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12. Ein Ende mit Schrecken

Noch acht Wochen! Die Jungen durften sich nichts merken lassen, wenn sie nicht wegen mangelnden Dekorums karieren wollten, aber trotzdem ging eine sichtliche Erregung, ein Gefühl nahender Befreiung durch das Kloster. In weniger als zwei Monaten mußte die Promotion Blaubeuren verlassen, um in die höhere Klosterschule Bebenhausen überzusiedeln. Man wußte es zwar von älteren Brüdern und Vettern, daß der dortige Prälat ein ganz andrer Herr war als der gute, ängstliche Kleß, der sich selbst nur durch den Schein der Härte aufrecht erhielt, auch daß sich die Wälder um Bebenhausen mit dem herrlichen Blautal nicht messen konnten, allein für die Jugend genügt die Aussicht auf Wechsel, um die Hoffnung in allen Farben schillern zu lassen. So freute sich die junge Schar, wenn auch nur heimlich, und man hatte auf dem Dorment schon lange nicht mehr so viele fröhliche Gesichter, im Kreuzgang und Klosterhof so viele munter plaudernde Gruppen gesehen als in den Tagen des zweiten Spätsommers, den sie in Blaubeuren verlebten.

Berblinger machte eine Ausnahme. Er schien verschlossener als je und ging wie träumend unter den andern umher. Im Hörsaal hing er halb schlafend über seiner hebräischen Grammatik oder seiner griechischen Chrestomathie, und nicht bloß der grimmige Gaum hatte ihn in letzter Zeit mit einer donnernden Philippika über die unausbleiblichen Folgen unverbesserlicher Zerstreutheit aufzurütteln. An seinem Arbeitspult in der Erkerstube – die Museen hatten ihre Namen – malte er unerklärliche Figuren auf den Rand seiner Schreibhefte, die er erschreckt wieder herauszuradieren versuchte, oder bedeckte die Pultdeckel mit dem Anscheine nach bedeutungslosen Zahlen. Selbst seinem Freund Fischer, der ihn für krank hielt, wurde es zu bunt. Bleich genug war er, und Fischer wußte, daß er nachts stundenlang sein Bett verließ und sich wie ein Gespenst auf dem Dorment umhertreiben mußte. Da ihn aber Berblinger erregt und fast ängstlich gebeten hatte, ihn in Ruhe zu lassen, es werde schon besser werden, ließ er sich den eignen Schlaf durch die Sorge um den Freund nicht länger rauben und schlief wie die übrigen acht Zöglinge in der ›Glockenkammer‹ den gesunden Schlaf der Jugend, den jener besser hätte brauchen können als er.

So ruhten sie trotz des hellen Mondlichts, das sich durch die niederen Fenster über die zehn schmalen Betten ergoß, als sich Berblinger wieder einmal aufrichtete und lauschte. Es drohte keine Gefahr. Sie schnarchten, die einen laut, die andern leise, und die zwei ihm Nächstliegenden, die er absichtlich vorsichtig anstieß, schliefen lautlos, aber fest wie Murmeltiere. Rasch kleidete er sich an und schlich auf den Zehenspitzen nach der Türe. Sie knarrte laut, und er hielt einen Augenblick still. All das geschah, als ob er es schon zehnmal getan hätte, ohne Aufregung, geschäftsmäßig. Nur einer der Schläfer brummte etwas von unmenschlich frühem Aufstehen und drehte sich mürrisch der Wand zu. Berblinger schloß jetzt die Türe hinter sich und ging leise, aber entschlossen nach dem hinteren Ende des finsteren, holzgewölbten Ganges, wo derselbe, scharf nach links abbiegend, der Klosterkirche entlang läuft.

Dort stand er vor einem altertümlichen Seitentörchen still, unter dessen Spitzbogen in Stein gehauen und trotz der Dunkelheit erkennbar die heilige Veronika ihm das Schweißtuch des Erlösers entgegenhielt. Die Türe war aus Eichenholz, schwarz vom Alter, zwei rostzerfressene Riegel hatten längst keinen Halt mehr im Gemäuer, ein wunderliches Schloß schien seit ein paar Jahrhunderten unberührt geblieben zu sein. Der Junge zog einen gekrümmten Nagel aus der Kutte, steckte ihn ins Schlüsselloch und drückte und drehte ihn eine Zeitlang hin und her, ohne Ungeduld, als wäre er seiner Sache sicher. Nun schnappte etwas, so laut, daß es im Gang ein Echo wachrief und er wieder lauschend stehen blieb. Die Stille wurde nicht weiter gestört, das Türchen aber zeigte eine schwarze, klaffende Spalte und drehte sich langsam und lautlos in seinen Angeln, als wäre es erst kürzlich geölt worden.

Am Ende eines kurzen engen Ganges fiel aus drei kleinen gotischen Fensteröffnungen ein matter Schein in das tiefe Dunkel, das ihn umgab. Er trat rasch vor eines dieser Fensterchen und sah in das Kirchenschiff hinab, das durch die großen Chorfenster vom Mond fast taghell erleuchtet war.

Er befand sich in jenem eigentümlichen, erkerartigen Ausbau, der in den meisten Klosterkirchen der alten Zeit zu finden ist und dazu diente, dem Abt die durch die Regeln gebotene Anwesenheit bei den Messen zu gestatten, ohne daß er sich selbst in das Gotteshaus hinunter zu bemühen brauchte. Mit der Reformationszeit war die Blaubeurer Klosterkirche außer Gebrauch gesetzt worden und an ihre Stelle die Kirche des Städtchens getreten. Auch war bekanntlich in den folgenden Jahrhunderten der Sinn für die Schönheiten der mittelalterlichen Kirchenbauten geschwunden. So waren auch hier Syrlins zierliche Chorstühle tief mit Staub bedeckt und dem Zerfall nahe, der später wieder berühmt gewordene Hochaltar unter Brettern und Balken eines alten Baugerüstes begraben, die Orgel von der eigentümlichen Empore im Querschiff verschwunden. Dieses Querschiff, das nach Norden hin die Kapelle der heiligen Ursula enthalten hatte und mit seinem südlichen Flügel in den eigentlichen Klosterbau einschneidet, trennt die Kirche in zwei Teile: den östlichen Chor und das westlich sich anschließende geräumigere Schiff mit seinen nach innen springenden Pfeilern, das heutzutag in eine Turnhalle umgestaltet ist. Seit Jahren hatte die Frau Prälat und, in beständigem Kampf mit ihr, der Klosterverwalter Hofrat Scholl von diesem stattlichen Raum Besitz ergriffen, während sich um die Chorseite niemand zu kümmern schien. In jenem brachte der Hofrat alte Fässer, die Kutsche des Prälaten und zwei zerbrochene Schlitten, ja selbst etliche Pflüge und Eggen unter, die in früheren Zeiten vom Kloster gebraucht worden waren. Die Frau Prälat benutzte die verweltlichte Halle, um an Regentagen Wäsche zu trocknen und im Sommer über Nacht Betten aufzubewahren, die während des Tags vor ihrer Wohnung gesonnt wurden. Von der früheren Heiligkeit des Orts war nichts mehr zu verspüren, so daß in dieser Hinsicht Berblinger kein Sakrilegium beging, als er eine Waschleine, die auf dem Altan versteckt gelegen hatte, am Steinwerk befestigte, sich durch das Fensterchen drängte und mit der Gewandtheit eines Jungen, der sich auf bösen Wegen befindet, an dem Strick auf den Boden der Kirche hinabglitt.

Er hatte offenbar Großes vor und ging mit einer Sicherheit und Bestimmtheit zu Werk, die ihm niemand zugetraut hätte, der ihn über seinen lateinischen Argumenten und griechischen Hebdomadarien hatte seufzen sehen. Zunächst schob er etliche schwere Bretter, die gegen die Rückseite des Hochaltars gelehnt waren, auf die Seite. Unter denselben lagen drei kleine zerdrückte Papierkugeln, die er mit dem Fuße wegstieß, um eine mehr als mannslange Masse ähnlichen Papiers hervorzuziehen, welche er sorgfältig ausbreitete. Sie hatte die Form eines plattgedrückten Schlauchs oder Sacks. Mit großer Vorsicht trug er den rätselhaften Gegenstand nach der Empore am andern Ende des Chors, von deren Geländer ein Bindfaden herabhing, den er wohl bei früherer Gelegenheit angebracht hatte. Ein paar gefährlich wackelnde Böcke, die Maurern gedient haben mochten, ermöglichten es ihm, das herabhängende Ende der Schnur zu erreichen und den Papierschlauch daran aufzuhängen, so daß sein unteres Ende etwa einen Meter vom Boden entfernt war. An diesem Ende befand sich ein rundes Loch, durch das er mit dem Arm und schließlich mit dem ganzen Oberkörper in das Innere des Papiermantels schlüpfen konnte und denselben nach allen Seiten ausbauschte. Das wunderliche Ding nahm mehr und mehr die Form einer unregelmäßigen Kugel oder eines riesigen Kopfes an, der auf zwei Beinen stand. Wer es in diesem Augenblick inmitten des gespenstig erhellten Kirchenchors gesehen hätte, wäre nicht ohne einen gelinden Schrecken davongekommen. Einem späteren Geschlecht wäre es allerdings kaum zweifelhaft gewesen, daß es sich um einen Ballon handelte, der auf seine Füllung wartete.

Berblinger schlüpfte jetzt heraus und betrachtete sein Werk mit einem Gefühl von Stolz und Erwartung, das seinen Augen einen seltenen Glanz gab und das Rot auf seine bleichen Wangen trieb.

Von der Mitte der Papierhülle hingen Bindfäden bis zur Erde herab. Sie wurden an Stiften befestigt, die in einem auf dem Boden liegenden runden Brett staken, auf das er jetzt mehrere Backsteine legte. All diese Gegenstände brachte er hinter dem Hochaltar hervor, wo er ein förmliches Magazin angelegt zu haben schien. Der Rand der Öffnung am unteren Ende des Schlauchs war durch eine kreisförmig zusammengebundene Weidengerte verstärkt, von der ebenfalls Bindfäden herabhingen. An diese befestigte er jetzt den blechernen Deckel eines Topfs, und zwar so, daß dessen hohle Seite nach oben gekehrt war. Auch dies schien ihn lebhaft zu befriedigen. Mit leichten, leisen Schritten eilte er wieder hinter den Altar und kehrte mit einem Steinkrug zurück, aus dem er in den als Schale dienenden Deckel eine stark riechende Flüssigkeit goß. Es war roher Zwetschgenbranntwein, den er durch Buschs Vermittlung von einer gutherzigen Wirtin in Sonderbuch erhalten hatte, die sich nicht wenig über die Entartung der künftigen Seelsorger des Landes entrüstete: »Bier – ja! So viel sie wollten und bezahlen konnten, aber Schnaps!« – Und nun ging es ans Feuerschlagen, und auch das gelang, obgleich nicht ohne Mühe. Ein kleines Flämmchen glimmte zwischen seinen Fingern, und einen Augenblick später brannte eine große blaue Flamme ruhig unter dem Ballon, vor dem er sich, um sie besser beobachten zu können auf die Knie warf. Man hätte vermuten können, ein Feueranbeter sei in die alte Klosterkirche geraten.

Es war der fünfte und der weitaus größte Ballon, den er heimlich zusammengeklebt hatte. Sie waren stetig gewachsen, und alle hatten bisher im Augenblick ihres Aufstiegs den Weg durch das zerbrochene Fenster genommen, das die Ursache eines lebhaften Luftzugs in dieser Richtung war. Bei den vorangegangenen Versuchen war es ihm nur darum zu tun, die von der verdünnten heißen Luft getragenen Kugeln emporsteigen und dann fliegen zu sehen. Diesmal sollte ihre Tragfähigkeit geprüft werden, denn auch er wollte schließlich, wenn einmal die Klostermauern hinter ihm lagen, Ballons bauen, die ihn selbst über alle Berge trügen, auch wenn er irgendwo auf der Alb Landpfarrer geworden wäre. Dann erst recht! Von oben herunter, wie ein Engel vom Himmel, gedachte er seinen Mitmenschen zu erklären, daß eine neue Zeit angebrochen sei und daß sie alle in Zukunft frei vom Erdenstaub durch die Lüfte fliegen könnten, wenn sie nur wollten.

Jetzt setzte er sich auf einen der bresthaften Böcke und sah mit leuchtenden Augen, wie sich die Hülle langsam dehnte, als wäre es ein lebendiges Ding, wie hier eine Beule, dort eine Falte verschwand und das Ganze mehr und mehr eine hübsche kugelige Gestalt annahm. Das hatte er seinem geliebten Lehrer Zeller zu danken, der ihm gezeigt hatte, wie sich die Form der einzelnen Papierstreifen, aus denen die Ballonhülle bestand, berechnen ließe. Selbst an Professor Gaum dachte er zum erstenmal mit Vergnügen. Dieser hatte ihnen erst gestern gesagt, daß der Philosoph Zeno die Kugel für die vollkommenste Gestalt im Universum erkläre und daß sich deshalb die höchsten und vollkommensten Geister auf andern Welten zweifellos in Kugelform materialisierten. War nicht auch seine Geistesarbeit im Begriff, mehr und mehr eine Kugelform anzunehmen?

Von Zeit zu Zeit speiste er das Feuer unter dem Ballon mit ein paar Löffeln frischen Branntweins, das dann hoch aufflammte und den Ballon in leises Schwanken versetzte. Bereits hing derselbe nicht mehr an dem ihn von oben haltenden Bindfaden, welcher ganz schlaff geworden war, sondern umgekehrt an den sechs Schnüren, die ihn mit dem belasteten Brett am Boden verbanden.

›Wie fett er geworden ist‹, dachte der junge Erfinder, leise lachend, ›und dabei sieht es aus, als ob er atmete, wie ein lebendes Wesen. Aber das alles ist nur ein Anfang. Wenn ich einmal die Klostermauern hinter mir habe, sollen ganz andre Dinge gebaut werden. Was ich jetzt mit Müh und Not und in hundert Ängsten zusammenbringe, ist, was der berühmte Montgolfier längst vor mir gemacht hat. Schweben, vom Wind getragen werden, wohin es dem Wind beliebt, das kann jede Feder, jeder Strohhalm, jedes Wölkchen. Ohne Zweifel muß man von einem Ding wie ein Ballon getragen werden, dann aber gilt es zu fliegen, nicht wo der Wind, sondern wo der Wille hinweist. Das soll mein Ziel sein! Dann erst hat die Sache Bedeutung für die Menschen, die wollenden, freien!‹

Nun aber war es Zeit. Der Ballon schwebte; seine Hülle fühlte sich fast heiß an. Berblinger stieg auf den Bock, auf dem er gesessen hatte, und schnitt den Bindfaden durch, der schlapp von der Decke hing. Dann rückte er das Brett mit den Ziegelsteinen nach der Mitte des Chors. Der Ballon schwankte hin und her, wie wenn er sich von seinen Fesseln befreien wollte. Er schwebte nun mitten im Mondlicht, das durch die südlichen Chorfenster hereinfiel. Mattblau, aber groß und unruhig brannte die Flamme, die ihm Leben gab. Es war herrlich und doch ein wenig grausig anzusehen. Der Junge zitterte jetzt ein wenig und sein Herz schlug fast hörbar.

Nun nahm er einen Backstein von dem Brett und jetzt den zweiten. Mit dem dritten hob sich der Ballon lautlos, langsam, feierlich – mannshoch – zweimal mannshoch. Berblinger stand da, andächtig nach oben starrend, als ob ein Wunder vor ihm aufstiege. Er vergaß nach dem Bindfaden zu greifen, an dem er ihn zurückziehen wollte. Das Ende der Schnur hing schon hoch über seinem Kopf, als ihm dies einfiel.

Und nun, in mehr als halber Höhe des Chors, machte der Ballon eine seitliche Bewegung und zog, ohne anzustoßen, über die Empore weg nach dem westlichen Schiff der Kirche. Bebend vor Aufregung lief Berblinger unter der Empore durch, trat die morsche Türe ein, die den Chor von dem Schiff trennte, und bemerkte emporsehend, wie der Ballon plötzlich wieder zu steigen begann und sein blaues Flämmchen wie ein großes Irrlicht schon die Sparren des Dachstuhls erhellte.

Jetzt stieß er an und neigte sich, wie nach einem Ausweg suchend, bald nach links, bald nach rechts. Starr, mit dem Gefühl, daß er träume, sah dies Berblinger. Und jetzt – ein jäher Schreck! – stürzte blaues Feuer wie Wasser von oben herunter und droben schlug eine große rote Flamme in die Höhe, aus der Fetzen von Feuer nach allen Seiten hinausschossen.

Gleichzeitig wurden außerhalb der Kirche Stimmen laut: Feuer! Feuer! – wütendes Rütteln am Hauptportal, dann dumpfe Schläge und das krachende Einbrechen eines Torflügels.

Berblinger sank auf die Knie, schloß die Augen und drückte sein Gesicht auf die Steinplatten. Die ganze Welt schien ihm in Flammen zu stehen. Er wußte für den Augenblick nicht mehr, was er tat, noch was ihm geschah.

 

»Sebastian!« hatte eine halbe Stunde zuvor aus dem Schlafzimmer der Prälatur eine energische und keineswegs ruhebedürftige Altstimme gerufen; aber der Ruf verhallte, ohne irgendwelches Zeichen der Erwiderung zu wecken. Im Gegenteil: der Prälat beugte sich nur noch tiefer über das dickleibige Manuskript, in dem er sein Lebenswerk sah: ›Die Synonyma der lateinischen Prosaiker in doppelter alphabetischer Anordnung mit erklärenden Bemerkungen bezüglich der Sinnesunterschiede besagter Synonyma.‹ Dabei stellte er sich, obgleich er wußte, daß ihn niemand beobachtete, als ob er nichts gehört hätte.

»Sebastian! Zehn Uhr!« rief es wieder, lauter, ärgerlicher.

Das Werk war vollendet. Er war im Begriff, die letzte Feile an die in tadellosem Latein verfaßte Widmung an Seine Erlauchteste Hoheit den Kurfürsten Friedrich I. von Württemberg zu legen. Selbst diese feierliche nächtliche Stunde, in der er gewissermaßen in Gegenwart seines Allerhöchsten gnädigsten Herrn stand, sollte nicht ganz ungestört sein eigen sein. Er legte die Feder weg und lauschte. War es wirklich ernst?

»Sebastian, wenn du nicht gleich kommst, komme ich!« tönte es jetzt aus dem Schlafgemach, aber im selben Augenblick schmetterte auch der dünne Klang einer zersprungenen Glocke durch das ganze Haus.

»Siehst du!« antwortete endlich der Gemahl im Ton eines unschuldig Verurteilten. »Siehst du, wie gut es ist, daß ich noch auf bin. Aber wer um Gottes willen kann das sein?«

Er öffnete einen Fensterflügel und rief mit ärgerlicher Stimme:

»Wer ist unten? – He, wer läutet denn noch so spät?« und damit begann ein unverständliches längeres Parlamentieren mit einer erregten, zweifellos weiblichen Stimme. Wohlanständig bekleidet, aber allerdings in einem Negligé eigenster Bauart, trat jetzt die Frau Prälat unter die Türe ihrer Kemenate.

»Na, wer ist denn drunten?« fragte sie ungeduldig.

»Des Hofrats Rosine!« erklärte der Prälat, den Kopf hereinziehend, um ihn sofort wieder hinauszustrecken.

»Aber was ist denn los?« fragte seine Frau mit wachsender Dringlichkeit.

»Sei still! Es sei wieder hell – drüben!« versetzte der Gemahl, diesmal nach außen sprechend.

»Dann laß mich hin!« Damit griff sie nach den herabhängenden Gürtelbändern seines Schlafrocks und zog ihn vom Fenster zurück, wie ein gutes Ackerpferd, das man am Feldende wendet. Ebenso gehorchte er.

Nun nahm die Besprechung eine scharfe Wendung und war laut genug, um von jedermann verstanden zu werden. Auch war es jetzt von unten eine männliche Stimme, die eingriff.

»Bitte, öffnen Sie! Ich muß den Herrn Prälat sprechen«, sagte die Stimme unhöflich.

»Aber es geht schon gegen elf Uhr.«

»Es ist fünf Minuten nach zehn, und ich muß den Herrn Prälat sprechen«; dies mit sehr scharfer Betonung von ›muß‹ und ›Herrn‹.

»Er schläft schon!« rief die Prälatin nach außen und sodann leiser nach innen: »Es ist der Hofrat. Du schläfst schon.«

Dem Hofrat gegenüber war nach altem Herkommen jede Kriegslist erlaubt.

»Bitte, ihn zu wecken«, tönte es zurück. »Ich muß ihn sprechen und zwar sogleich, amtlich.«

»Hat man je etwas dergleichen erlebt?« fragte die Prälatin mit zornerstickter Stimme und stampfte auf den Drücker, der die Haustüre öffnete. »Ich hoffe, du wirst ihn lehren, was er der Prälatur schuldig ist, Sebastian. Ich bitte mir aus, daß du es ihm so sagst, daß er es nicht mißverstehen kann.«

Aber schon klopfte es an der Zimmertüre. Die Frau Prälat machte eine Bewegung, als ob sie das Schlachtfeld räumen wollte, erinnerte sich jedoch noch rechtzeitig ihres natürlichen Mutes und beschloß, dem Gegner zu trotzen, obgleich nur mangelhaft bewehrt. Es war in der Tat der Hofrat und Klosterverwalter Scholl in eigner Person und hinter ihm Rosine, mit einer großen Stallaterne. Er war sichtlich sehr aufgeregt.

»Herr Prälat«, begann er schon auf der Schwelle, »ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es in Ihrer alten Kirche wieder – hm – spukt.«

»Es wäre gut«, versetzte die Prälatin, »wenn Sie Ihre Hühner besser im Auge behielten, als Dinge, die uns betreffen. Sie haben mir gestern wieder den Salat abgefressen.«

Der Hofrat hatte die Rücksichtslosigkeit, dies völlig zu überhören. Er fuhr fort:

»Rosine, unsre hier anwesende Magd, bemerkte die unerklärliche Helle schon vor einer halben Stunde, und soeben kommt auch der Nachtwächter Köberle mit einer ähnlichen Meldung. Ich würde die Angelegenheit längst untersucht haben, wenn sich nicht die Schlüssel zur Kirche seit 1792 in Ihren Händen befänden, Herr Prälat. Ich dringe aber nunmehr darauf, kraft meines Amtes als Klosterverwalter, daß die Angelegenheit untersucht wird.«

»Da ist nichts zu untersuchen«, antwortete die Frau Prälat. »Ich habe selbst heute nach dem Sonnen meine Betten hineinlegen lassen. Es ist alles in Ordnung. Das muß ich doch wissen – Herr – Herr Hofrat!«

»Ich bitte Sie dringend, der unheimlichen Sache auf den Grund zu gehen«, drängte Herr Scholl hartnäckig. »Meine Frau leidet an Schlaflosigkeit, seitdem uns diese Spukgeschichte beunruhigt. Sie können sich denken, wie unangenehm dies ist.«

»Ja, muß ich denn?« fragte der Prälat. »Wo sind die Schlüssel? Aber es ist ja schon weit über zehn Uhr, wenn ich recht weiß.«

»Gut!« sagte die Prälatin entschlossen. »Mir liegt selbst daran, daß die Frau Hofrätin besser schläft. Wartet einen Augenblick. Ich muß doch wohl etwas anziehen.«

Vor der Haustüre fanden sie bereits drei weitere Leute: den Nachtwächter Köberle, den Oberfamulus Leuze und den Stadtschultheißen, der zufällig nach einem Extraschoppen in der Rappenmühle auf dem Heimweg begriffen war.

»Es war heute heller als jemals«, sagte er unruhig. »Ich glaube nicht daran, natürlich; aber es war zweifellos heller als vor acht Tagen, trotz des Mondlichts. Mehr bläulich.«

»Ich habe die Schlüssel. Vorwärts!« befahl die Prälatin.

In der Tat, die zwei Kirchenfenster rechts und links vom Seitengiebel des Hauptschiffs, die von Rechts wegen pechschwarz hätten sein sollen, zeigten einen lichten, blaugrünen Schimmer, und dies, bemerkte der Schultheiß flüsternd, soweit es sein Bierbaß gestattete, war die Südwestseite der Kirche und nicht der Chor, wo der eigentliche Spuk hause. Die Frau Prälatin schritt jedoch entschlossen voran, ohne ein Wort zu sprechen, dem Kirchenportal zu. Etwas zögernd folgte die übrige Gesellschaft, an die sich jetzt auch der Klosterschneider und der Stadtbüttel angeschlossen hatten. Der Unterfamulus Möhrle, nach dem der Prälat mehrmals rief, war, wie Leuze vermutete, noch in der Rappenmühle beim Bier.

»Hab' ich recht?« fragte Rosine den Schneider, nach den Fenstern deutend. »Ich gehe keinen Schritt weiter.«

»Du bist halt eine alte Gans!« erwiderte dieser grob, blieb aber selbst stehen und lehnte sich gegen die Gartenmauer, die bis an das Portal den grasbewachsenen Weg entlang läuft.

Und nun geschah etwas, von dem man noch nach Jahrzehnten in Kloster und Stadt zu erzählen wußte. Die Prälatin schrie auf: »Jesus Christus!« und griff nach dem Arm ihres Mannes. Aus den beiden Giebelfenstern der Kirche wehte eine blutrote Glut, als ob der Dachstuhl in Flammen stände, und hinter der Kirche schrie jemand – es war der Unterfamulus Möhrle – »Feuerjo, Feuerjo!« als ob er am Spieße stäke.

Nur für einen Augenblick hatte die Prälatin die Fassung verloren; dann stürzte sie vorwärts und ihr Mann – es sei zu seiner Ehre gesagt – ihr nach. Auch der Hofrat bewies, daß er ein Mann war, und alle drei rissen sich wechselweise den Schlüssel aus den Händen und bemühten sich minutenlang, ihn in ein falsches Schlüsselloch zu stecken, dessen rätselhaftes Dasein schon oft besprochen worden war. Mittlerweile schrie Möhrle hinter der Kirche noch immer Feuer! Feuer! schien sich aber nicht von der Stelle zu rühren. Der Schneider war auf den Boden gesunken und wehrte sich gegen Rosine, die ihn auf die Beine stellen wollte, und die düstere rote Glut fuhr fort, aus den beiden Fenstern in die Nacht hinauszustrahlen. Jetzt antwortete auch im Städtchen ein Feuerjo! dem Gebrüll hinter der Kirche und ein grauenhaftes Blasen auf einem vorsintflutlichen Horn heulte durch das Tal. Nun kamen zwei, drei weitere Leute gelaufen, voran im Hemd der Klosterküfer, ein baumstarker Mann mit braunrotem Gesicht, der übrigens in seinem Element zu sein schien. Mit einem Blick sah er die drei Spitzen der Klostergesellschaft sich vergebens am Kirchenschloß abarbeiten, riß einen neben dem Portal stehenden Waschpfosten aus dem Boden und rannte mit ihm, ihn wie einen Speer gebrauchend, gegen das Tor. Dreimal donnerten die dumpfen Schläge durch die Nacht und weckten ein unheimliches Doppelecho vom Fuchsfelsen und vom Rucken herüber. Dann stürzte ein Torflügel krachend nach innen.

Alle blickten nachdringend mit gierigem Entsetzen in das Innere der Kirche. Oben im Gebälk des Dachfirstes brannte eine unheimliche weiße Gestalt, die sich wie in Höllenqualen hin und her wand, und sandte flatternde Feuerfetzen nach unten. Es war wie die umgedrehte Hölle, erklärte Rosine nachträglich. In der Mitte des Schiffes kniete ein kleiner Mann, den man an der schwarzen Kutte als einen Klosterschüler erkannte, was dem Prälaten seine Würde und seinen ganzen Mut wiedergab. Die Prälatin aber schrie zum zweitenmal laut auf und stürzte vorwärts: »Oh, meine Betten! Meine Betten!« Rasch entschlossen ergriff sie ein am Boden liegendes Brett und schlug auf die Flämmchen, die bereits da und dort recht ansehnliche Löcher in den weißen Zeug von Kissen und Decken gebrannt hatten und die Kirche mit dem fürchterlichen Geruch von verbrannten Federn erfüllten. Auch draußen wurde es lebendiger. »Wasser! Feuer! Wasser!« schrie es durcheinander, und jetzt hörte man wildes Gerassel. Mit unerhörter Geistesgegenwart und ganz ohne Weisung der zuständigen Behörde – es war damals eben doch noch Initiative im Volk – hatte der Ortsbüttel vier Bürger gesammelt, und die neue Stadtspritze persönlich herangefahren. Allerdings, als sich das Freiwilligenkorps mit fieberhaftem Eifer daran machte, die Maschine in Bewegung zu setzen, wurde entdeckt, daß das Mundstück des Spritzenschlauchs abgeschraubt und nirgends zu finden war. In einem dicken Strahl quoll das Wasser der nahen Blau aus dem Rohr, konnte aber mit aller Anstrengung nur fünf Zoll hoch getrieben werden. Zum Glück war der Höhepunkt der Gefahr vorüber und die jetzt herbeiströmende Menge, deren mangelhafte Bekleidung selbst aus Herrn Professor Gaum eine komische Figur gemacht hatte, sah nur noch den Dachstuhl der Kirche in schwärzlichen Rauch gehüllt, die glimmenden Löcher in den Betten der Frau Prälat und Berblinger, den der Oberfamulus Leuze mit eisernem Griff am Arm hielt und dem Prälaten zuführte.

»Was soll mit dem Verbrecher geschehen?« fragte er dumpf.

»Es geht schon gegen zwölf Uhr«, sagte Kleß mit bebender Stimme. »Die äußerste Gefahr scheint überwunden zu sein. Heute ist Gott sei Dank nichts mehr zu machen. Führen Sie den entmenschten Jüngling, diesen zweiten Herostratos, direkt ins Karzer und sehen Sie, daß gut abgeschlossen wird. – Ei, ei! Hier kommt endlich der Unterfamulus. Möhrle, geh Er mit und seh' Er auch, daß gut abgeschlossen wird. Sie dürfen ganz beruhigt sein, Herr Hofrat, der Kasus wird gründlich untersucht werden. Wünsche wohl zu ruhen. Komm, Maria, es geht stark auf zwölf Uhr.«

 

Die Untersuchung gestaltete sich überaus schwierig und zeitraubend, obgleich Berblinger, wie der Prälat betonte, schon bei seiner ersten vorläufigen Vernehmung vor dem Lehrerkonvent nicht nur aufrichtige Reue, sondern auch sichtlich das Bestreben an den Tag legte, durch ein rückhaltloses Geständnis seine Lage zu verbessern. So wenigstens erklärte sich Professor Gaum diese Bereitwilligkeit des Inkulpaten. Allein dieses Geständnis, an sich voll von Unerklärlichkeiten, brachte so viele Nebenumstände ans Tageslicht, die für sich die schwersten Vergehen gegen die Klosterordnung vermuten ließen, und die Motive, die der Alumnus Berblinger für seine fortgesetzten, mit unerhörter, man kann sagen, diabolischer Hinterlist ausgeführten Übertretungen angab, waren gänzlich unglaubwürdig. Auch drohte der Sache durch den Fall Fischer eine weitere höchst unliebsam Verwicklung. So mußten nicht weniger als dreizehn Sitzungen des Konvents abgehalten werden und es vergingen trotz der angestrengtesten Arbeit, die den Prälaten sowohl als Professor Bräunlin vorübergehend aufs Krankenlager warf, drei Wochen, ehe das Protokoll, betreffend die durch den Alumnus Berblinger hervorgerufene, am 6. August 1802 drohende Feuersbrunst in der alten Klosterkirche zu Blaubeuren, dem hohen Consistorio eingesandt werden konnte, wie solches in dem besagten Protokoll, Anhang 5, des näheren mitgeteilt und begründet wird.

Während dieser Zeit wurde Berblinger selbstverständlich unter strenger Klausur gehalten, obgleich an ein Entweichen des Alumni nicht ernstlich gedacht werden konnte, und da für den erwähnten Zweck keine andre passende Lokalität aufzutreiben war, blieb er zunächst drei Wochen lang ein ständiger Insasse des Karzers. Zwar machte Hilfslehrer Zeller darauf aufmerksam, daß es immerhin gegen das übliche Verfahren und gewissermaßen gegen die Billigkeit verstoße, den noch nicht verurteilten Alumnus mit Inkarzerierung sozusagen im voraus zu bestrafen. Allein der Fall war so außerordentlich, daß auch außerordentliche Maßregeln angewendet und gebilligt werden konnten, namentlich solange die erkleckliche Sachbeschädigung an den Betten der Frau Prälat noch nicht endgültig festgestellt werden konnte. So wanderte Berblinger während dieser drei Wochen vom Karzer in das Konventzimmer und von diesem ins Karzer zurück, und fand einen geringen Trost darin, daß er die erst vor kurzem neu getünchten Wände zum Staunen späterer Geschlechter mit einer Steuervorrichtung seines Ballons bemalen und mit diesbezüglichen Berechnungen bedecken konnte. Denn es wurden ihm schon am dritten Tag auf besondre Verwendung Zellers zwei Bleistifte, und auf gemeinsamen Vorschlag von Bräunlin und Gaum ein Neues Testament, eine griechische Chrestomathie und Ciceros Schrift De officiis zum Selbststudium zugestanden.

Zunächst aber mußte die Anmaßung der weltlichen Behörden, hinter denen, wie sich bald zeigte, der Hofrat Scholl stak, energisch zurückgewiesen werden. Dieselben suchten den Fall auf Grund der nicht zu leugnenden Sachbeschädigung an dem Bettzeug der Frau Prälat vor ihr Tribunal zu ziehen, obgleich sonst, vornehmlich an dem Dachstuhl der Kirche, ein nachweislicher Schaden nicht angerichtet worden war. Zum Glück ging man in diesem Punkte konform mit der Auffassung der Frau Prälat, die sich standhaft weigerte, als Klägerin aufzutreten, nachdem sie gehört, daß die Frau Hofrätin dies ›bei ihrem Charakter‹ für selbstverständlich erklärt hatte. Dagegen entstanden in andrer Richtung große und wiederholte Schwierigkeiten, da die Frau Prälat auf Grund ihrer Betten den Anspruch erhob, zum mindesten als Zeuge den Sitzungen des Konvents beiwohnen und die Untersuchung im einzelnen verfolgen zu dürfen. Selbst der Prälat sah hierin eine noch nie dagewesene Neuerung. »Principiis obsta!« sagte er zu seiner Frau des öfteren und mit ungewohnter Energie. »Papperlapapp!« entgegnete die Gattin in leichtfertigem Ton; »Obst ist keins da, es handelt sich um meine Betten.« Das Lehrerkollegium blieb jedoch fest, und diese Differenz war hauptsächlich die Ursache, die den Prälaten aufs Krankenlager warf, so daß die Sitzungen des Konvents eine Woche lang unterbrochen werden mußten und der unglückliche Berblinger um so viel länger einem zweifelhaften, aber jedenfalls vernichtenden Schicksalsschlag entgegensah.

Der Junge selbst machte in der Hauptsache die wenigsten Schwierigkeiten. Er erklärte offen, daß er die Versuche des Luftschiffers Montgolfier, von denen er schon vor seiner Klosterzeit unterrichtet gewesen sei und die sogar im Landexamen zur Sprache gekommen, habe nachprüfen wollen. Der Hilfslehrer Zeller, der sich überhaupt bei dieser Gelegenheit zum Erstaunen der übrigen Herren etwas vorlaut benahm, obgleich ihm nur eine beratende Stimme im Konvent zugestanden werden konnte, erklärte unbefragt, daß sich hierin ein löblicher Zug der Forschung ausspreche. »Aber auf einem Gebiet«, unterbrach ihn Professor Gaum scharf, »das der Alumnus zu betreten keine Berechtigung hatte, das eines künftigen Seelsorgers sogar als unwürdig zu bezeichnen ist.« Des weiteren gab Berblinger zu, daß er seit längerer Zeit den Raum der alten Klosterkirche ins Auge gefaßt und einen Nagel krummgebogen habe, um durch das Cäcilientörchen in dieselbe einzudringen. Das alte Waschseil, mit Hilfe dessen er von dem Altan auf den Fußboden der Kirche und auch wieder zurück gelangt sei, habe er im Klosterhof gefunden, das Seidenpapier für seinen Ballon aus Ulm mitgebracht, Kleister und andre Utensilien während der Ausgangsfreiheit von Handwerkern im Städtchen entweder erbettelt oder gekauft. Es sei ihm dies dadurch ermöglicht worden, daß sein Gönner und früherer Lehrer, der Magister Krummacher zu Ulm, ihm während der Ferien einen Ulmer Gulden zu verehren pflegte.

So weit war der Kasus klar. Große Schwierigkeiten dagegen bereitete es, festzustellen, auf welche Weise der Inkulpat in den Besitz des feuergefährlichen Spiritus gelangt war, da er hierüber alle näheren Angaben verweigerte. Zweimal, nach ernstlicher Mahnung und Androhung der strengsten Maßregelung, mußte er unverrichteter Dinge ins Karzer zurückgeführt werden. Obgleich nun die Verhandlungen unter dem Siegel allseitiger tiefster Verschwiegenheit geführt wurden, scheint dies vermutlich durch Frau Professor Gaum der Promotion bekannt geworden zu sein, denn der Alumnus Busch meldete sich am folgenden Tag freiwillig beim Professor ordinarius Bräunlin und bekannte, leider ohne Kundgebung gebührender Reue, den fraglichen Spiritus in Sonderbuch gekauft und dem Berblinger geschenkt zu haben. Selbstverständlich wurden ihm sofort zwölf Stunden Karzer bei Wasser und Brot zuerkannt, da aber das Karzer von Berblinger dauernd in Anspruch genommen war, mußte die ordnungsgemäße Bestrafung des Busch auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Er karierte wenigstens bis zur Erledigung der Karzerstrafe, was dem vollblütigen Burschen gesundheitlich sehr zuträglich war.

Es kam nun auch zutage, daß Berblinger vor der Feuersbrunst sechs kleinere Versuchsballons angefertigt und zu verschiedenen Zeiten, aber natürlich immer nächtlicherweile hatte fliegen lassen und hierdurch die bekannte peinliche Erregung in Stadt und Land hervorgerufen hatte. Professor Gaum machte darauf aufmerksam, daß dieselbe nicht minder durch eine schriftliche Arbeit des Alumni Fischer geschürt worden sei, die außerhalb des Klosters eine ungehörige Verbreitung gefunden habe und schon deshalb nicht minder strafbar sei als die unsinnige Ballongeschichte. Ein Zusammenhang zwischen beiden gleich schweren Vergehen, von denen das eine auf materiellem, das andre mehr auf geistigem Gebiete sich abgespielt habe, sei mehr als wahrscheinlich. Er beantrage deshalb, den Alumnus Fischer sofort zu vernehmen und beide Angelegenheiten gleichzeitig zu verfolgen.

Dies geschah. Abwechselnd standen jetzt Fischer und Berblinger vor dem hohen Konvent und versicherten vergeblich, daß jeder unabhängig vom andern auf den Weg des Verbrechens geraten war und daß beide Wege nach sehr verschiedenen Richtungen in die Irre führten. Dies wurde teilweise anerkannt. Während nun aber Professor Gaum den Fischer für den Schuldigeren hielt, den Bräunlin mit seiner Jugend und dergleichen zu entschuldigen versuchte, fand der letztere nicht Worte genug, das dunkle Treiben Berblingers zu verdammen, ganz abgesehen, fügte er bei, von den Betten der Frau Prälat. Was ihn besonders empöre, sei die Unwahrhaftigkeit des Inkulpaten Berblinger. Denn es sei doch ganz undenkbar, daß der junge Mensch selbst geglaubt habe, Papierkugeln mittels berauschender Getränke zum Fliegen bringen zu können, da doch allgemein bekannt sei, daß der Alkohol vielmehr in umgekehrter Richtung wirke.

Doch dürfen auch die Lichtblicke, die in das Dunkel fielen, in dem der arme Berblinger wochenlang schmachtete, nicht unerwähnt bleiben. Schon seit dem zehnten Tag der Untersuchung wurde von unbekannter Seite täglich ein Körbchen köstlichen Frühobstes in sein Verlies gesandt. Möhrle stellte es schweigend auf das Tischchen, das man ihm seit dem dritten Tag gestattet hatte, war aber zu einer Erklärung nicht zu bewegen. Zuerst dachte der Gefangene an Fischers und Buschs Thusnelde. Später erfuhr er, daß die Frau Professor Gaum hinter dem Rücken ihres Mannes die heimliche Wohltäterin war und daß dies mit der vollen Zustimmung der Frau Prälat geschah, ja daß diese täglich zwei Tafelbirnen aus dem eignen Garten dazu beitrug. Noch einmal sei in dieser wahrheitsgetreuen Erzählung unglaublicher Ereignisse an das Wort unsers großen Schiller erinnert: Ehret die Frauen!

Für diese mildere Auffassung des Falles trat allerdings auch Fräulein Thusnelde aufs lebhafteste ein, welche den Spitzen der Klostergesellschaft gegenüber eine etwas andre Stellung einnahm, seitdem man entdeckt hatte, daß sie besser als irgend jemand die eingebrannten Löcher in den Kissenüberzügen der Frau Prälat zu ›wifeln‹ verstand. Dieser Umschlag berührte sogar das rauhe Gemüt Buschs, der beschloß, wenn auch nicht sogleich, so doch mit dem Umzug der Promotion nach Bebenhausen ein neues Leben zu beginnen, um sich Thusneldens würdiger zu machen. So zeigte sich auch hier, daß aus einer Untat, die der allgemeinen Verdammung sicher ist, noch Gutes entspringen kann.

Endlich war das Protokoll aufgestellt und ins reine geschrieben. Alles vermochten seine achtundfünfzig Folioseiten allerdings nicht aufzuklären, doch gaben sie dem hohen Consistorio genügend Anhaltspunkte, einen allgemeinen Einblick in das unerhörte Vorkommnis zu gewinnen und das übrigens nicht zweifelhafte Urteil über den Schuldigen zu sprechen. Der Bescheid kam denn auch zum Erstaunen des Prälaten schon nach vierzehn Tagen, und zwar war er zum erstenmal – auch ein Zeichen der Zeit, bei dem sich das Erstaunen sämtlicher Lehrer in Entsetzen verwandelte – in deutscher Sprache abgefaßt. Tröstlich war, daß keiner dem Schriftstücke den Einfluß der Klassizität in Geist und Form abzusprechen vermochte. Es bestand zwar nur aus achtzehn Paragraphen gegenüber den zweiundvierzig der Anklageschrift; dennoch würden es die Grenzen des vorliegenden Werkes nicht gestatten, dieses klassische Dokument in extenso mitzuteilen. Möge als Beweis, wie wenig Prälat Kleß Ursache hatte, sich über den hereinbrechenden Geist der Neuzeit zu beklagen, wenigstens sein letzter und für Berblingers Los entscheidender Paragraph hier eine Stelle finden.

»§ 18. Nachdem in obigem, vornehmlich in den §§ 2 bis 4, 9 und 12 bis 17 hinlänglich dargetan, daß eine die alte Klosterkirche zu Blaubeuren gefährdende Feuersbrunst stattgefunden, solche wertvolles Eigentum Privater (i. e. des Herrn Prälaten Kleß und dessen Ehegattin Maria geborene Köstlin) sowie des Fiskus (Schwärzen und vermutlich teilweises Verkohlen mehrerer Balken im Dachstuhl besagter Kirche) beschädigt respektive zerstört und unbrauchbar gemacht hat, sowie daß die Entstehung dieser Feuersbrunst keineswegs als zweifelhaft bezeichnet werden kann, sondern im Gegenteil auf schier unerklärliche Manipulationen des Alumni Berblinger zurückgeführt werden muß, und derselbe, vorausgesetzt, daß sein Geisteszustand als normal oder wenigstens annähernd normal zu betrachten wäre, er somit für seine Handlungen auch moralisch verantwortlich zu machen ist; nachdem ferner feststeht, daß sich derselbe Berblinger im Anschluß hieran eine Reihe schwerer Vergehen gegen die Klosterordnung, ja gegen wohlweislich in Kraft stehende Landesgesetze, wie die Anfertigung und Benutzung eines krummgebogenen Nagels zum Öffnen einer amtlich verschlossenen Türe, das Verlassen des Schlafsaals und das Umhertreiben auf dem Dorment zu unerlaubten Stunden, das Entwenden und der unerlaubte Gebrauch eines angeblich gefundenen Waschseils, das unzulässige Betreten eines außer Gebrauch gesetzten Gotteshauses, der heimliche Besitz beträchtlicher Mengen von Seidenpapier, Kleister und Bindfaden, über deren Erwerb das Protokoll leider nicht den genügenden Aufschluß erteilt, der verbotene Erwerb, Besitz und Gebrauch von Spirituosen zu völlig unerklärlichen Zwecken (angeblich zur Verdünnung von Luft!) und endlich der kombinierte Gebrauch dieser sämtlichen Gegenstände und Machenschaften teils, wie anzunehmen, um Schrecken und berechtigte Furcht in der ruhigen, wenn auch abergläubischen Bevölkerung außerhalb des Klosters zu erwecken, teils schließlich um den mehrerwähnten Brand im Dachstuhl der Klosterkirche zu verursachen, hat zuschulden kommen lassen, ist der dieser Vergehen überführte und im allgemeinen geständige Alumnus Berblinger aus Ulm respektive Ochsenwang für unwürdig zu betrachten, künftighin als Seelsorger der Landeskirche zu dienen, noch die Vorteile der hierfür instituierten Erziehung zu genießen, und wird die Prälatur von Blaubeuren unter Ausdruck des Befremdens darüber, daß sich solches in der ihr unterstehenden Klosterschule ereignen konnte, ohne zuvor entdeckt, sistiert und, soweit der Unfug stattgehabt, gebührend bestraft worden zu sein, wodurch wenigstens das öffentliche Ärgernis eines von einem Studiosus der Gottesgelehrsamkeit angestifteten Kirchendachstuhlbrandes vermieden worden wäre, instruiert und angewiesen, den Berblinger ohne Zeitverlust aus dem Klosterverband auszuweisen und zu entfernen sowie von solcher Rejectio seinen Angehörigen in Kürze Mitteilung zu machen.«

Am Tag nach Empfang dieses Konsistorialerlasses wurde derselbe in dem rasch zusammenberufenen Konvent verlesen, nachdem ihn Professor Gaum besseren Verständnisses wegen teilweise ins Lateinische übersetzt hatte. Hierauf wurde Berblinger durch den Oberfamulus vorgeführt und ihm vom Prälaten in bewegten Worten die Entscheidung der zuständigen Oberbehörde mitgeteilt. Nicht ohne Zeichen menschlichen Mitgefühls empfahl er ihn auf seinem künftigen dunkeln Lebensweg dem Schutz des Höchsten, vor dem er reumütig sein Vergehen bekennen und Besserung geloben möge. Den hohen Beruf, für den er bestimmt gewesen sei, habe er sich durch seine unglaublichen Verirrungen ein für allemal verscherzt. Möge er in Demut versuchen, einen andern Weg durchs Leben zu finden, auf dem es ihm mit Gottes Hilfe gelingen dürfte, den Seinen und seinen Vorgesetzten weniger Ärger und Sorge zu machen. Er sei aus dem Karzer entlassen und könne den Abend benutzen, seine Habseligkeiten zusammenzupacken. Am folgenden Morgen, nach dem Präzieren, dem er noch beiwohnen dürfe, könne er sich in Gegenwart des Professors ordinarii von seinen Kommilitonen verabschieden, worauf der Oberfamulus Leuze das Dorment öffnen und ihn vor das Klostertor setzen werde.

So geschah's.

Doch auch der Hilfslehrer Zeller fand sich am andern Morgen am Klostertor ein, reichte ihm die Hand und schenkte ihm seinen eignen Euklid und einen Kronentaler zum Andenken. »Lassen Sie die Flügel nicht ganz hängen, Berblinger«, sagte er weich. »Auf der andern Seite der Klostermauern ist auch noch eine Welt. Aber lassen Sie das Fliegen vorläufig sein. Für einen modernen Ikarus sind Sie zeitlebens zu jung.«

Damit ließ er den Jungen neben seinem Waschkistchen stehen und ging mit tief gesenktem Kopf in den Klosterhof zurück. »Lassen Sie die Flügel nicht ganz hängen«, hätte er zu sich selbst sagen können, ohne den Trost zu haben, den er Berblinger gegeben hatte.

 

Es war ein prachtvoller Spätsommermorgen. Berblinger durchstreifte zum letztenmal – zum erstenmal frei wie ein Vogel – das grüne, sonnige Tal. Er freute sich des stillen Glanzes der Natur und vergaß im ungewohnten Gefühl der Freiheit minutenlang den Druck, den ihm seine jüngsten Erlebnisse aufs Herz gelegt hatten. Es blieb ihm nichts übrig, als noch heute nach Ulm zurückzukehren und dort bei Onkel und Mutter sein Schicksal zu erwarten; aber er hatte Zeit. Es war Mittwoch, einer der zwei Wochentage der neuen Ausgangsfreiheit. Die Klosterschüler mußten nach Mittag aus ihrer Klause herauskommen, und von einem wenigstens, der ihm in diesen Tagen der Trübsal treu geblieben war, wollte er ohne Überwachung des Ordinarius Abschied nehmen. Es war früh genug, sich um zwei Uhr auf den Weg nach Ulm zu machen.

Er umkreiste noch einmal den Blautopf und sah tief hinab in das geheimnisvolle Blau des unergründlichen, stillbewegten Wassers. Dann erkletterte er die Felsenzinnen des Rusenschlosses und blickte ins Tal: auf den Rucken mit seinem kleinen Trümmerhaufen, der nahe daran war, ganz zu verschwinden, auf die weißschimmernden Bleichwiesen, auf das trauliche Städtchen und auf Kloster und Klosterkirche, bei deren Anblick sich sein Herz zusammenkrampfte. Nein; es war schön, aber zu peinlich. Er mußte und wollte gehen.

Denn das alles war nicht der einzige Kummer, der ihn drückte. Am Abend zuvor hatte ihm der Prälat zwei Briefe eingehändigt, die während seiner Karzerzeit eingelaufen, ihm aber – ›wie billig‹, meinte der Prälat – nicht ausgehändigt worden waren, um den Gang der Untersuchung nicht zu stören. Beide kamen von seinem alten Gönner, dem Pestilenziarius, und waren kurz genug. Der erste berichtete, daß seine Mutter ernstlicher erkrankt sei, der zweite, daß auch der Sanitätsrat Bühler Bedenken äußere, da die schleichende Krankheit, die sie schon seit Monaten quäle, eine immer ernstere Form annehme. Ihr Trost, nächst der Hoffnung auf Ruhe und Frieden im Grab und auf eine selige Auferstehung, sei ihr Brechtle, von dem sie seit etlichen Tagen unablässig spreche. Werde es schlimmer, so solle er Nachricht erhalten. Am besten wäre es, wenn er jetzt schon den Herrn Prälaten bitten würde, ihm sodann ohne Verzug die Abreise nach Ulm zu gestatten. Vorläufig und auch in der Zukunft möge er alles tun, was in seinen Kräften stehe, die Hoffnungen zu erfüllen, die seine sterbende Mutter auf ihn setze. – Das erschien dem Jungen das Bitterste, was ihm diese Tage bringen konnten. Gerade jetzt!

Doch die Sonne schien wieder, heiter und ruhig, und überflutete jeden Winkel des Tals mit ihrem goldenen Licht. Vielleicht war es nicht so schlimm. Nein, es konnte nicht so schlimm sein! Der alte Magister war immer voller Sorge, wenn es sich um seine Mutter handelte. Der Jugendmut regte sich wieder.

Im Städtchen kaufte er sich ein Stück Brot und eine Wurst. Er war ja nicht bettelarm, dank dem Kronentaler seines Gönners Zeller, wie er es sonst wohl gewesen wäre. Doch blieb er nicht im Schwarzen Adler, obgleich er ihn jetzt ohne Gefahr hätte besuchen können, sondern wanderte dem nahen Walde zu und stieg wieder am Berghang hinauf. Erst am Fuß des Fuchsfelsens machte er Halt, schlüpfte in Fischers Hüttchen und begann sein Mittagsmahl zu verzehren. Auch drunten im Kloster läutete das wohlbekannte Glöckchen zum Essen. Wie wunderlich, es so in der Ferne zu hören und zu wissen, daß es einen nichts mehr anging. Dann lag wieder tiefe Mittagstille über dem ganzen Tal.

Er hatte nicht lange zu warten. Es raschelte schon seit fünf Minuten unter ihm im Gebüsch, und jetzt bogen sich die nächsten Zweige auseinander. Es war Fischer.

»Ich hab' mir's gedacht«, sagte er, indem er sich keuchend auf die Moosbank warf. »Du konntest nicht verschwinden, ohne noch einmal deinen Freunden Lebewohl zu sagen.«

»Wenigstens dir, Fischer!«

»Drunten hinter dem Schwarzen Adler steht Busch und die halbe Promotion. Komm!«

»Laß sie stehen! Mir liegt an niemand als an dir. Müssen wir scheiden?«

»So scheint's«, versetzte Fischer, »und kaum reicht's, uns die Hand zu geben. Vor dem Essen haben sie mich vor dem Konvent gehabt. Der Prälat ist krank infolge einer Nase, die ihm das Konsistorium gegeben habe, sagte Möhrle; aber Gaum hat mich angedonnert für drei. Ich mußte einen Revers unterschreiben und überdies bei meiner Seele Seligkeit versprechen, daß, solange ich die Beneficii der Klosterschulen zu Blaubeuren und Bebenhausen sowie des Stifts zu Tübingen genieße, ich mir nicht wieder einfallen lasse, ein Märchen, eine Sage oder irgendwelches Gebilde der verirrten Phantasie zu ersinnen, zu erzählen oder gar niederzuschreiben, sei es in deutscher oder irgendwelchen andern Sprache. Im Übertretungsfall habe ich der sofortigen Rejektion gewärtig zu sein.«

»Und du hast unterschrieben?« fragte Berblinger.

»Natürlich. Was blieb mir übrig? Hab ich nicht Weib und Kind, sagen sie in Geschichtenbüchern, wenn sie in derartigen Nöten sind. Habe ich nicht Vater und Mutter und sieben ungezogene Geschwister? Wenn mir nun doch noch eins einfällt, ich meine ein Märchen, so werde ich den Ordinarius fragen, wie es totzuschlagen oder was sonst damit anzufangen sei. Vorläufig soll mir nach Verbüßung einer Karzerstrafe von vierundzwanzig Stunden, die ich Punkt zwei Uhr anzutreten habe, in Gnaden verziehen sein. Das Lokal steht ja jedermann wieder offen, seitdem du es geräumt hast. Nach mir kommt Busch dran mit sechs Stunden wegen des Spiritushandels. Jeder nach Verdienst und Gaben.«

»Du kannst lachen!« seufzte Berblinger.

»Nicht allzu laut, seitdem sie dich davongejagt haben. Du wirst mir fehlen. Wir haben uns verstanden. Ich vermute fast, wir haben beide gedichtet, jeder in seiner Art, ich mit Feder, Tinte und Papier, du mit Spiritus und Kleister. So teilen wir nun auch fast dasselbe Los. Dich hat's härter gepackt. Warum mußtest du dich auch bis in den alten Kirchendachstuhl versteigen?«

Berblinger sah düster vor sich hin.

»Ich wollte, der Empfang in Ulm wäre vorüber«, sagte er nach einer Pause.

»Sei froh, daß er kommt«, versetzte Fischer. »Du wirst ein freier Mann. Ich wandere direkt von hier ins schwarze Loch, und der Himmel weiß, wo wir uns wiedersehen.«

» Excelsior! bleibt mein Wahlspruch«, sagte der andre, sich aufraffend, halb im Scherz, halb in bitterem Ernst. »Im Himmel vielleicht! – Willst du ein Stück von meiner Wurst zum Abschied?«

»Horch, es schlägt!«

»Dreiviertel!«

Fischer sprang auf, fiel seinem Freund in einer jener ungefügen Anwandlungen, die den Flegeljahren eigen sind, um den Hals, schluchzte ein paar Worte, die kein Mensch verstehen konnte, und war verschwunden. Langsam folgte Berblinger. Er wollte den andern hinter dem Schwarzen Adler nicht mehr begegnen. Es lag zuviel Schweres auf ihm; am schwersten die zwei Briefe in seiner Brusttasche.

In der Tat waren die jungen Leute bereits abgezogen, als er sich dem Wirtshaus näherte. Dafür erwartete ihn eine andre Überraschung. Unter der Türe des Schwarzen Adlers stand ein kleines Männchen, das ihm ebenso erstaunt entgegensah. Es war der Pestilenziarius von Ulm, aber kleiner, wie es ihm vorkam, als früher und mit röteren Augen.

Sie stürzten sich nicht entgegen. Der Junge erblaßte, der Magister schien zu zittern, als sie sich erkannten.

»Wissen Sie es schon?« stammelte Berblinger.

»Weißt du's schon?« fragte Krummacher mit leiser, bebender Stimme.

»Was? – O Herr Krummacher!«

»Sie ist hinübergegangen. ›Mein Brechtle‹ war ihr letztes Wort.«

Berblinger mußte sich an der Futterkrippe halten, neben der er zufällig stand.

Beide schwiegen lange, dann sagte Krummacher:

»Komm!«

Sie schritten ohne eine Wort zu sprechen zum Städtchen hinaus und wanderten der Landstraße entlang gegen Ulm. Hinter dem Rucken stand ein großer Apfelbaum am Weg, den Klosterschülern gar wohl bekannt, dessen Zweige fast bis zum Boden herabhingen. Dort setzten sich beide an den Rain, der unter dem Baum weg lief. Jetzt zum erstenmal schluchzte Berblinger laut auf und fragte, wie alles so schrecklich schnell gekommen sei. – Es war nicht so schnell gekommen, aber man hatte seit fünf Wochen von Brechtle nichts gehört, und ein Brief, der das Äußerste befürchten ließ, mußte seit vorgestern auf der Prälatur liegen, wenn ihn der Postbote nicht verloren hatte.

Dann erzählte der Junge in stockenden Sätzen, was ihm seit fünf Wochen widerfahren war, und meinte zum Schluß, bitterlich weinend, in all dem Jammer habe er nur einen Trost, daß seine gute Mutter all das nicht mehr erfahren könne.

»Wer weiß!« sagte der Magister und faltete seine zitternden Hände über dem linken Knie.

So saßen sie, der Alte und der Junge, eine volle Stunde unter dem Apfelbaum und weinten zusammen und verstanden nicht, weshalb das Leben so bitter war. Dann setzten sie ihren drei Stunden langen Weg fort, nach Schwabenart fast ohne ein Wort zu sprechen, bis sie an einem Kreuzweg angelangt waren, der, rechts der Blau folgend, nach der Donau hinunter, links nach dem Neuen Tor von Ulm führt. Dort stand der Magister still, als ob er sich plötzlich für den Abendstern interessierte, und sagte halblaut zu Berblinger: »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt« – dann schritt er rasch auf Ulm zu, dessen Münster in seinem halbfertigen Ausbau sich schwer und massig gegen den Abendhimmel abhob, und überließ es dem Jungen, den Vers zu beenden.

Der tat es.

 

Aber er hätte füglich auch einen letzten Blick nach rückwärts werfen dürfen, denn er schied für immer aus dem lieblichen Blautal und hatte mit dem Klosterschulleben abgeschlossen. Seine Jugendfreunde aus jenen Jahren fanden fast alle in den Gleisen, welche zwei Jahrhunderte festgelegt hatten, ihr ruhiges Lebensziel. Seeger wurde Oberkonsistorialrat, denn wie er noch in alten Tagen ›mit Elias‹ sprach: »Ich bin nicht besser als meine Väter«, Busch ein wackrer Landpfarrer, der von seinen Bauern hoch verehrt wurde, denn er verstand mehr von Obst-, Bienen- und Viehzucht als sie alle zusammen und sorgte für ihr Seelenheil mit großer Herzensgüte und machte Thusnelde zur gesetztesten und kinderreichsten Pfarrfrau des Landes. Pfitzenmeyer wurde ein berühmter Schulmann, lieferte jährlich allein sechs bis zehn Schlachtopfer für das Landexamen, von denen fünfundsiebzig Prozent ›durchkamen‹, und war deshalb viel gesucht und hoch verehrt von Vätern aller Stände. Nur der fromme, gewissenhafte Stöckle versank in den Tiefen deutscher Philosophie, geriet in seiner Ehrlichkeit auf ein Nebengleis und starb als rabiater Freidenker und Redakteur des Amts- und Intelligenzblatts von Heilbronn. Fischer starb hochbetagt als würdiger Prälat am Münster zu Ulm, ein rührendes Märchen vom Christuskindlein auf den Lippen. Von Berblinger aber werden wir noch mehr zu hören bekommen, als uns lieb sein mag.

Ein Wort von allgemeinerer Bedeutung verlangt die Billigkeit. Um das Jahr 1800 hatten, wie so vieles in Deutschland, die Klosterschulen Württembergs ihren Tiefstand erreicht, und trotzdem gingen aus denselben eine Anzahl wackerer, gelehrter Männer hervor, die dem Lande Ehre machten. Man arbeitete in den folgenden Jahrzehnten eifrig an ihrer Hebung und einer zeitgemäßen Umgestaltung veralteter Einrichtungen. Mit welchem Erfolg, beweisen die teilweise weltberühmt gewordenen Männer, Theologen, Philosophen, Philologen und Pädagogen, die ihre Jugendeindrücke und ihre Schulung den vier württembergischen ›Klöstern‹ verdanken. Ob der gesunde Kern des Stamms, aus dem diese Leute hervorgingen, ob das trotz aller kleinen Eigenheiten und Mängel kluge System der Erziehung den größeren Anteil an diesen Erfolgen hat, wird sich schwer entscheiden lassen. Eins bleibt sicher: daß die schwäbischen Klosterschulen die Dankbarkeit ihrer Zöglinge, ob sie auch im Jugendübermut dahinstürmten, ob sie in weißem Haar auf ein nützliches und gutes Leben zurückblickten, verdient und sich bewahrt haben.


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