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8. Der Wahlspruch

Eines der lieblichsten Täler der Alb schneidet von Süden her tief in den langsam ansteigenden Gebirgsstock, der von West nach Ost das Schwabenland durchzieht. Etwa drei Wegstunden von seiner Ausmündung in die offene Donauebene bei Ulm bilden die dachsteil abfallenden felsgekrönten Berghänge eine kesselartige Erweiterung, in deren hinterstem Winkel, versteckt im dichtesten Waldgestrüpp, ein kleiner Teich liegt, der jahrhundertelang für unergründlich gehalten wurde, weil er einundzwanzig Meter tief ist; ein fast kreisrunder Wasserspiegel, dessen leuchtendes Kobaltblau wie ein kleines Wunder zwischen dem Grün des überhängenden Geästes hervorschielt. Eine beträchtliche Masse kristallhellen Wassers steigt aus dem merkwürdigen Trichter empor und bildet einen ansehnlichen Bach, der unmittelbar unterhalb dem Teich die Räder der alten Klostermühle von Blaubeuren in Bewegung setzt. Ihm kommt, in wunderlichen Windungen einen mitten im Tal liegenden Felshügel umkreisend, aus einer Fortsetzung des Tales von Westen her die Ach zu Hilfe und gibt dem Gesamtbild der waldigen Gebirgslandschaft eine Mannigfaltigkeit der Formen, die am Südhang der Alb nicht leicht wiedergefunden wird. Auf dem ›Rucken‹, dem erwähnten Felshügel, stand vorzeiten die Burg der Grafen von Ruck und Tübingen. Sie ist fast spurlos verschwunden. Dagegen sehen aus größerer Höhe die Trümmer des Rusenschlosses herunter, sind aber mit dem natürlichen Felsgestein derart verwachsen, daß man kaum unterscheiden kann, was dort oben Natur und was Menschenhand gebaut hat. In jenem hintersten Winkel des Tales hingegen, unmittelbar am Ufer des Blautopfes – diesen wenig poetischen Namen führt der Teich, in dem die Blau entspringt –, begannen gegen Ende des elften Jahrhunderts die Grafen von Ruck und Tübingen ein bescheidenes Kloster zu bauen, in das als erster Abt Azalinus, ein gelehrter Benediktiner aus dem Schwarzwaldkloster Hirsau mit einer kleinen Schar von zwölf Mönchen und hundertundfünfzig kostbaren Folianten einzog. Heute, wenn im Sonnenschein die lichten Wiesen des Talgrundes zu den goldgrünen Berghöhen emporlachen, ist es nicht leicht, sich ein Bild von der tiefen, düsteren Waldeinsamkeit zu machen, in der diese Mönche anfingen, zwischen Vigil und Vesper fromm und geduldig den einen oder anderen der hundertundfünfzig Folianten ihres Abtes abzuschreiben; und heute noch macht das bescheidene Kloster an der Quelle der Blau mehr als jedes andere in Schwaben den Eindruck weltentrückten Friedens und beschaulicher Gelehrsamkeit, trotz des munteren Städtchens, das sich um die Klostermauern gelagert hat, trotz der hohen Schornsteine von Spinnereien und Zementfabriken, deren weißlicher Rauch an den grünen Bergwänden emporsteigt.

Um die Reformationszeit verschwanden die Mönche, die in dem abgeschiedenen Gebirgstal und seiner dürftigen Waldeinsamkeit wohl nie das üppige Leben reicherer Klöster im offenen Land geführt hatten. Das beweist noch heute, was von dem schmucklosen Bau übriggeblieben ist, welcher sich an die Klosterkirche anschloß, deren einziger Schatz nächst dem verschwundenen Reliquienschrein ein Hochaltar des Ulmer Bildhauers und Holzschnitzers Syrlin war und geblieben ist. Übrigens wich der klösterliche Geist und vor allem der Geruch der Gelehrsamkeit der Hirsauer Benediktiner nicht ganz aus dem alten Gemäuer. Blaubeuren wurde eine der Klosterschulen zur Heranbildung der evangelischen Geistlichkeit des Landes, in welche die Herzoge von Württemberg die früheren Klöster ihres Gebietes umwandelten.

Nach mannigfachem Wechsel der Örtlichkeiten und Einrichtungen bestanden durch das ganze achtzehnte Jahrhundert vier solcher Schulen: Blaubeuren und Denkendorf, Bebenhausen und Maulbronn, die trotz der tiefgehendsten Veränderung im Wesen der Anstalten manches von dem klösterlichen Geist bewahrten, dem sie äußerlich ihr Dasein verdankten. Zwei derselben, die ›niederen‹ Klosterschulen, erhielten abwechslungsweise alle zwei Jahre aus den ›Trivialschulen‹ des Landes fünfundzwanzig bis dreißig junge Leute im Alter von vierzehn bis fünfzehn Jahren, die das dreifache Sieb der ›Landexamina‹ passiert hatten, und lieferten sie nach zwei Jahren an die ›höheren‹ Klosterschulen ab, von wo sie nach weiteren zwei Jahren und nach dem glücklichen Bestehen einer weiteren Prüfung, des sogenannten ›Konkurses‹, an die Universität Tübingen und das dortige theologische ›Stift‹ weitergegeben wurden. Die gesamten Kosten der Erziehung in Stift und Klöstern trug der Staat so daß die Anstalten für minderbemittelte Eltern von einschneidender praktischer Bedeutung waren, ganz abgesehen davon, daß sie dem jungen Mann Amt und Auskommen fürs ganze Leben sicherten. Aber auch wo die Geldfrage nicht mitspielte, betrachtete man die Erziehung in den Klöstern für das Beste und Heilsamste, was einem jungen Mann vom vierzehnten bis achtzehnten Jahr zuteil werden konnte, so daß der Andrang zum Landexamen fast zu allen Zeiten ein außerordentlich lebhafter war und es erfolgreich bestanden zu haben, den Bildungs- und Lebensgang für Hunderte der besten Köpfe des kleinen Landes entschied. So drückte das Erziehungsideal dieser Klöster ein paar Jahrhunderte lang dem heranwachsenden Geschlecht seinen Stempel auf und gab nicht nur den jungen Theologen, sondern der gesamten gebildeten und zu bildenden Jugend des Landes Charakter und Eigentümlichkeiten, über deren Wert man sich in dem engen Kreis, dem sie entstammten und in dem sie sich forterbten, selten klar bewußt war.

Gegen Ende des achtzehnten und zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts lag die weltliche Verwaltung der Klosterschulen in den Händen eines Amtmannes oder Klosterverwalters, das geistliche und pädagogische Regiment in denen eines ›Prälaten‹, der sich mit zwei Professoren in den Unterricht und die Erziehung der jungen Leute teilte. Diese, ausschließlich auf die Heranbildung der künftigen Geistlichen des Landes berechnet, hatte seit einem Jahrhundert ihren etwas trockenen, religiösen Charakter beibehalten und das altgewohnte Geleise der humanistischen Scholastik nicht verlassen. Äußerlich bewahrten Disziplin und Hausordnung noch immer ihre harten, klösterlichen Formen und waren wenig geneigt, dem jugendlichen Sinn freiere körperliche und geistige Bewegung zu gestatten, so daß dieser, der instinktiv das neue Jahrhundert kommen fühlte, sich oft genug in gewaltsamer Weise selbst zu helfen suchte. Aber die verrosteten Ketten, die sich von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbt hatten, an die die Alten gewöhnt waren und die Jungen sich gewöhnen mußten, waren noch stark genug, derartige Regungen niederzuhalten und selbst Änderungs- und Verbesserungsvorschläge ad acta zu legen, die von Zeit zu Zeit die hohen und höchsten Behörden zu nachdenklichen ›Rezessen‹ veranlaßten. Das Grollen einer großen Weltrevolution brauchte noch nicht hinter Klostermauern gehört zu werden, die eine Reformation überdauert hatten. In den niederen Klosterschulen und in den ersten Semestern der ›Promotion‹, wie jeder Jahresschub der jungen Leute genannt wurde, waren überdies derartige Fragen von untergeordneter Bedeutung. Hier ging es unter den kleinen Kutten noch kindlich und kindisch zu. Für sie war die Zeit der Flegeljahre angebrochen mit ihren ungelenken und unverständigen Ausbrüchen, mit dem dunklen, hilflosen Drang, der in jungen Herzen und Köpfen gärt, und bot unter dem Druck klösterlicher Einförmigkeit und pedantischer Kleinlichkeit nur für den Interesse, der im werdenden Jüngling trotz aller pädagogischer Hindernisse da und dort den werdenden Mann zu erkennen vermochte.

Der erste harte Winter war vorüber: die ersten sechs Monate, welche viele auch später noch zu den härtesten in der vierjährigen Klosterzeit zählten. Zuerst galt es für die meisten, Abschied zu nehmen von der verhältnismäßigen Freiheit des Vaterhauses, von hundert kleinen Gewohnheiten der Heimat, und sich der strengen Klosterzucht und -ordnung zu beugen. Kein Herumtoben mehr in Wald und Feld, so verlockend sie im herbstlichen Rot und Gold hinter den Klostermauern aufstiegen, keine Besuche benachbarter Dörfer mit ihren gastlichen Pfarr- oder gar Wirtshäusern, kein Verkehr mit der Welt draußen, die sich selbst in Blaubeuren zu regen schien. Der kleine Berblinger hatte nicht viel dergleichen hinter sich. Und doch – wie tat ihm das Posthorn wohl und weh, das er in der Morgendämmerung hörte, wenn der neueingerichtete Postwagen alle Wochen dreimal nach Ulm aufbrach! Nun gab's nur zweimal die Woche feierliche Spaziergänge zu zwei und zwei hinter dem Herrn Prälaten her, der die kleine schwarze Schar in den ärmellosen Kutten das eine Mal um den Rucken, das andere Mal halbwegs den Berg hinauf gegen Sonderbuch führte. Fast ein Lichtblick war es, als der zu allen Streichen schon jetzt aufgelegte Seeger, der Stuttgarter, in seinem Lexikon entdeckte, daß Präsul, die amtliche lateinische Bezeichnung des Herrn Prälaten, eigentlich ›Vortänzer‹ hieß. Wie wildes Feuer verbreitete sich diese Kunde unter dem jungen Volk. Nie wurden Lexika so eifrig gebraucht, und auf dem nächsten Spaziergang wollte der Oberfamulus bemerkt haben, daß sich mehrere Alumni hinter dem Rücken des Nichtsahnenden ungebührlichen Tanzbewegungen hingaben. Soweit die Ergründung der Ursache des unerklärlichen Ausbruches unpassender Heiterkeit in Frage kam, sagt das diesbezügliche Protokoll, blieb eine strenge Untersuchung ohne Erfolg und führte nur zu der ungenügenden Sühne der zweimaligen Entziehung des Tischweines, welche drei zweifellos Schuldige traf, unter denen sich Seeger, der Hauptschuldige, natürlich nicht befand. Nach uraltem Brauch erhielten die Studiosi nämlich eine reichliche Gabe allerdings nicht allzu feurigen Tischweines, mit deren Entziehung kleinere Vergehen bestraft wurden. Man nannte dies ›karieren‹.

Zwei Monate lang nahmen die Dinge nach diesem ersten ernsteren Zwischenfall ihren ungestörten Verlauf. Jeder Augenblick hatte seine bestimmte Aufgabe von morgens sechs Uhr bis in die späte Nacht. ›Rekreationen‹ im Klosterhof waren nach halben Stunden bemessen, wenn das Wetter es erlaubte, und die Entscheidung, ob das Wetter es erlaube, mußte vom Professor ordinarius erbeten werden. Sonst mußten die Schüler hinter verschlossenen Türen auf dem düsteren ›Dorment‹ oder in den engen, überfüllten ›Museen‹ Museen nannte man damals die Studierstuben der Zöglinge, ›Dorment‹ die Wandelgänge zwischen den Stuben, die in Blaubeuren heute noch unter holzgetäfelten Tonnengewölben ihr düsteres, klösterliches Aussehen bewahren. sich erholen, so gut sie konnten. Morgens um sechs Uhr in kalter Nacht aus den Federn, soweit Strohsäcke mit Federbetten verglichen werden können, ging es von der eisigen Waschstube mit klappernden Zähnen zur Morgenandacht und zur nur allzu rasch verschlungenen Morgensuppe. Darauf folgten Lektionen: Latein: Cornelius Nepos, Cicero, Virgil, Ovid und der wöchentliche lateinische Aufsatz; Griechisch: Homer, Xenophon, das Neue Testament und Hebdomadar, der wöchentliche griechische Aufsatz; Hebräisch, je nach den Wochentagen. Um halb elf Uhr folgte die Chorandacht mit dem Verlesen eines Psalms und dem Singen der lateinischen ›Kollekte‹. Von elf bis ein Uhr kam sodann das Mittagessen und eine Erholungspause. In ähnlicher Weise war die Nachmittagsarbeit eingeteilt, die um halb sechs Uhr mit einer zweiten Chorandacht schloß. Die Zeit von sechs bis acht Uhr beanspruchte das Abendessen und eine zweite Erholungspause, auf die um acht Uhr das Abendgebet mit Gesang und Bibellesen folgte. Die Zeit bis neun Uhr sollte Privatstudien gewidmet werden und nach neun Uhr jedes Licht im Kloster gelöscht sein. Für Musikunterricht waren wöchentlich zwei Stunden bestimmt, für Logik, Rhetorik und Geschichte je eine, für Rechnen und Geographie eineinhalb. Unter sich sollten die Alumni bei Strafe der Weinentziehung nur Lateinisch sprechen. In der Tat kein leichtes Los für deutsche Jungen, in deren Gliedern sich der Jugendübermut zu recken und zu strecken begann, und denen für die Übung ihrer ungelenken Kräfte nichts geboten wurde, als das Studium der ›Alten‹ und ihrer zweitausendjährigen Heldentaten.

Die ersten Monate gingen den meisten vorüber wie ein unbehaglicher Traum. Der trübe Herbsthimmel, die hohen düsteren Berge, welcher schwer und drückend über dem Kloster hingen, waren nicht geeignet, das Heimweh der Jungen zu lindern, und selbst der Spott der derber angelegten Kameraden konnte nicht jede heimliche Träne verwischen. Berblinger, Stöckle und Fischer wurden eines Nachmittags entdeckt, wie sie zu unerlaubter Stunde in einem Winkel des Dorments saßen und nach gut klassischem Rezept ihre Tränen mischten, wofür, weil sie überdies ihren Kummer in deutschen Worten ausgetauscht hatten, sie der gefühllose Professor Gaum zweimal karieren ließ. Nur allmählich lernten sie, Seiner Hochwürden, dem Herrn Prälaten Kleß, einem fetten kleinen apathischen Mann, der die Jungen aus seinen dünngeschlitzten Augen über die Brille hinweg mit erkünstelter Strenge ansah, wenn er ein Strafurteil verkündigte, ohne Zittern gegenüberzustehen oder die schnurrende Stimme Gaums zu hören, dessen Eigenheit es war, jedes deutsche Wort, das den Jungen entschlüpfte, auf dreißig Schritt Entfernung zu hören und mit unerbittlichem Eifer zu verfolgen. Auch der zweite Professor, Bräunlin, eine schwache gutmütige Seele, dem es nicht wohl war, wenn er sich nicht krank fühlte, und für den ein Hilfslehrer angestellt werden mußte, vermochte den Druck, der auf dem klösterlichen Schulleben lag, nicht zu mildern. Nur über das Gesicht des Hilfslehrers Zeller, eines jüngeren Mannes, flog manchmal, so trocken er sich stellte, ein Lächeln, das den jungen Leuten einige Hoffnung gab, daß nicht alles im winterlichen Eis der Gelehrsamkeit zu erstarren brauchte. So regte sich erst gegen Ende des Semesters das Eigenleben der Jugend. Freundschaften begannen sich zu bilden. Da und dort zeigten sich bedrohliche Spuren eigenen Denkens und Wollens. Der Karzer öffnete dreimal sein enges Pförtchen. Man begann sich einzuleben.

 

Endlich kam der Frühling mit heulenden Stürmen und klatschenden Regenschauern über das Tal. Die Linden im Klosterhof, die monatelang ihre Zweige unter der Last des Schnees gebeugt hatten, zeigten Blätterknospen, da und dort schimmerte an den blaubraunen Berghalden eine Ahnung von Grün, und ein lauer, milder Südwind schmolz die letzten Schneeflecken, die in den Waldschluchten versteckt lagen. Auch unter den kleinen Kutten, die die Studiosi der Klosterschule mit fast komischer Würde zu tragen sich bemühten, wenn die Brille des Herrn Prälaten über ihnen funkelte, regte es sich dermaßen, daß die Bestrafungen wegen ›Kälbereien‹ in beängstigender Weise überhandnahmen. Der Studiosus Busch genoß erst gestern zwei Stunden lang die Annehmlichkeiten des Karzers, weil er versucht hatte, seinen Freund Seeger in den Blautopf zu werfen, ohne hierfür einen triftigen Grund angeben zu können. Seegers Kutte verfing sich glücklicherweise im überhängenden Geäst, wodurch es dem Famulus Lenze ermöglicht war, allerdings mit Buschs Beistand und Gottes Hilfe, den gefährlich aufgehängten Seeger zu erretten. Die Kutte aber hatte einen erheblichen Riß bekommen und so die verdiente Karzerstrafe herbeigeführt.

Es war Nacht; neun Uhr längst vorüber und jedes Licht im stillen Klosterbau erloschen. Dafür strahlte der Vollmond in den Klosterhof herab und schien dem Plätschern des Brunnens zu lauschen, dem einzigen Geräusch, das die nächtliche Stille unterbrach. Der Professor ordinarius, der bittere Gaum, wie ihn nach dem Beispiel ihrer Vorgänger die frechen Jungen schon nannten, hatte seine letzte Runde gemacht und war murrend durch das Seitentürchen verschwunden, das aus dem Dorment in seine Amtswohnung führte. Zwei Flügel des großen gotischen Fensters, das den düsteren, schwarzbraun getäfelten und gewölbten Mittelgang der Klosterräume abschließt, standen offen und ließen das bleiche Mondlicht und von Zeit zu Zeit einen lauen Luftzug in die dumpfige Halle. Auf dem Gesims saß ein weißes koboldartiges Wesen, das regungslos in den Mond hinaufsah.

Da öffnete sich eine Tür, die zum größeren der zwei Schlafsäle der Zöglinge führt, geräuschlos und gerade weit genug, um eine zweite weiße Gestalt hindurchschlüpfen zu lassen. Sie war, wie die am Fenster, geisterhaft spärlich bekleidet und hätte, wie jene, für ein nicht ganz ausgewachsenes Gespenst gelten können, als sie an den getäfelten Wänden des Dorments hinglitt. Vor dem Fenster machte auch sie Halt, schwang sich mit katzenartiger Gewandtheit ohne ein Wort zu sagen auf den hohen Sims und machte sich's dem noch immer regungslos Dasitzenden gegenüber bequem. Sichtlich hatten beide sich nicht zum erstenmal hier zusammengefunden.

»Dumm, daß wir nicht in derselben Stube schlafen«, sagte gegen alle Klosterregeln auf gut schwäbisch-deutsch Berblinger zu seinem Freund Fischer. »Ich weiß nie, wann du herauskommst.«

»Du scheinst es zu riechen«, versetzte der andere. »Ich bin noch nicht drei Minuten lang allein hier gesessen.«

»Man bekommt eine feine Nase in dem Loch!« flüsterte Brechtle, der sich in fünf Monaten zusehends entwickelt hatte. »Ich kenne schon jeden Professor am Geruch, ehe er die Dormenttür aufschließt. Sit venia verbo: Der Gaum riecht nach Rindfleisch.«

»Dann sind wir wenigstens leidlich sicher und können eine Stunde schwatzen, wie uns der Schnabel gewachsen ist«, versetzte Fischer, ohne den Witz seines Freundes zu belachen.

»Hältst du's aus bis zur Vakanz – noch dreiundzwanzig Tage?« fragte der Kleine ungeduldig. »Du hast im Anfang Heimweh gehabt für sechs.«

»Ich hab's noch; aber es ist auszuhalten«, erwiderte Fischer, »wenn mich der Bräunlin nicht zu Tode quält mit seinem Cicero. De amicitia! Weiß der alte Knaster was von Freundschaft, Brechtle! Mit dem Ovid und dem Virgil ist's zu ertragen.«

»Mir könnte der eine wie der andre gestohlen werden. Die ewigen Phrasen, das ewige Präparieren, das ewige: ›Ei, ei, Berblinger, schon wieder anderswo mit den Gedanken!‹«

»Sag das nicht, Brechtle. Den Ovid besonders laß ich mir gefallen. Da wird es lebendig um uns her. Die Bäume und Blumen schlagen aus, die Felsen und Bäche fangen an zu leben«

»Ja, auf dem Papier. Wenn man zu ihnen hinaus dürfte!«

»Das sag' ich auch. Noch dreiundzwanzig Tage – dann –«

»Dann läufst du wahrscheinlich mit deinem Virgil unter dem Arm im Neidlinger Gras herum. Wenn ich nur an ihn denke und den bitteren Gaum, überläuft mich's kalt. Ich glaube, mein alter guter Pestilenziarius hatte eine Ahnung davon, was hinter all dem Papier steckt. Aber der Gaum! Wie würden Sie diese Phrase übersetzen, Berblinger? Erinnern Sie sich einer ähnlichen Phrase in der gestrigen Lektion? Haben Sie diese schöne Phrase memoriert? Ei, ei, Berblinger, Sie scheinen es darauf abgesehen zu haben, ein Taugenichts zu werden wie – wie – der Fischer.«

»Das hat er nicht gesagt.«

»Nein, aber gedacht. Von deiner Poesie will er so wenig wissen als von meiner –«

»Ja was denn: von deiner –«

»Wenn ich es selbst wüßte: Schaffen möcht' ich, arbeiten, nicht altes Stroh dreschen; daß man auch sieht, was ich weiß, nicht was Cicero gewußt hat. Feuermaschinen bauen und dergleichen. Das heiß' ich Poetica. Kann man das im Kloster?«

»Schaffen? Arbeiten? Na, natürlich. Sieh dir den Pfitzenmeyer an. Ich glaube, der liegt heute nacht auch noch nicht im Bett. Er hat mit drei Kutten eine Schutzmauer um seinen Pult gebaut daß man kein Licht durchs Fenster sieht, und kopiert Phrasen, die er morgen in sein Hebdomadar hineinarbeitet. Ob ein Sinn dabei herauskommt oder nicht – gleichviel; sie müssen hinein. Und dann wird er uns als Musterjüngling vorgeführt, und der Gaum und der Herr Prälat sind mit vereinten Kräften bereit, ihn in den Himmel zu erheben.«

»In ihren Himmel«, unterbrach Berblinger verächtlich. »Ich gönn's ihm. Mir ist der Zeller lieber als alle andern zusammen. Er will mir im nächsten Semester Privatstunden geben – Algebra und Geometrie –, wenn es der Herr Prälat erlaubt. Aber er hat wenig Hoffnung.«

»Algebra und Geometrie, puh!« rief Fischer, Verachtung mit Verachtung heimzahlend, »gut, daß ich nicht zu wissen brauche, zu was die in der Welt sind. Helfen sie dir in diesem und im künftigen Leben um einen Schritt weiter? Ich habe schon genug an der Logik und der verflixten Arithmetik.«

Hier unterbrach ihn eine tiefe Grabesstimme, die feierlich aus dem Dunkel heraustönte:

»Ist a gleich b und c gleich b, so ist a gleich c

Dann fuhr sie um eine Oktave höher fort:

»Habt ihr je ein a gesehen, das gleich einem b war? Das ist die Weisheit, geboren aus der Gottesgelehrsamkeit, die wir hier erlernen. – Hat einer von euch schon versucht, ob man an der Wand hinunterklettern kann, ohne den Hals zu brechen?« Es war Busch, im Nachthemd wie die anderen, der sich jetzt mit einem kühnen Sprung auf den Fenstersims stellte und unternehmungslustig hinabsah.

»Weg da!« rief Fischer, fast zu laut für die Verhältnisse, ihn herunterreißend. »Eine schöne Figur im Mondschein! Wenn dich der Famel sieht, der jederzeit im Hof herumschleicht wie ein Kater, kannst du ins Karzer zurückwandern, ehe aus Morgen und Abend der nächste Schöpfungstag geworden ist. Wie war's denn?«

»Ganz erträglich, bei der nötigen Gemütsruhe und einem guten Gewissen«, versetzte Busch ruhig. »Doch hatte ich mit zwei Stunden genug und will's dem Zeller einmal danken, der mich auf die Hälfte der zugedachten Seklusion herabgehandelt hat. Da kommt der Seeger in seiner zerrissenen Kutte, der an allem schuld ist. Wer hieß ihn an den Ästen hängenbleiben? Wäre er vollends in den Blautopf gefallen und ersoffen, stünde ich wahrscheinlich noch unbefleckt und uninkarzeriert vor meinen Mitmenschen.«

Seeger aber kam nicht allein, sondern hielt den langen Pfitzenmeyer am Kragen, der kaum imstande war, ein ängstliches »Pst, pst!« zu stöhnen.

»Den hab' ich erwischt!« frohlockte sein Bändiger, »mitten in Ciceros orationes, Phrasen spickend zu nachtschlafender Zeit, mit denen er morgen unsere Lebensstellung zu untergraben gedenkt. ›Quousque tandem abutere patientia nostra?‹«

»Wie wäre es, ihn zum Fenster hinauszuhängen, um ihn und uns von dem Gestank geistiger Erbschleicherei zu befreien?«

»Laßt mich los!« gurgelte Pfitzenmeyer, der vergeblich versuchte, seinen Hals zu befreien; »ich – ich werde euch alle – denunzieren –«

»Das wäre noch schöner«, lachte Seeger. » Ich bin Zensor und offizieller Denunziant, solange es Tag ist. Jetzt aber ist es Nacht, da niemand wirken soll, auch du nicht. Wähle: Willst du an den Füßen oder am Halse gehängt sein?«

»Leiser, leiser!« bat Fischer. »Ich erkenne ja die Berechtigung deiner Absichten an; wenn uns aber jemand hörte!«

»Nur keine Angst!« rief Seeger. »Auch Katzen und Eulen schlafen zuzeiten; die Stunde der Mäuse ist angebrochen. Greift zu!«

»Sei vernünftig!« mahnte Berblinger. »Da kommt noch einer, dazu in ziemlicher Kutte.«

»Bei Zeus, der fromme Stöckle!« lachte Seeger. »Wenn das am grünen Holz geschieht –«

»Er will Abendandacht mit uns halten«, spottete Busch. »Na, fang an, Stöckle!«

»Um des Herrn willen, macht keinen so fürchterlichen Lärm. Man hört euch im ganzen Haus!« mahnte der Neugekommene. »Ihr versündigt euch an Gott und Menschen.«

»Arm in Arm mit dir –«, höhnte der tolle Seeger, der hoffnungsvolle Sprößling des Oberkonsistorialrates und Predigers an der Stiftskirche zu Stuttgart – »so fordr' ich mein Jahrhundert in die Schranken; das neue, neunzehnte, wohlgemerkt.« Er ließ Pfitzenmeyer los und faßte den geängstigten Stöckle unter dem Arm. »Hast du schon etwas von einem namens Friedrich Schiller gehört? Ich hätte seinen Don Carlos in der Tasche, wenn ich meine Kutte anhätte. Er war ein Karlsschüler und was für einer! O tempora, o mores! Sind wir dagegen Stümper! hat die ›Räuber‹ geschrieben und ist durchgebrannt, als wär' er selbst einer. Ein nachahmungswertes Beispiel, Stöckle!«

»Erzähl uns etwas daraus!« bat Pfitzenmeyer, der sich rasch erholt hatte und sich in das Unabänderliche zu fügen schien.

»Wenn der Seeger nur nicht so laut schreien wollte!« meinte Stöckle. »Es wird einem angst und bang.«

»Erzähl du, Fischer; eins von deinen Märchen von der Alb. Er weiß mehr als ihr alle zusammen«, erklärte Berblinger.

»Kinderstubengeschichten!« warf Seeger verächtlich hin. »Altweibergeschwätz!« Aber er besetzte eine Holzbeige, die hinter ihm stand und auf der sich Busch schon ausgestreckt hatte. Stöckle und Pfitzenmeyer nahmen auf zwei umgestürzten Feuereimern Platz, die sie in einer Ecke fanden. Das Trüpplein beruhigte sich allmählich; Fischer aber begann, ohne sich weiter bitten zu lassen, seinen hübschen Bubenkopf gegen den Mond gerichtet, als ob er dort oben abläse, was er erzählte.

»Wir brauchen nicht auf die Alb zu gehen, wir haben es näher. Wißt ihr, weshalb das Wasser im Blautopf so blau geworden ist, daß es niemand begreift? Als noch die Burg auf dem Rucken stand, wohnten dort zwei Grafen. Die gingen im Tal spazieren und fanden an der Quelle hinter dem Johanniskirchlein, das in uralter Zeit gebaut worden war, wo jetzt unser Kloster steht, einen blauen Stein. Der glänzte und funkelte wie nichts Gutes. Als aber der eine ihn aufhob, war er vor den Augen seines Bruders plötzlich verschwunden. Der rief ihn voll Angst, konnte auch sein Antworten hören, konnte ihn aber nicht sehen. Da der unsichtbare Bruder darüber selbst erschrak – denn er merkte nichts von seinem Verschwinden und konnte sich das ängstliche Rufen des anderen nicht erklären –, ließ er den Stein fallen, worauf ihn der Bruder wieder sah.

Dies versuchten sie mehrere Male. Bald nahm der eine, bald der andere der Brüder den Stein in die Hand, und wer ihn in der Hand hatte, war unsichtbar, bis er ihn fallenließ. Darauf erkannten sie, daß dies ein Zauberstein aus der alten Heidenzeit war und bedachten, welch wundervolle Dinge sie damit ausführen könnten, indem sie unsichtbar in der Leute Tun eingriffen, wo und wie es ihnen gut dünkte, von allerhand Schabernack nicht zu sprechen, der sich so ungestraft ausführen ließ. Aber als sie von ungefähr mit dem Stein unter die Pforte des Kirchleins des heiligen Johannes traten, kam sie ein großes Zittern an und sie sahen, daß ihnen der Teufel den Stein in den Weg gelegt hatte. Da nahmen sie ihn und schleuderten ihn in den Blautopf. Das gurgelte und wirbelte und zischte und dampfte, daß sie wohl sahen, welch höllisch Ding der Stein sein mußte. Noch heute aber liegt er in der unergründlichen Tiefe, gibt dem Wasser eine Farbe, die den Gelehrtesten ein Rätsel ist, und selbst der Teufel, dem er gehört, kann ihn nicht mehr heraufholen.«

»Und die Moral der Geschichte?« fragte Pfitzenmeyer unbefriedigt.

»Will der auch noch eine Moral!« höhnte Seeger. »Ist dir die Geschichte nicht blau genug? Eins jedoch hast du vergessen, Fischer«, fuhr er sehr ernsthaft fort. »Beim Hineinwerfen zersprang der Höllenstein und ein Stückchen davon blieb am Ufer zurück. Mit dem bauten die frommen Ritter das Kloster Blaubeuren. Teufelssteine geben aus. – Aber sagt' ich's nicht: Altweibergewäsch! Was haben wir mit dem Wasserloch zu tun, an das uns der Kuckuck gebannt hat. Ich hätte den Stein sicherlich nicht aus der Hand gegeben! Bei Zeus! Wenn wir ungesehen am Herrn Prälaten vorbeispazieren und alle Abende im Ochsen zu Gerhausen unser Schöppchen trinken könnten, anstatt hier im Trockenen zu sitzen und den Mond anzuseufzen! Altweibergeschichten! Dagegen wünsch' ich mir einen Luftballon wie der, mit dem der Musje Bellisle in Cannstatt davongondelte: ein Ding wie eine große Papierkugel, ein wenig Feuer darunter, und fort geht's. Wie wär's, wenn wir, anstatt auf dem Fenstersims zu sitzen und zu schwatzen, davonschwebten in die Nacht hinaus, in die Freiheit hinein!«

Alle sechs drängten sich um das offene Fenster.

» Attempto!« fuhr Seeger begeistert fort. »Hat nicht der wackere Bräunlin erst gestern auseinandergesetzt, niemand sollte ohne einen klassischen Wahlspruch durchs Leben gehen und er erwarte in der nächsten Stunde, daß jeder den seinen mitbringe und zu begründen bereit sei. Seid ihr präpariert? ›Attempto‹ stand auf dem Wappenschild des besten alten Württembergers. Das soll auch auf dem meinen stehen, bis ich Konsistorialrat bin gleich meinen Vätern.«

Damit setzte er sich rittlings auf das Gesims, das eine Bein keck in die Freiheit hinauswerfend, und gab sich den Anschein, als ob er im nächsten Augenblick an der Außenwand des Gebäudes hinabgleiten wollte.

» ›Viribus unitis!‹« rief Busch, indem er seinen Freund am anderen Bein packte und ihn ernstlich in Gefahr brachte, sich nach außen zu überstürzen. Doch mit einem zornigen »Kamel!« klammerte sich dieser an Fischer an, der ihn lächelnd hereinzog.

» ›Nulla dies sine linea‹ soll mein Wahlspruch sein«, sagte Pfitzenmeyer. »Passet auf, damit kommt man am weitesten.«

»Der vertierte Streber!« murrte Busch. »Keine Spur von Ideal. Und du, Stöckle?«

»Mein Vater hat mir zwei auf den Weg gegeben«, entgegnete der Befragte unentschlossen. » ›In hoc signo vinces‹ und ›Medio tutissimus ibis‹. Ich solle selbst wählen, hat er gesagt.«

»Hast du gewählt?«

»Noch nicht.«

»Ich würde dir raten, dich an das ›In hoc signo‹ zu halten«, sagte Seeger herablassend. »Dabei kannst du immer denken, was du willst, und daß du noch ein hervorragender Taugenichts wirst, scheint mir eine ausgemachte Sache. Nun fehlt noch der Fischer und der Berblinger.«

» ›Post nubila, Phoebus!‹« sagte Fischer, schwärmerisch an den Mond hinaufsehend.

»Meint er den Sonnengott?« fragte Busch.

»Nein, den Poeten oder einige von den neun Musen«, erklärte Seeger. »Er hofft, Gedichte zu machen, wenn's ihm im Kopf nebelt. Der kann's noch weit bringen. Und du, Berblinger? Der Kerl träumt wieder an einem Rechenexempel herum.«

Berblinger hatte sich in der Tat schweigend über die Brüstung gelehnt. Er war sichtlich kaum mehr bei seinen Kameraden.

»Mein Wahlspruch?« fragte er erschreckt. »In die Nacht hinaus – in die Freiheit hinein, Seeger. – ›Excelsior!‹«

Sogar Seeger schwieg einen Augenblick. Der Ton war ihm zu ernst. Da brach plötzlich eine schneidende Stimme im tiefsten Dunkel der Halle los:

»Ihr infamen Schlingel! Ihr frechen Taugenichtse und Nachtschwärmer!«

Dann aber ging die Strafpredigt in rollendes Latein über, und auch Professor Gaum konnte das ›Quousque tandem‹ nicht umgehen, das seine Schüler vor einer halben Stunde gemißbraucht hatten. Die kleine Schar der jugendlichen Verbrecher war wie weggeblasen, leider nicht, ehe Gaums scharfes Auge jeden einzelnen erkannt hatte. Halblaut weiter grollend trat er in das volle Mondlicht, zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche seines Schlafrockes, der den Mangel von Beinkleidern notdürftig verhüllte, und verzeichnete in der musterhaft deutlichen Schrift, auf die er stolz war, sechs Namen. Dann blickte auch er – allerdings kopfschüttelnd – zum Mond empor und murmelte mit einem nicht wohlwollenden Lächeln: »Schön, sehr schön! Das soll dem halben Dutzend morgen eingerieben werden! Ordnungswidriges Herumstreichen, nächtliche Ruhestörung, Entweihung des Dorments durch fortgesetzten deutschen Diskurs. Das fehlte noch!«

Dann schloß er bedächtig die noch offenen Fensterflügel, und lautlos zog jetzt die Nacht über das – von außen betrachtet – friedlich schlummernde Kloster.


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