicht wissen, ob sie nicht in sechs Wochen wieder hier sind, und Ihr könnt wohl etwas dafür tun, daß Ihr jahraus, jahrein einen Stuhl unter meinem Tisch findet. Später, wenn er einmal ein großer Gottesgelehrter ist, wie Ihr prophezeit, soll mir der Brechtle was dichten.«

Der Zunftmeister hatte sich in gute Laune geschwatzt und lachte laut. Insgeheim fühlte er sich geschmeichelt, daß sein kleiner Neffe im Begriff war, der Familie einen ungewohnten Glanz zu verleihen. Sie waren seit Menschengedenken kluge Schiffsleute gewesen, die Schwarzmann, und dabei wohlhabende Leute geworden. Einen Gelehrten jedoch, selbst von so kleinen Abmessungen, hatten sie noch nie in der Verwandtschaft aufweisen können. Da könnte der Junge am Ende doch noch zu etwas zu gebrauchen sein. Mehrere Ulmer waren in mathematicis in früheren Zeiten hochberühmte Leute geworden. Warum sollte dies nicht wieder geschehen? Brechtle war jetzt nicht mehr ganz der verirrte Strohhalm, der ihm in ärgerlicher Weise zum Fenster hereingeweht worden war.

 

Fest und Geburtstag aber mußten zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Es war nicht zum Aushalten in diesen stürmischen Tagen; selbst der Nachtruhe war man nicht mehr sicher. Die Franzosen begannen in der folgenden Nacht wieder zu schießen, um den Abzug der Österreicher zu beschleunigen, und besetzten das Ruhetal, unmittelbar vor den Toren der Stadt. Zu einem Gefecht kam es nicht mehr. Die letzte Kompagnie der Kaiserlichen war kaum durch das Herbeltor abgerückt, als die ersten Reiter des Generals Moreau durch das Neue Tor einzogen. Der Magistrat der Stadt machte keinen Versuch mehr, die Bewegungen von Freund oder Feind zu beeinflussen. Acht Tage später nahm General Richepanse Quartier im Baumstark und lag in Reiterstiefeln im selben Bett, in dem General Kray drei Monate lang gesund und behaglich geschlafen hatte. Statt jedes Österreichers aber bekamen die Leute zwei Franzosen ins Haus. Allgemein wurde anerkannt, daß die Feinde höflicher waren als die Freunde von der Reichsarmee; wenn man sie nur verstanden hätte! Das griff selbst die schwer zu erschütternden Nerven der behäbigen Ulmerinnen an. Schwarzmann fühlte sich gegen seine Töchter besonders erbost. Drei und fünf Jahre lang hatten die Mädchen um schweres Geld Französisch gelernt, und jetzt, wo es nötig war, mit den Leuten zu parlieren, brachten sie kein Wort über die Lippen! Als die gute Frau Schwarzmann mit den soeben eingetroffenen letzten drei Dragonern vor der allerletzten Bettstätte des Hauses stand, sprach sie selbst ihr erstes und letztes Französisch, das weltbekannt wurde, soweit die Ulmer Welt reicht, indem sie mit vor Verzweiflung flammenden Augen ausrief: Heidensapperlot! Kusch de dormir drei da 'nein!

All dieser Jammer dämpfte den Lebensmut der Ulmer nicht ganz. Noch immer wurde Theater gespielt. An Tanzkränzchen und Bällen fehlte es nicht. Auch das verschobene Geburtstagsfest wurde nicht vergessen, wenn demselben auch eine wesentlich andere Form gegeben werden mußte. Denn an Stelle der Abschiedsfeier für die befreundeten österreichischen Offiziere hatte man nun die Befreiung Ulms durch die große Nation zu feiern, die der Welt Gleichheit und Brüderlichkeit zu bringen versprach. Auch konnte das Fest nicht mehr an Käthchens vierzehntem Geburtstag abgehalten werden, der längst vorüber war und an dem eine Kanonenkugel Vetter Molfenters, des alten Schiffmeisters, Dachkammer glatt durchbohrt hatte, sondern fiel in die Woche, in der Brechtle in das Seminar zu Blaubeuren eingeliefert werden mußte. So wurde es eine Art Abschiedsfest für den Jungen, was kein Mensch beabsichtigt hatte. Ihm aber blieb es unvergeßlich zeit seines Lebens, und zwar aus verschiedenen Gründen.

Zunächst sah er mit stummem Zorn, der ihn noch immer beim Anblick jedes Franzosen packte, so oft ihm auch Krummacher das Törichte dieses Hasses klarzumachen suchte, wie die zwei hohen Offiziere, die rechts und links vom Onkel saßen, laut und lustig zechten und sich nichts drum kümmerten, daß sie kein Mensch verstand. Sie ließen dem Onkel nichts zu tun als ihre Gläser mit feurigem Vöslauer zu füllen, an dem es dem reichen Schiffsherrn von Ulm noch immer nicht fehlte. Neben den fremden Offizieren saßen zwei der ersten Patrizier Ulms, der Alt-Bürgermeister, nunmehr Staatsrat von Baldinger, und Herr von Kolb, der die Gilde der Kaufmannschaft im Kleinen Rat vertrat. Auch sie taten, was sie konnten, die französischen Herren bei guter Laune zu erhalten, und flochten so viele französische Worte in ihr Deutsch, daß sie sich selbst kaum mehr verstanden. Dann kam die Tante, still und besorgt dreinsehend wie immer und ihr gegenüber Lottchens Freundin, Fräulein Lucinde von Baldinger. Neben ihr Käthe, ihr gegenüber Lottchen, dann Vetter Hans und Brechtle und schließlich, am unteren Tischende, Magister Krummacher in voller zierlicher Amtstracht, wie sie sein Vater und Großvater zu tragen pflegte. Selbst das Zöpfchen hatte er sich neu bürsten und binden lassen.

Die Gesellschaft, die sich anfänglich in gemessenen Formen begegnete, wurde mit jeder Viertelstunde lebhafter. Dem feurigen Österreicher und Baldingers heiterer Höflichkeit gelang es bald, den richtigen Ton zu finden, der trotz der sprachlichen Schwierigkeit auch die Franzosen in den Bann deutscher Gemütlichkeit hereinzog. Selbst Brechtle bekam ein Glas Vöslauer, das nicht wirkungslos blieb.

Er hatte bis zur Stunde keinen Sinn für Mädchen gehabt. Die Bäschen hatten ihn weit mehr geärgert als erfreut und sich keineswegs bemüht, sein Verständnis für den Liebreiz der Weiblichkeit zu wecken. Hansens Roheiten und sein dummer Hochmut waren ihm erträglicher gewesen als die spitzen Spöttereien Käthes und die kleinen Bosheiten ihrer jüngeren Schwester. Selbst heute, prächtig aufgeputzt in stahlgepanzerten langen Schnürleibchen und Reifröckchen und mit hochfrisierten gepuderten Haaren, konnten sie ihm keine Bewunderung abzwingen. Dagegen sah er zum erstenmal ein Engelsgesichtchen, rot und weiß, um das hundert schwarze Löckchen tanzten, und das, wenn es lächelte – und es lächelte fast immer – zwei Grübchen in den Wangen zeigte, wie er Lieblicheres noch nie gesehen hatte. Wie Wachs. Dazu war die kleine Lucinde nach der neuesten französischen Mode gekleidet: ein langes weißes Kleid, das glatt an ihr herunterwallte, unter der Brust von einem blauen Band zusammengehalten, welches hinten eine große Schleife bildete, wie die Ansätze von Flügeln, die erst wachsen wollten. Sie sah nicht anders aus als ein Engelchen, das frisch aus dem Paradies kommt. Brechtle wagte anfänglich kaum, zu ihr hinüberzuschielen, obgleich ihn ein großer Resedenstrauß schützte. Wie der freche Hans über den Kopf seiner Schwester hinweg sich mit ihr unterhalten konnte, als ob sie ein Junge wäre, war ihm unbegreiflich. Ein paarmal sah sie ihn an und streckte dabei ihr Stumpfnäschen recht vornehm nach oben, aber sie lächelte doch, und Brechtle sah die Grübchen und wunderte sich, wie sie das machte und weshalb sie so hübsch waren, daß ihm ganz wund und weh wurde. Wäre Hans nicht gewesen, er hätte sie angesprochen. Wahrhaftig, wäre niemand im Weg gewesen, er hätte sie, trotz aller Angst, in die Arme nehmen und küssen mögen. Schließlich war sie doch nur ein kleines Mädchen und er ein Studiosus und Landexaminant, den man nicht mehr ganz übersehen konnte.

Nun, auch er kam diesmal nicht zu kurz, wie sonst gewöhnlich an des Onkels Tisch. Der Herr Rat schien in der allerbesten Laune zu sein, was wohl damit zusammenhing, daß ihm am Morgen vom Generalkommando der Auftrag erteilt worden war, acht Zillen bereitzuhalten, um Kriegsmaterial nach Regensburg zu schaffen. Eine kleine Verstimmung bei der Entdeckung, daß der Magister kein Festgedicht zum Ruhm der französischen Armee in der Tasche hatte, ging mit dem Rindfleisch vorüber. Nach dem dritten Glas Vöslauer – die dazwischen liegenden Krüge Ulmer Bier zählten nicht mit – und noch ehe der Gänsebraten auf dem Tisch stand, erhob er sich und ließ in kräftigen, wenn auch etwas wirren Worten die französischen Herren Offiziere hochleben, von deren Gnade und Ritterlichkeit – pardon – Brüderlichkeit die Stadt alles Gute erhoffe. Das vierte Glas weihte er dem Herrn Alt-Bürgermeister, der in diesen schweren Zeiten so glänzende Proben der Weisheit und des Mutes abgelegt habe. Dann kamen die Herren der Geschlechter im allgemeinen an die Reihe, die der Stadt heute noch Zierde und Würde verliehen, vornehmlich in der Person des Herrn von Kolb.

Da hiermit der wackere Meister der Schifferzunft sichtlich seine rednerische Begabung erschöpft hatte und sich in hoffnungslosen Satzgebilden erging, erhob sich Herr von Baldinger und trank auf das Wohl des Herrn Rates, seines lieben Herrn Vetters, der schon längst würdig gewesen wäre, das Steuer des gefährlich schwankenden Staatsschiffes in die Hand zu nehmen; worauf Herr von Kolb ein Hoch auf die ehrsame Schifferzunft ausbrachte, die in alten Zeiten, wie noch heute, den Ruhm der ehrwürdigen Reichsstadt in alle Welt trug, vor allem durch den noch immer blühenden Handel mit Schnecken, Leinenwaren und anderen kostbaren Erzeugnissen des heimischen Gewerbefleißes und dafür die Schätze des Morgenlandes in den Mauern der berühmten Reichs- und Handelsstadt aufstapelte. Immer beredter, immer poetischer wurden die Herren. Selbst die Franzosen, die kein Wort von all dem Lärm verstanden, erhoben sich und tranken auf das Wohl der Republik von Ulm, was umgekehrt keiner der übrigen Anwesenden verstand, den allgemeinen Tumult aber nicht unbeträchtlich vermehrte. Der Frau Rat wurde es sichtlich bange, als Hans mit lauter Stimme ein Schifferlied anzustimmen versuchte und sich sein Papa zornig, wenn auch etwas mühselig erhob, an das Glas seines Nachbars, des französischen Obersten, schlug, daß es zersprang und also anhub:

»Ihr Herren und auch Frauenzimmer! Mit Vergunst. Ehre dem Ehre gebührt. Überhaupt! Nachdem wir alles haben hochleben lassen, was an diesem festlichen Tisch zu leben verdient, gedenke ich noch der Gelehrsamkeit, die da war und die da sein wird. Unser Vetter, der Herr Pestilenziarius Krummacher, und mein leiblicher Neffe, Ludwig Albrecht Berblinger, von dem ich erhoffe, daß er in der Familie Schwarzmann eine Leuchte der Wissenschaft aufstecken möge, die – überhaupt – und – und dergleichen mehr. Sie sollen leben!«

Eine Ehre dieser Art hatte weder der Magister noch Brechtle je erlebt. Sie riefen in der Verwirrung selbst vivat hoch, gingen dann aber zum Herrn Rat hinauf und küßten ihm tiefbewegt die Hand. Als Brechtle sich aufrichtete, sah er ganz in der Nähe die zwei Grübchen, tiefer als je, und setzte sich in der Verwirrung auf Hansens Stuhl, der ihn unfreundlich wegstieß. Das aber merkte er kaum. Die ganze Welt schien ihm in sonnigem Licht zu fluten, er mittendrin, schwimmend, fliegend, er wußte selbst nicht was und wie. Der Magister hatte schließlich keine kleine Mühe, ihn zu Bett zu bringen, denn er wollte mit aller Gewalt noch den Münsterturm besteigen, um seinem Freund Herrn Lombard das Nötigste mitzuteilen.

So schied Brechtle von Ulm mit einer Abschiedsfeier, die ihm, so jung er war und so viel er noch erleben sollte, für alle Zeiten unvergeßlich blieb. Der Pestilenziarius aber drückte seine kühle Hand auf die heiße Stirn des Kleinen, als er ihn endlich im Bett hatte, und murmelte halblaut und halb wehmütig: Ikare! Ikare!


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