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11. Geister

»Ich hätte Sie nicht bemüht, Herr Professor, wenn Kollege Bräunlin nicht schon wieder erkrankt wäre«, begann Prälat Kleß, sich ungewöhnlich langsam aus seinem hölzernen Sorgenstuhl erhebend.

»Bitte sehr; ich bin zur Zeit Ordinarius. Da ist es nur meine Pflicht –«, versetzte Gaum in seinem gereiztesten Ton.

»Ja, gewiß, natürlich!« fuhr sein Vorgesetzter begütigend fort. »Und die Sache ist so ernst, daß mir Ihre Energie, Ihr Scharfblick von der größten Bedeutung sind. Auch meiner Frau oder Gattin. Glauben Sie an Geister, ich meine Gespenster?«

»Im neunzehnten Jahrhundert!« rief der Professor entrüstet.

»Eigentlich hat das Jahrhundert damit nichts zu tun. Überdies sind wir erst seit einem Jahr so weit. Daß es in alten Klöstern spukt, ist eine von vielen zugegebene Tatsache. Auch die Alten führen Beispiele an, die man nicht schlechthin verwerfen sollte. Ich erinnere an Plutarch, an Saul und Samuel. Und nun haben wir wieder einmal eine Geschichte, bei der man nicht weiß, was man denken soll.«

»Gelegentlich soll das vorkommen.«

»Ja, ja! – Aber da lesen Sie!«

Der Prälat reichte dem ungeduldigen Professor ein Amtsschreiben in Form eines großen Foliobogens, den dieser mehrmals von beiden Seiten betrachtete.

»Vom Hofrat Scholl!« sagte er endlich unmutig. »Was hat der uns wieder zu sagen?«

»Das frage ich auch. Aber lesen Sie, bitte; lesen Sie es vor. Es ist nur gut, daß sich mein Gehör zu bessere scheint; meine Augen werden mit jedem Tage schwächer.«

Gaum trat ans Fenster, dessen Butzenscheiben viel zu wünschen ließen, und begann: »Hochwürdigster Herr Prälat und sehr ehrenwerter Herr!

Seiner Pflicht gedenkend gestattet sich Endsunterzeichneter ein Vorkommnis zur Kenntnis Eurer Hochwürden zu bringen, das meine Angehörigen ungebührlich beunruhigen und auch mich, wie Euer Hochwürden zugeben werden, befremden, ja in gesundheitsschädigender Weise ärgern mußte.«

»Das fängt gut an«, lachte der Professor gezwungen.

»Was hat dieser Scholl sich über unsre Klosterangelegenheiten zu ärgern?«

»Das frage ich auch. Er wird auf seine Eigenschaft als Klosterverwalter pochen. Aber weiter!«

»Gestern abend weigerte sich die Rosine, die wie bekannt schon seit fünf Jahren treu und redlich bei uns dient, sich auch keineswegs als eine unbeherzte Person erwies, mein Abendbier aus der Klosterbrauerei zu holen, wie solches seit Jahren regelmäßig und ohne Anstand geschehen. Nach der Ursache dieser Unbotmäßigkeit befragt, erklärte die Magd, daß sie in jüngster Zeit mehrmals heftig erschreckt worden, in dem sie in der verschlossenen Klosterkirche eine unnatürliche Helle bemerkt habe; insonderheit am dritten Fenster vom Chor gerechnet, gegen Mitternacht, woselbst seit einiger Zeit, angeblich seit 1798, ein Fensterflügel ausgebrochen und deshalb allerdings der Reparatur in hohem Grade bedürftig ist, wovon ich geziemend Notiz genommen. Durch dieses Fenster sei nun vorgestern gegen halb zehn Uhr nicht nur die erschreckende Helle hervorgetreten, sondern auch ein großer schwarzer Schatten, mit einer Mönchskutte angetan, zu erblicken gewesen, und während besagte Rosine denselben mit großem Zittern betrachtet, sei ein kleines rotes Licht hervorgetreten, habe sich gegen den Himmel erhoben und sei sodann in erklecklicher Höhe dem Blautopf zugeschwebt, woselbst es verschwand. Nachdem sie all dies bei klarem Verstand und aufs deutlichste bemerkt, habe sie sich kaum mehr auf den Beinen halten können, und sei es für ein Wunder anzusehen, daß sie den Bierkrug nicht zerschlagen nach Hause gebracht habe. Man mag nun über dieses Vorkommnis denken wie man will –«

»Wie bereits bemerkt, bin ich so weit mit dem Hofrat völlig einverstanden«, unterbrach der Prälat den Leser, der in verächtlichem Tone fortfuhr:

»Wie man will. Dagegen steht außer Zweifel, daß sich unsre Rosine weigert, nächtlicherweile nach neun Uhr Bier zu holen, hierdurch eine unerträgliche Störung unsrer häuslichen Gepflogenheiten verursachend, weshalb ich mir erlaube, Eurer Hochwürden zu empfehlen, das fragliche Phänomen sowohl bezüglich der Helle und des Schattens als auch des rätselhaft schwebenden Lichtes sorgfältig zu untersuchen, da ich den Schlüssel zur Kirche zwar gegen meinen Willen, aber schon im Jahr 1792 an die hochwürdige Prälatur abzuliefern veranlaßt wurde.

Auch möchte ich beifügen, daß das besagte bewegliche Licht noch von andern glaubwürdigen Personen bemerkt wurde und von denselben für eine geisterhafte Erscheinung vulgo Spuk erklärt wird, wozu eine lächerliche Geschichte oder Erzählung beitragen mag, die seit etlichen Tagen in der Stadt kursieret und ebenfalls von der verehrlichen Klosterschule ausgegangen zu sein scheint.

Ich verbleibe hiermit mit schuldiger Reverenz Eurer Hochwürden Diener. Hofrat Scholl, Herzoglich württembergischer Klosterverwalter.«

»Nicht einmal gehorsamste sagt er, worauf die Prälatur Anspruch hat«, bemerkte Gaum, indem er den Brief auf den Schreibtisch warf.

»Beruhigen wir uns. Wir werden in der Antwort hierauf Rücksicht zu nehmen wissen«, entgegnete Kleß nicht ohne Schärfe. »Was die Sache selbst betrifft –«

»Ein Unsinn!« rief der Professor. »Ich halte das Ganze für eine Erfindung der Frau Hofrätin. Die Frau hat eine Phantasie – eine Phantasie! – Fragen Sie einmal Ihre Frau Gemahlin.«

»Ich weiß genau, was seine Absicht ist«, seufzte der Prälat. »Da soll in irgendwelcher Weise wieder einmal die Promotion oder noch besser das Klosterregiment an der Geschichte schuld sein. Als ob wir für jede Helle verantwortlich gemacht werden könnten, die die Hofratsmagd nach neun Uhr abends zu bemerken glaubt!«

»Man ist sicher, daß die Kirche abgeschlossen ist?« fragte Gaum nachdenklich.

»Na – natürlich«, versicherte Kleß entrüstet. »Meine Frau hat den Schlüssel selbst in Verwahrung.«

»Das ist eine Beruhigung. Mit der Promotion, wie sie sich leider neuerdings anläßt, muß man alles in Erwägung ziehen.«

»Ach Gott, ja; Sie haben recht!« stöhnte der Prälat.

»Seitdem probeweise die sogenannte Ausgangsfreiheit eingeführt ist, die uns das hohe Konsistorium aufgedrängt hat, scheint alles aus Rand und Band zu sein. Kein Wunder. Zweimal in der Woche die ganze Herde der Alumni ohne alle und jede Aufsicht laufen lassen, das kann ja zu nichts Gutem führen. Man kann es an jeder Schafherde beobachten. Warum machen sie die Probe nicht zuerst in Maulbronn? Mit Bräunlin, der immer krank ist, und meinen Nerven, die auch nicht von Eisen sind! Ich habe Zeller gebeten, ein Auge auf die jungen Leute zu haben. Der! Der Oberfamulus will ihn und Berblinger beobachtet haben, wie sie im Wald vor einer Buche standen und mit Klosterkreide Zahlen und Figuren auf die Rinde malten.«

Gaum nickte finster: »Auch Busch sei vorgestern wieder in Gerhausen an der Hintertüre des Roten Ochsen erwischt worden, aus dem Seeger gerade herausgekommen sei.«

»Nein, nein! Von Seeger will ich dies nicht glauben«, fiel Kleß ein. »Aber leider, die Versuchung ist zu groß für junge Leute, zweimal die Woche ohne jede Aufsicht!«

»Dagegen sei Berblinger schon dreimal heimlich zu dem Buchbinder Schmok ins Haus gelaufen«, fuhr Gaum unerbittlich fort, »und habe sich dort zu völlig unaufgeklärten Zwecken Kleister gekauft. Und der Fischer – all das berichtet mir der Oberfamulus Leuze, der übrigens eine Erhöhung seines Gehalts verlangt, wenn die Ausgangsfreiheit beibehalten werden sollte –«

»Was Gott verhüte!« rief der Prälat aus tiefster Seele.

»Der Fischer habe sich im Wald in der Nähe des fast unzugänglichen Fuchsfelsens eine Hütte, eine Art Wigwam, gebaut und liege dort stundenlang mit einem Notizbuch auf einer Moosbank.«

»Vielleicht macht er lateinische Verse«, bemerkte der Prälat aufatmend.

»Der und lateinische Verse!« rief Gaum. »Sehen Sie seine Hebdomadara an. Ein Greuel! Nein; es ist mir etwas zu Ohren gekommen, was ich vorläufig auch nicht glauben will. Der Mensch soll allerdings Gedichte machen, aber in gemeinem Deutsch. Eine Art Klopstockiaden, an Thusnelde gerichtet.«

»Was? An die Gattin Hermanns des Cheruskers?«

»Das hoffte ich auch; aber dem sei nicht so. Nein, an die Nichte der Speismeisterin. Und nicht genug: er habe eine schriftliche Arbeit verfertigt, ein sogenanntes Märchen, so eine Art Spinnstubengeschichte, und dieses Machwerk derselben Thusnelde in aller Form gewidmet und zugesandt. Darauf spielt wohl der Hofrat an. Es laufe im Städtchen von Hand zu Hand und verdrehe den Weibern den Kopf. Überhaupt –«

»Allerdings – überhaupt –« Der Prälat nickte heftig mit dem Kopf. »Wenn ich nur den Speisemeister veranlassen könnte, diese Nichte zu entfernen. Kann sie nicht anderwärts auch kochen lernen, und sind unsre Alumni dazu hier, zu verspeisen, was diese leichtfertigen jungen Mädchen kochen? Nein, und abermals nein! Der Leuze sagte auch mir erst gestern, die halbe Promotion benutze die neuangeordnete Ausgangsfreiheit, dieser Mamsell Thusnelde nachzulaufen. Ich will doch versuchen, ob hier meine Frau nicht eingreifen kann. Es scheint mir mehr und mehr eine Weibergeschichte zu werden. Was aber die Helle in der Klosterkirche betrifft – Herein!«

Eine lange, hagere Gestalt in einem blaugrauen Soldatenrock, der ihr viel zu klein war, einen Säbel an der Seite, einen Stock mit dicker schwarzroter Quaste unter dem Arm und einen mächtigen Dreispitz in der Hand, schob sich vorsichtig durch die halbgeöffnete Türe, gefolgt von einem kleinen Bäuerlein in Lederhosen und sehr roter Nase. Beide verbeugten sich mit vielem selbsterfundenen Anstand.

»Was ist's? Was wollt ihr?« rief der Prälat erstaunt, aber nicht unfreundlich.

»Eine Empfehlung vom Herrn Stadtschultheiß«, begann der Lange, sich würdevoll aufrichtend, »und hier sei der Nachtwächter Köberle selbst.«

»Ja, was soll denn der Nachtwächter Köberle?« fragte Kleß mit wachsender Verwunderung.

»Mit Verlaub, Euer Gnaden –«, sagte der Kleine nach drei weiteren Bücklingen.

»Euer Hochwürden!« verbesserte der andre, indem er seinen Begleiter ärgerlich in die Rippen stieß.

»Mit Verlaub! Ich bin der städtische Nachtwächter«, fuhr dieser fort. »Das Kloster geht mich von Amts wegen nichts an; aber ich kann nicht verhindern, daß ich die alte Kirche sehe, wenn ich hinten herum vom Klosterbräu nach der Bleich gehe, wie es meine Amtsvorschrift verlangt. Und da hab' ich jetzt schon zum drittenmal eine Helle gesehen, daß mir der Schreck in alle Glieder gefahren ist. Am dritten Fenster vom Chor gezählt war sie besonders stark. Und wie ich endlich stehen bleibe und nachdenke, ob ich mich drum zu kümmern habe oder nicht, kommt ein Flämmchen heraus und zieht gerade über mich weg, dem Blautopf zu. Ich dachte, ich müßte in den Boden sinken. Ganz leis kommt's daher und zieht gerade über mich weg – wie – wie ein Flämmchen und verschwindet. – Da erzählen die Leute von dem Ritter Bruno, der ein Mönch geworden ist und das Kloster dem Teufel verschreiben wollte – meiner Treu – da dacht' ich, es könnte am End' der Ritter Bruno sein.«

»Dummheiten!« platzte Professor Gaum heraus, »ist Er verrückt?«

»Das sagte der Herr Bürgermeister auch«, versetzte der Nachtwächter kleinlaut. »Aber es ist meine Amtspflicht, zu rapportieren, und ob es der Ritter Bruno ist oder der Teufel – ich wollt', der Herr Stadtschultheiß wollt' einen andere Nachtwächter für dort hinten herum bestellen. Mir wird's zu gruslig.«

»Er hat wohl ein Glas zuviel gehabt, guter Freund«, sagte Gaum etwas milder.

»Ohne das tu' ich's überhaupt nicht mehr«, versetzte der Mann gekränkt. »Und der Herr Stadtschultheiß – na, Huber!«

Der Stadtbüttel nahm seine Amtshaltung wieder an.

»Der Herr Stadtschultheiß lassen schön bitten, die Herren Klosterherrn möchten die Güt' haben und das Vorgekommene selber untersuchen, sintemal die Gespenster Kirchensach' seien seit Menschengedenken. Er glaube zwar selber nur an die, die in der Bibel stehen, von Amts wegen; aber auf alle Fälle sollte dem Unfug gesteuert werden, so daß die Unruh im Städtchen nicht überhandnehme. Mit Verlaub, das sollen wir ausrichten.«

Die zwei Abgesandten der städtischen Behörden verneigten sich wiederholt und stolperten rascher zur Türe hinaus, als sie hereingekommen waren.

»Nun, was sagen Sie jetzt?« fragte der Prälat nach einer langen Pause.

»Es scheint denn doch etwas an der Sache zu sein«, versetzte Gaum, unbehaglich auf und ab gehend. »Geheuer ist es nicht. Aber wie gesagt –: im neunzehnten Jahrhundert! Ich weiß wahrhaftig selbst nicht, was ich davon denken soll.«

»Sehen Sie!« rief Kleß fast freudig. »Genau was ich Ihnen vor einer halben Stunde schon gesagt habe!«

 

Mit Fischers Wigwam hatte es seine Richtigkeit. Die bewaldete Bergwand, die hinter dem Kloster aufsteigt, das ›Gähhäldle‹, endet in mehrere Gruppen von Felszacken, grau und zerfressen, die drohend über dem Tal hängen. Sie haben ihre Namen. Am Fuß des Fuchsfelsens ist eine Höhlung, groß genug, einem Mann Schutz vor Unwetter zu gewähren. Vor derselben hatte Fischer aus Steinen und Moos eine Bank gebaut und das dichte Gebüsch über dieselbe gezogen, so daß das Hüttchen einem Vogelnest nicht unähnlich war. Zwischen den Zweigen hindurch sah man in der Tiefe die Spitze der Klosterkirche, den kahlen Rucken mit den kaum erkennbaren Resten der alten Burg, und in weiterer Ferne das Rusenschloß und die waldigen Berge, die das Tal gegen Ulm hin abzuschließen scheinen. Außer dem Erbauer dieser Einsiedelei und seinem Freund Berblinger kannten sie nur wenige Zöglinge, die Fischer nachgeschlichen waren, wenn er sich in den ersten Monaten der neueingeführten Ausgangsfreiheit allein in die Büsche geschlagen hatte.

Dort saßen beide wieder einmal und sahen schweigend über das grüne Tal mit seinem Felsenschmuck wie immer nach der Seite hin, wo es sich gegen die ferne Donauebene öffnet. Drunten im Städtchen, welches vom dichten Laubwerk verdeckt war, schlug die Kirchturmuhr.

»Schon halb zwei!« seufzte Fischer. »Aber erträglicher ist das Klosterleben doch, seitdem man uns am Mittwoch und Samstag auf ein Stündchen ohne Gängelband fliegen läßt.«

»Mir kommt's härter vor«, versetzte Berblinger. »Ich möchte hinaus – hinaus wie noch nie; besonders wenn die Sonne scheint wie heut und es halb zwei schlägt. – Bist du fertig mit deinem Hebdomadar?«

Fischer gab hierauf zunächst keine Antwort. Nach einer Pause sagte er:

»Ich hab' wieder ein Märchen im Kopf, das mir keine Ruhe läßt und mir über die ganze nächste Woche weghelfen wird. Auch übers Hebdomadar. Du weißt, der Seeger schwatzt immer von dem Schiller, wie der in der Karlsschule die Räuber gedichtet habe. O – die Räuber! Das brächte ich nie fertig und weiß es wohl. Aber Märchen spinnen, über alte Klostermauern wegfliegen in eine Welt, wo es von Gold und Edelsteinen, von Blumen und Vögeln nur so flimmert und wimmelt und Elfen und Wassernixen um mich tanzen, daß ich vergehen möchte vor Vergnügen, das kann ich hier oben in unserm Hüttchen. Das kann ich zur Not drunten auf der Schulbank, während uns Gaum den Unterschied von αν und εαν erklärt.«

»Jawohl!« spottete Berblinger. »Herrlich, wenn er dich dann weckt mit seinen Nadelstichen: ›Ei, ei, Fischer, wo ist man wieder? Sagen Sie kein Wort! Ich sehe es Ihnen an: Sie waren meilenweit von der Sache. Aus dem Karieren machen Sie sich nichts. Ich werde beantragen, Ihnen die Ausgangsfreiheit zu entziehen, Sie geistiger Schwinginsfeld. Vielleicht hilft das. Zeigen Sie mal Ihr Heft her! Ei, ei, Fischer, heißt das Nachschreiben!‹ Und dann liest er uns den Anfang deines Märchens vor, daß der Busch und die andere vor Lachen brüllen und nur der Stöckle die Ohren spitzt, als höre er ein neues Evangelium.«

»Es gibt noch andre, die sie spitzen«, sagte der Märchendichter nicht ohne Selbstgefälligkeit.

»Gib acht, man wird sie dir noch ausreißen, wenn der Professor Gaum Wind von der Geschichte bekommt«, lachte Berblinger. »Seeger sagt, dein Heft gehe im Städtchen von Haus zu Haus. Die einen lachen, den andern gruselt's. Dir wird's schließlich gruseln, wenn alles an den Tag kommt.«

»Mir wurst!« versetzte Fischer trotzig. »Was die Großen, der Ovid, der Virgil, der Homer im großen getrieben haben, treiben die Kleinen im kleinen.«

»Nur die Thusnelde sei unzufrieden, erklärt Busch, der sie gestern gesprochen hat, der Frechling«, fuhr Berblinger fort. ›Es sei nicht genug Liebe drin; keine von der rechten Sorte. Sie wolle Märchen mit netten jungen Prinzen.«

»Das kommt noch, später«, versprach Fischer. »Dann will ich doch sehen, ob ich den Busch nicht aus dem Sattel hebe. Im schlimmsten Fall macht mich's selbst wieder auf ein paar Wochen glücklich trotz Gaum und Bräunlin und Kleß. Kann ich dafür, daß alle drei nichts davon verstehen, trotzdem sie Tag und Nacht die Nase in den Homer stecken.«

»Hat eben jeder seine Art«, meinte Berblinger altklug. »Mir scheint das alles auch nur Luft und Wind. Ist die Stimmung weg, ist auch das Glück dahin. Was nützt's?«

»Hat es keinen Nutzen, eine Woche lang glücklich und vergnügt gewesen zu sein mit nichts?«

»Nein, wenn die Woche vorüber ist.«

»Ja, denn man vergißt sie nicht.«

»O doch, denn man vergißt alles – alles. Frag den Gaum, wenn er auf dich zu sprechen kommt.«

»Und dann wird's gedruckt. Bücher!« rief Fischer mit leuchtenden Augen. »Wer weiß, ob ich nicht noch ein berühmter Mann werde trotz aller Gaume?«

»O Fischer! Fischer! Bücher!« brach Berblinger los. »Sind sie nicht unsre Qual von morgens bis in die späte Nacht? Nein, schaffen möcht' ich, aber nicht in Träumen. Fliegen will ich, aber nicht auf Zauberpferden und in Märchenparadiesen.«

»Na, na, wie sonst? Ich weiß, du hast's hinter den Ohren, Berblinger, und traust deinem besten Freund nicht. Aber denk an mich! Die Klostermauern sind zu hoch und zu dick für dich und deinen schwachen Schädel. Ich komme drüber weg mit einem Gedankensprung. – Was treibst du? Daß du in der Nacht herumschleichst, der Kuckuck weiß wo, habe ich längst gemerkt. Andre auch. Nur wissen wir noch nicht wohin; aber es ist nichts so fein gesponnen, es kommt endlich an die Sonnen.‹,

»Mußt du's wissen?« fragte Berblinger, unbehaglich Moos aus der Bank reißend. »Ich dichte.«

»Du? Unsinn! Außer deinem Ikarusvers im Landexamen hast du noch nie zwei Zeilen zusammengebracht.«

»Ich dichte eben anders als du; zeilenlos. Aber fliegen will ich gleich dir. Wart ein Weilchen. So leicht wie bei dir geht's nicht; dann ist aber auch etwas gedichtet, das sich sehen lassen kann. Das versteht ihr alle nicht. Ich träume zum Beispiel, ich sei ein ungeheuer nützlicher Mann geworden und habe die ganze Menschheit über sich selbst hinaus gehoben, so daß sie etwas andres geworden ist, als was sie bisher war: frei wie der Vogel in der Luft und glücklich in ihrer neuen Freiheit. Ich träume, das hätte ich fertig gebracht und wäre der erste, der in die neue Freiheit hinausflöge. Wäre das nicht etwas andres als deine Märchen?«

»Paß auf, daß dich der Gaum nicht auch weckt: ›Ei, ei, Berblinger!‹«

»Ist mir gleich! Du hast von Poeten gehört, die verhungert sind, weil sie kein Brot fanden oder keine Liebe, oder das nicht, was sie zum Leben und Lieben und Dichten brauchten. Nach Jahrhunderten streiten sich sieben Städte drum, wo diese Großen des Geistes geboren wurden. Hätten sie deshalb nicht dichten sollen? Das gehört dazu, wenn man Neues schaffen will. Ich habe keine Angst.«

»Das merk' ich, Berblinger, aber das wird dir nichts helfen. Hast du dein Hebdomadar fertig? Morgen muß es abgeliefert werden.«

»Laß mich in Ruh! Wir werden noch alle über unsre griechischen Hebdomadare lachen, Fischer!«

»Das tun die andere jetzt schon.«

»Laß sie. Die Menschen haben andres zu tun, als ewig und ewig den alten Moder umzuschaufeln. Nützlich sein, Neues schaffen, uns und andre über die Erde erheben: so hoffe ich noch leben und sterben zu dürfen, und dann, wenn ich dem Gaum begegne drüben im Jenseits oder in seinem Hades, will ich mit ihm rechten. Hier geht's nicht.«

»Bei Phöbos-Apollo, Berblinger, ich glaube, du dichtest wirklich.«

»Merkst du was? – Hallo, es schlägt dreiviertel! Wir müssen machen, daß wir ins Dorment kommen, ehe der Famel abschließt!«

Sie sprangen auf und in großen Sätzen den Berg hinunter. Wie die hochaufgerafften Kutten hinter ihnen her flatterten! Es war auch ein Fliegen mit Hindernissen.

 

In jenen Tagen prickelte es in allen Gliedern der Menschheit, als habe eine bisher nicht bekannte Art von Fieber den Riesenleib ergriffen. Man hatte mit schaudernder Neugier, dann mit Entsetzen den Verlauf der französischen Revolution verfolgt, und was sich in Frankreich in wahnsinnigen Zuckungen austobte, zitterte in den entlegensten Winkeln des morschen deutschen Reiches nach: Auflösung, Drang nach Freiheit und Neugestaltung, Rebellion. »Selbst unter den Frauen gärt es bedenklich«, seufzte der Prälat, als die drei Herren nach einer peinlichen Wertung der vom Konsistorium zur Begutachtung vorgelegten Vorschläge aus dem Konventzimmer traten, die nichts Geringeres bezweckten als eine ›gründliche Umgestaltung‹ der altbewährten, aber, wie Übelgesinnte sie zu nennen wagten, versumpften Klosterschulen. Er hatte nicht ganz unrecht und hätte sich am gleichen Abend noch davon überzeugen können, wenn er zu Hause geblieben wäre. – Dort saßen sie nämlich beisammen, auf die er sich erlaubt hatte ganz unverblümt anzuspielen, und machten keine Anstalt, aufzubrechen.

»Ich sehe wirklich nicht ein«, rief die Frau Prälat Kleß, »wenn unsre Männer jeden Freitag in die Neue Post ziehen, als wär's eine Art Gottesdienst, warum wir nicht auch unsern Stammtisch haben sollten.«

Die vier andern Damen nickten energisch.

»Und wenn die Herren der Schöpfung nicht nach Hause kommen, bis ihnen der Nachtwächter die Polizeistunde anzeigt, und der Stadtschultheiß kraft seines Amtes noch eine halbe Stunde zugegeben hat, so können wir auch einmal nach neun Uhr beisammenbleiben.«

»Besonders wenn man noch so Wichtiges hören und besprechen muß«, bemerkte Frau Professor Gaum, nervös mit ihren Stricknadeln klappernd.

»Haben Sie es hier?« wandte sich die Frau Prälat an Frau Pfarrer Scheibler.

Frau Pfarrer Scheibler war die Witwe des verstorbenen Pfarrers von Suppingen und wohnte seit dem Tod ihres Mannes in zwei netten Stübchen auf der ›Bleich‹, hatte aber immerhin das Recht, sich den Spitzen der sehr exklusiven Klostergesellschaft anzuschließen. Etwas zweifelhafter war die Stellung der Frau Oberamtsarzt Hubrecht, doch konnte sie als Tochter des früheren Dekans von Kirchheim immerhin auf Ebenbürtigkeit Anspruch erheben und wurde als etwas schüchternes, anspruchsloses Wesen von der Prälatin protegiert und von den andern geduldet. Die Frau Hofrat Scholl kam nicht in Frage. Sie war der böse Feind und herrschte in ihrem eignen Kreis, auf den man gebührend herabsah. – Die Frau Prälat hatte den Auserwählten heute abend etwas ganz Neues aufgewartet – saure Milch mit Zucker und Zimt –, jetzt strickten alle emsig und hochbefriedigt im Gefühl des gehabten und noch weit mehr des kommenden Genusses, der rein geistiger Natur zu sein versprach.

»Es war nicht leicht zu kriegen«, sagte Frau Scheibler mit wichtiger Miene, »und ich mußte auf mein Ehrenwort versprechen, es morgen wieder zurückzugeben. Ich hab's von der Frau Buchbinder Schnell, die hat's von der Hofrätin und die soll es direkt von der Speismeisterin bekommen haben. Aber es muß durch fünfzig Hände gegangen sein, dem Aussehen nach. Ohne Umschlag möcht' ich's nicht anrühren.«

»Es ist einfach ein Skandal«, rief Frau Professor Bräunlin, die der Prälatin an stürmischer Energie wenig nachgab, wenn sie erregt war, »und der junge Fischer soll es wirklich geschrieben haben. Ganz aus dem eignen Kopf. Ich hätt's ihm nicht zugetraut nach dem, was ich davon gehört habe. Scheinbar ein so ordentlicher Mensch!«

»Ich sag's ja: kein Verlaß mehr auf irgend etwas in diesem Tränental«, seufzte Frau Professor Gaum. »Der Thusnelde soll er's förmlich gewidmet haben; das scheint mir das schlimmste an der Sache. So jung und schon solche Geschichten!«

»Nein, nein«, rief die Pfarrerin. »Das schlimmste ist, wie er vom Kloster spricht, das er dem Gottseibeiuns verschreibt. Diese Frechheit! Das Kloster, von dem er sein Brot und seinen Tischwein hat, und alles was er weiß und kann.«

»Na, hören wir's erst einmal«, sprach die Prälatin, die den Damen gegenüber ihre ruhige Würde zu wahren wußte.

»Aber wer soll vorlesen?« fragte Frau Professor Gaum, als ob sie dies nicht schon längst mit ihrer Kollegin besprochen hätte.

»Das tust du natürlich«, entschied diese. »Du liest so gefühlvoll vor.«

»Her damit«, sagte die Prälatin und nahm der Frau Scheibler ein kleines Heft aus der Hand, das diese mit einer gewissen Ängstlichkeit aus ihrem Arbeitskörbchen hervorgezogen hatte. Dann legte sie es auf den Tisch, öffnete es, gab ihm mit der Linken einen Schlag und räusperte sich.

»Halten Sie noch!« bat Frau Gaum etwas gekränkt. »Ich bin gerade am Abnehmen.« Sie zählte halblaut fünfzig Maschen, während die andern sich zurecht rückten. Dann begann Frau Kleß:

»›Der blaue Zauberstein. Ein Märchen von F. F. Widmung: An Thusnelde. ‹

Na, das fängt gut an!

›Du gibst den Duft der Rose,
Den Glanz dem Sonnenlicht,
Drum leg' ich dir zu Füßen,
Was meine Muse spricht.‹«

»Skandalös!« wiederholte Frau Professor Bräunlin. »So jung und schon auf solchen Wegen. Wie wird's da einmal mit der Seelsorge gehen!«

»Vielleicht heiratet er sie«, sagte Frau Oberamtsarzt Hubrecht, nach einer Entschuldigung suchend.

»Das wäre noch schöner! Das vorlaute Ding. Ich nenne sie einfach frech«, erklärte Frau Bräunlin.

»Bitte fortfahren«, bat Frau Gaum.

»Und nicht unterbrechen«, setzte die Prälatin hinzu. »Wenn ihr nicht still seid, kann kein Mensch lesen. Verstanden?«

Sie warfen sich alle etwas ängstliche Blicke zu, denn sie merkten, daß es jetzt ernst wurde; aber sie schwiegen. Und nun begann das Vorlesen in hartem, einförmigem Ton, wie es sich für eine alte Chronik ziemt. Keine Bemerkung wurde mehr laut. Manchmal sank ein Strickstrumpf in den Schoß und wurde mit einem nervösen Ruck wieder aufgenommen; manchmal hörte das leise Geflüster der Nadeln ganz auf. Der junge Märchendichter hätte zufrieden sein können.

»Zur Zeit, als von Geislingen und Wiesensteig herüber die Helfensteiner auf der Alb und im Blautal Land und Leute erwarben und die Benediktiner im Kloster erbten und kauften, man wußte nicht wie, ging es mit den Grafen von Ruck abwärts. Die Ringmauern des Schlößchens begannen zu zerfallen, und sein Dach war so schadhaft, daß die vom Rusenschloß erklärten, sie könnten tagtäglich sehen, was sich der junge Graf zu Mittag kochte, und es sei nicht viel. Der junge Graf aber rührte sich kaum, dem Zerfall Einhalt zu tun, so daß man schon von Gerhausen her sehen konnte: Mit denen von Ruck ging's zu Ende.

Man hieß ihn den jungen Grafen, weil er noch kein Weib hatte, und auch das war nicht in der Ordnung. Aber er hatte sich sein Leben lang in der Welt umhergetrieben als Kriegsmann, hatte dem Kaiser gedient und dem König von Frankreich und sich dabei mit Christen und Heiden herumgeschlagen. Kam er gelegentlich nach Haus, so holte er Geld, so viel er zusammentreiben konnte, anstatt etwas zu bringen, blieb etliche Wochen jagend und trinkend auf dem Rucken, ärgerte sich über die Helfensteiner auf dem Rusenschloß, schimpfte auf die geistlichen Herren am Blautopf und zog mit drei, vier Knechten, die nicht viel besser waren als ihr Herr, wieder hinaus in die weite Welt. Ob er in jüngeren Jahren nie an ein Edelfräulein geraten, die ihn eines Besseren hätte belehren können, weiß man nicht; er selbst schien sich des nicht zu erinnern. Die Zeit ging hin, und er sah bald nicht viel besser aus als sein altes Schlößchen, so daß selbst seine nächsten Vettern, die von Tübingen, nichts mehr von ihm wissen wollten.

Nun war er wieder einmal zu Hause, als auf der Fahrt nach Italien der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in seiner Pfalz zu Ulm einkehrte. Da war großes Jubilieren in der getreuen Reichsstadt mit Pauken und Trompeten und allerlei Festspiel und Lustbarkeit. Auch der Graf von Ruck zögerte nicht, putzte Geschirr und Waffen, legte sein bestes Festkleid an und ritt an den Hof, wo er wohlbekannt und bei männiglich nicht übel gelitten war. Denn was man auch zu Hause gegen ihn sagen mochte, er war ein tapferer Reitersmann im Feld und diente dem Herrn redlich, der ihm Geld gab zu Spiel und Trunk. So ging's wieder hinaus, wie er's erwarb.

Beim Prunkmahl im Rathaus zu Ulm, das die Bürgerschaft zu Ehren des Kaisers gab, schlug sein Stündlein. Daselbst erblickte er des Kaisers Schwesterkind, die schöne Irmgard, und ihm war, als habe er nie etwas Liebreizenderes im Leben gesehen. Er entbrannte in heißer Liebe zu der stolzen Maid, also daß er nicht wußte, wie ihm geschah, noch was er tat. Bei dem Turnier, das tags darauf nahe der Frauenklause zu Söflingen gehalten wurde, war er wie toll und streckte alle die jungen Ritter und feinen Herren in den Sand, die um den Ehrenkranz in der Prinzeß Irmgard Hand warben. Als sie ihm nun den Kranz reichen sollte nach Recht und Brauch, kniete er vor ihr nieder mit geschlossenem Visier und sah sie lächeln, daß es ihm durch Mark und Bein ging, so heiß und wohlig und weh. Der Kaiser aber sprach: ›Herr Graf von Ruck, was schließt Ihr das Visier? Tut nach Ritterart, wenn Ihr aus holder Frauen Hand den Kranz empfanget.‹ Da öffnete er das Visier und sah sie an so heiß und minniglich, daß ihm das Blut aus den Augen sprang. Die stolze Jungfrau aber erschrak und wandte sich ab. Denn er war keines von den jungen Milchgesichtern, wie sie einer zarten Maid behagen, sondern ein Kriegsmann, dem das rauhe Leben seinen heißen Stempel auf Stirne und Wangen gedrückt hatte; ja es muß gesagt sein, auch seine Nase hatte es gefärbt, und das war das schlimmste. Beim Tanz aber, der auf das Turnier folgte, übermannte ihn der Liebesgram in seinem Herzen. Sei es nun aus alter Gewohnheit, sei es um den ungewohnten Brand zu löschen, er trank einen Humpen Malvasier, den die Ulmer Stadtherren kredenzten, um den andere, bis er den Mut hatte, als freier Rittersmann und einziger Sproß des alten Geschlechts derer von Ruck vor des Kaisers Majestät zu treten und seiner Schwester Kind zu begehren. Da lachte der Kaiser laut auf und sprach: ›Hab' ich Jungfrauenherzen zu verleihen? Kommt wieder, edler Graf, mit der Busenschleife der stolzen Maid auf dem Mantel, so wollen wir davon reden.‹ Irmgard aber lächelte und sprach: ›Viel lieber wollt' ich einen Strick aus meines Onkels Stall um seinen Hals sehen, als meine Busenschleife auf seinem Mantel.‹

Des andere Tags ritt er zurück ins Blautal, wie es schien, ein gebrochener Mann. Dort fand er das Dach seines Schlößchens noch weiter eingefallen, so daß man auch in der Küche nicht länger hausen konnte. So ritt er weiter bis zum Kloster und fragte daselbst, ob ihn die Mönche wohl als Laienbruder aufnehmen wollten. Er sei müde des Lebens und aller weltlichen Lüste. Der Abt aber sprach: ›So Ihr bereit seid, ein arm, keusch und gottselig Leben zu führen, so mag es sein, denn wir haben nicht vergessen, daß vor langen Jahren Eure frommen Ahnen das Kloster erbaut und nicht übel beschenkt haben.‹

So wurde Graf Bruno von Ruck Mönch im Kloster zu Blaubeuren; aber das Feuer, das die stolze Irmgard in ihm entzündet hatte, glühte weiter und verbrannte ihm Herz und Nieren. Es half nichts, daß er hundertmal des Jahrs hinter dem Kloster Ruhe suchte und stundenlang die kühle blaue Flut betrachtete, wie sie wallte und wogte und dann klar und friedlich das Tal hinabzog, noch daß er den Kopf im kühlen, feuchten Moos begrub. Das wilde begehrliche Herz wollte nicht zur Ruhe kommen.

›Ich glaube es wohl‹, sprach der Abt. ›Feuchtes Moos hilft nichts. Auch finde ich Euch noch immer zu oft in des Kellermeisters Stübchen. Geht in unser Kirchlein und betet zum heiligen Johannes um Kühlung aus einem andern Quell. Seid Ihr des müde, so geht in die Bücherei und lest, wie in alter Zeit der heilige Augustinus das Feuer gedämpft hat, das Weltlust in ihm entzündet hatte. Dort findet Ihr wohl manch probates Rezeptlein, das Ihr mit Nutzen gebrauchen könntet.‹

Dies tat der neue Mönch; aber er fand etwas andres. Er fand in einer uralten verstaubten Chronika, die er kaum zu lesen vermochte, die wundersame Geschichte von dem blauen Zauberstein, den sein frommer Ahn in der Hand gehalten und wie ein Tor in den Blautopf geworfen hatte. Nun saß er noch viel öfter an dem Ufer des Teichs und starrte in die blaue Tiefe. Hätte er den Stein, der den Träger unsichtbar machte, wie fein wollte er der stolzen Irmgard das Busenschleifchen entreißen und vor den Kaiser treten und sprechen: ›Wohlan, Herr Kaiser, gewährt nach Euerm kaiserlichen Wort, was ich mit kecker Hand mir erworben!‹ Und wieder und wieder begrub er sein Gesicht im feuchten Moos. Es half aber alles nichts. Das Haus seiner Väter auf dem Rucken zerfiel mehr und mehr, er selbst wurde älter mit jedem Jahr, und sein Herz wollte nicht zur Ruhe kommen.

So lag er eines Tags und horchte auf das Murmeln der blauen Wasser. Das Moos war feuchter als gewöhnlich, denn seine Tränen hatten es genetzt. ›Das Leben verloren, die Liebe verloren‹, stöhnte er in ohnmächtiger Wut. ›Der Teufel hol's! Ich trag's nicht mehr!‹ Da fühlte er, daß jemand seine Schulter berührte. Es war wie ein Stich scharf und heiß. Er fuhr in die Höhe, und hinter ihm saß ein nacktes Nixchen mit nassen grünen Haaren und einem Gesichtchen bleich und stolz, als ob Irmgard daraus heraussähe. Auch lächelte das unheimliche Ding, daß sich sein Herz zusammenkrampfte wie nie mehr seit dem Turnier zu Ulm.

›Du bist traurig, Klosterbrüderchen?‹ sprach das Nixchen zutraulich, aber sehr höflich, und zog schamhaft ein Farnkraut über seinen kleinen Leib.

›Hast du mich gehört?‹ fragte Bruno, den nichts mehr erschreckte. ›Ich bin so traurig, daß ich mich dem Teufel ergeben könnte.‹

›Das macht die Liebe‹, erklärte das Nixchen. ›Aber es ist nicht nötig, daß du dich unserm Herrn verschreibst. Du bist ihm nicht allzuviel wert, und deine Zeit kommt sowieso. Ich weiß, du sehnst dich nach dem blauen Zauberstein da unten, und ich weiß warum. Du siehst, wie sein Spiegeln das Wasser färbt. Was gibst du uns dafür?‹

›Was kann ich geben? Leib und Leben! Alles, was ich hab'.‹

›Was hast du? Nichts!, sagte das Nixchen ärgerlich. ›Dein Hab und Gut ist vertan, dein Leben samt deiner Seele ist nicht viel wert. Und doch weiß ich dir einen Rat, aber du mußt wollen, wollen können.‹

›Ob ich will!‹ knirschte der Rittersmann in der Kutte.

›So hör und gib wohl acht!‹

Nun wurde des Nixchens Stimme wie das Flüstern des Winds im Moos, aber ernst und feierlich, und die Sonne, die durch das Geäst drei runde goldgrüne Flecken auf die Moosdecke geworfen hatte, verlor ihren Schein. Das Nixchen aber sprach:

›Hinter dem Hochaltar in der Klosterkirche findest du eine schwarze Platte im Boden. Lösche das rote Kreuz aus, das du auf ihr gemalt siehst. Es geht mit einer Schale reinen Wassers aus diesem Teich. Dann kannst du die Platte ohne Mühe heben und siehst eine Höhlung, die bis mitten unter den Altar reicht. Fürchte dich nicht, wenn du im hintersten Grund eine rote Glut erblickst. Dort liegt eine Rolle alten Pergaments. Sprich kein Wort; ergreife sie. Es ist die Urkunde der Gründung und ersten Schenkung des Klosters, gezeichnet von deinem Ahn Sigiboto, dem Grafen von Ruck, und Hugo und Anselm, den Grafen von Tübingen, im Jahre des Heils 1055. Auf der Rückseite aber findest du mit blutroter Tinte geschrieben, daß einmal im Laufe der Zeiten ein Nachkomme derer von Ruck das Recht haben soll, die Schenkung zurückzufordern und das Gotteshaus zu weihen wem er will. Das tue!‹

›Aber wem‹, fragte der Mönch, ›soll es geweiht werden?‹

Das Nixchen lächelte boshaft, ohne zu antworten; dagegen fuhr es fort:

›Mit dem ehrwürdigen Dokument in der Hand verläßt du durch das Seitenpförtchen in der Kapelle der heiligen Ursula die Kirche, ohne dich umzusehen. Du magst dein letztes Paternoster beten; es kann nichts schaden. Genau an dieser Stelle, wo wir liegen, trittst du in das Wasser.‹

›Aber die Ufer fallen jäh in die Tiefe‹, sagte der Mönch bedenklich.

›Du sinkst. Aber das Wasser wird dir sein wie Luft, kühl und erfrischend, solange du das Pergament in der Hand hältst. Du sinkst und sinkst, bis du in blauem Dämmerlicht den Grund erreichst, wo der heilige Quell, Welle auf Welle, aus dem Gestein sprudelt. Dort liegt der blaue Stein. Du läßt das Pergament fallen, das gurgelnd in der Spalte verschwinden wird, und ergreifst den Stein. Dann schießt du in die Höhe wie ein Pfeil, vom Bogen geschnellt, aber weder ein Nix noch ein Mensch wird dich sehen, bis du am Ufer, ja, bis du in deiner Zelle angelangt bist und den kostbaren Zauberstein auf deinem Betschemel niederlegst. Dann aber tue, was dein Herz begehrt.‹

›Herrlich, herrlich!‹ rief der ritterliche Mönch, der schon sein Glück in Händen zu halten glaubte. ›Wem aber muß ich das Kloster weihen?‹

›Ach, ich vergaß!‹ versetzte das Nixchen wieder ganz munter. ›Das schreibst du mit einem Tröpfchen Blut – du hast ja noch Blut genug – auf die Rückseite der Urkunde, ehe du die Kirche verläßt. Am besten ist's, du tust's auf der Altarplatte. Nur zwei Worte – wir verstehen es dann schon – und deinen Namen.‹

›Und die zwei Worte?‹ flüsterte Bruno fast atemlos.

›Dem Teufel!‹ hauchte das Nixchen und verschwand.«

»Diese Frechheit!« unterbrach hier die Prälatin selbst die Vorlesung, indem sie dem Manuskript einen zweiten derben Schlag versetzte.

»Ein unverschämter Bursche!« zürnte Frau Professor Bräunlin.

»Man sollte es nicht für möglich halten!« seufzte Frau Professor Gaum. »So jung und schon solche Ideen. Dem Teufel! Wenn ich das meinem Mann erzähle – er wird es einfach nicht glauben.«

»Versteht ihr eigentlich, was der Racker sagen will?« fragte die Frau Prälat, rot vor Zorn. »Daß das ganze Kloster sozusagen des Teufels sei!«

»Aber halten Sie die Geschichte für eine reine Erfindung?« fragte die Frau Oberamtsarzt schüchtern. »Man kann sich ja gar nicht vorstellen, daß so etwas in dem Gehirn eines Klosterschülers wachsen kann.«

»Sie meinen doch nicht etwa, daß etwas Wahres an der Sache ist?« fragte die Prälatin, die funkelnden Augen starr auf Frau Hubrecht richtend, die sehnlichst wünschte, nichts gesagt zu haben.

»Ich meinte nur – ich dachte –«, stotterte sie. »Es gibt ja sogenannte Sagen –«

»Aber bitte, lesen Sie doch weiter!« flüsterte Frau Professor Gaum. »Man muß doch wissen, wie es weiterging. Eine brennende Liebe entschuldigt viel.«

»Nicht ich«, versetzte die Frau Prälat, das Heft über den Tisch werfend. »Brennend oder nicht: ich hab's satt! ›Dem Teufel!‹ Lese wer will!« Frau Gaum griff nach dem Manuskript und las mit leiser, bebender Stimme:

»Der Mönch folgte dem Rat des teuflischen Nixchens nicht sogleich. Sein guter Engel, so schwach er war, kämpfte sieben Wochen lang mit den Mächten der Finsternis. In der siebenten schlich Bruno dreimal hinter den Hochaltar und betrachtete die schwarze Platte mit dem roten Kreuz. Dann war ihm, als sei sein Wille gebrochen. Er sah Tag und Nacht nur noch das bleiche, stolze Gesicht Irmgards in bläulichem Dämmerschein. In der Johannisnacht schlich er mit einem Krug unter der Kutte nach dem Blautopf. Der Prior begegnete ihm, merkte etwas und seufzte: ›Schon wieder!‹ Aber der Krug war nur mit Wasser gefüllt. Das ›Seetor‹ in der Klostermauer und das Pförtchen in der Ostwand der Ursulakapelle standen offen. Bruno merkte wohl, daß es der Satan war, der ihm jetzt alles so bequem als möglich machte; es war kein Halten mehr. Der Mond schien durch die Chorfenster fast mit Tageshelle. Er kniete vor der schwarzen Platte nieder und wusch sie mit dem Zipfel seiner Kutte. Sie hob sich wie von selbst aus den Fugen, sobald das Kreuz verschwunden war. Da war auch die Höhlung und im Grund in roter Glut lag das Pergament. Er nahm es mit bebender Hand und breitete es auf der Altarplatte aus. Er hatte sich beim Ausheben der Platte die Hand geritzt. Das Blut floß langsam an seinen Schwörfingern herab, und wieder dachte er, wie bequem es ihm der Satan mache.

Nun trat er hinaus in die wunderklare Sommernacht. Die Sterne flimmerten über dem Wald, Leuchtkäfer flogen durchs Gebüsch. Eine unheimliche Helle ging von dem Pergament aus, seitdem er es beschrieben hatte, als wäre es hundertjähriges faules Holz. Als er in den tiefen Schatten der Bäume kam, die den Teich umgeben, fing es an, ein trübes rotes Licht auszustrahlen. Nun trat er ans Ufer, festen Schritts; doch zitterte die Hand, in der er das Dokument hielt. ›Irmgard, Irmgard!‹ flüsterten seine Lippen brünstig, statt Gott und den heiligen Johannes um Beistand anzurufen. Damit trat er auf das Wasser und versank.

Man hat nie mehr etwas von ihm gehört oder gesehen. Ob er drunten starb, ob er unsichtbar, den blauen Stein in der Hand, durch den Rest seines verfluchten Lebens ging, was ja wohl möglich wäre, weiß bis zum heutigen Tag niemand. Die Mönche fanden die schwarze Platte und das offene Loch hinter ihrem Hochaltar, aber natürlich nichts mehr von der Stiftungsurkunde, die mit dem letzten Grafen von Ruck verschwunden blieb. Auch bleibt fraglich, ob der Vater aller Lügen seitdem einen größeren Einfluß über das fromme Kloster gewonnen hat oder nicht. Die Mönche bemerkten keinen Unterschied, überhaupt nichts Auffallendes nach dem Verschwinden Brunos. Sie wußten ja überhaupt nicht, was in jener Nacht geschehen war, und vergaßen den verschollenen Laienbruder um so leichter, als sein Schlößchen, oder vielmehr was von dem zerfallenden Bau übrig war, ohne alle Schwierigkeiten an das Kloster fiel. Es war keine große Erbschaft.

Eins nur ist sicher: in der Johannisnacht und häufig um die Weihnachts- und Osterzeit kann man zwischen neun und ein Uhr nachts ein rotes Flämmchen sehen, das an der Nordseite der Kirche nächst der Kapelle der heiligen Ursula aufsteigt und langsam durch die Luft nach dem Blautopf hinzieht. Dort verschwindet es im Gebüsch. Ob die arme Seele des Ritters Bruno noch immer dem Teufel die Stiftungsurkunde des Klosters zutragen muß, ob sie noch immer mit dem Seufzer ›Irmgard‹ in den blauen Wassern versinkt? Wer fragt danach im Jahrhundert der Aufklärung?«

Frau Professor Gaum hatte nur noch flüsternd gelesen. Eines der zwei Talglichter war niedergebrannt und erloschen. Sämtliche Strickstrümpfe lagen müßig im Schoß ihrer sonst so fleißigen Besitzerinnen. Ein fühlbares Gruseln ging durch das stille Zimmer.

»Ja, die Liebe!« seufzte endlich Frau Pfarrer Scheibler. »Als ich meinen seligen Christian kennen lernte –«

»Aber was weiß der Junge von Liebe?« unterbrach sie Frau Professor Bräunlin mit neu erwachender Entrüstung. »Es ist ja ein Skandal! Und gar die Thusnelde! Sie ist noch nicht sechzehn!«

»Potztausend alle Welt!« rief die Prälatin mit scharfer Stimme. »Es ist schon zehn Uhr vorbei. Macht, daß ihr fortkommt. Die Männer können jeden Augenblick zurückkommen.«

Frau Pfarrer Scheibler erbleichte.

»Ich muß an der Kirche vorbei; fast an dem Türchen in der Ursulakapelle, das – durch das – Geht niemand von Ihnen mit mir, wenigstens bis ich an der Kirche vorbei bin?«

Tiefe Stille. Endlich sagte die Frau Prälat:

»Es ist wahr. Man kann Sie nicht allein gehen lassen nach dieser Geschichte.«

»Aber wie kommt man wieder zurück?« fragte Frau Professor Bräunlin, und abermals trat tiefe Stille ein.

»Na, also!« sagte die Frau Prälat entschlossen und ging ins Nebenzimmer, um ihren Hut zu holen.

Alle verabschiedeten sich etwas rascher als üblich, der Männer wegen. Dann im Hof unten sahen sie noch der Prälatin und der Pfarrerin nach, die im Schatten des Klosterhoftors verschwunden waren. »Wenn die Prälatin dabei ist, wird es schon gehen«, sagte zuletzt Frau Professor Gaum, um sich und die andern zu beruhigen.

Von der Prälatin erfuhr man leider nicht, wie es gegangen ist. Daß die Frauen ein grausiges Abenteuer erlebt haben mußten, war nur zu gewiß. Frau Pfarrer Scheibler zitterte, sooft man darauf zu sprechen kam, und wußte auch nicht viel mehr zu sagen, denn sie wurde ohnmächtig und mußte mit Hilfe des Prälaten und des Nachtwächters Köberle ins Kloster zurückgebracht werden, wo sie nun doch die Nacht zubrachte. Was sie wußte, war das: »Als wir um die Klostermauer bogen und die Nordseite der Kirche voll im Gesicht hatten, stieg plötzlich zwischen dem dritten und vierten Fenster vom Chor gerechnet ein rotes Flämmchen an der Kirchwand in die Höhe. Das Ding war schauerlich anzusehen, wie ein dicker runder Kopf ohne Gesicht, und darunter, wo etwa das Herz sein sollte, das Flämmchen und sonst nichts. Es erhob sich ziemlich rasch. Dann war's, als ob es sich besänne, und plötzlich nahm es seinen Weg langsam gerade über unsre Köpfe weg, dem Blautopf zu. Man sah es so deutlich, wie ich meine Hand sehe, wenn ich sie über den Kopf halte. Es war ungefähr so groß wie ein Krauthäuptle und kam aus der Kirche; das kann ich beschwören. Schon wie es an der Mauer aufstieg, fühlte ich mich so schwach, daß ich mich an der Frau Prälat halten mußte; und glaubt mir, sie mag's gestehen oder nicht, sie zitterte auch wie Espenlaub. Wie es aber gerade über uns stand, da verging mir Hören und Sehen. Ich werde mich wohl auf den Boden gesetzt, denn mein Rock war noch am andern Tag über und über staubig, namentlich hinten. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Sofa in Prälats schöner Stube. Die Prälatin und er und der Nachtwächter Köberle standen um mich herum, und der Herr Prälat rief einmal über das andre ganz unhöflich: ›O ihr Weiber! Ihr Weiber!‹«


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