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4. Eine untergehende Reichsstadt

Tief eingebettet zwischen den jäh abstürzenden Bergen ruhte das Städtchen Blaubeuren mit seinem altertümlichen Klosterbau in gewohntem Morgenschlummer, während der Sonnenschein an den waldigen Berghalden herabschlich und bereits die etwas krumme Turmspitze der Klosterkirche vergoldete. Die Berblinger, Mutter und Sohn, der Bauer und sein müder Gaul standen schon seit zehn Minuten geduldig vor dem verschlossenen Stadttor, das sich endlich langsam in den rostigen Angeln drehte. Träumend musterte der hinkende Torwart die Ankömmlinge, die ihn zu ›nachtschlafender‹ Zeit aus seiner Morgenruhe aufgeschreckt hatten. Als aber der gutherzige Alte sah, daß es nur eine Frau und ein Kind, ein Bauer und ein müder Gaul waren, wurde er freundlicher: »Böse Zeiten, böse Zeiten!« murmelte er in sich hinein und gähnte. »Ihr seid schon die dritten seit vorgestern. Böse Zeiten!«

Im Innern war das Städtchen wach genug. Als das Fuhrwerk vor dem Schwarzen Adler stillstand, sahen seine Insassen um einen mit einer Bläue überspannten Wagen eine Gruppe Leute stehen, die sich so lebhaft unterhielten, daß die neuen Ankömmlinge unbeachtet blieben und ruhig eine Zeitlang dem Streit zuhören konnten. Es war der Ulmer Bote, der zweimal wöchentlich nach der Reichsstadt zu fahren pflegte und sich besann, ob er seine gewohnte Fahrt antreten oder wieder ausspannen sollte. Der Wirt vom Schwarzen Adler, des Wirts Sohn, der Hausknecht und drei halbangekleidete Nachbarn hatten jeder seine eigene Ansicht über das gewagte Unternehmen, denn es schien toll herzugehen draußen in der Welt. Vorgestern, erzählten sie sich, sei der Pfarrer von Owen sieben Köpfe stark in einer gelben Kutsche die Steige heruntergekommen und habe ein Hinterrad gebrochen, so daß die Flüchtlinge vierundzwanzig Stunden lang aufgehalten wurden und die Frau Pfarrerin fast ›verzwatzelt‹ sei. Gestern noch, spät in der Nacht, seien fünfzehn Ochsen für die Reichsarmee mit zwei Juden und vier kaiserlichen Grenadieren durchs Städtchen gezogen, und zwar in solcher Eile, daß man kein vernünftiges Wort mit ihnen habe wechseln können. Nicht einmal eingekehrt seien sie! Und heute früh – kaum mache man die Augen auf – stehe schon wieder eine Partie da. Damit wandten sie sich einmütig dem Wägelchen zu und machten sich daran, Frau Berblinger herabzuhelfen. »Alles auf der Flucht, alles in wilder Flucht!« jammerte der größte der sechs Männer. Da könne es dem Ulmer Boten niemand verargen, wenn er einmal zu Hause bleibe der Sicherheit wegen. Man wisse sowieso nicht, ob die Reichsstadt nicht schon in Flammen stehe. Stuttgart sei bereits abgebrannt, hätten die zwei Juden hinterlassen. Zu tun sei ja doch nichts in solchen Zeitläuften.

Frau Berblinger und ihre zwei Kisten gaben der Sache eine andere Wendung. Der Wirt nahm den Boten auf die Seite und flüsterte ihm zu, daß er glaube, die Frau zu erkennen. Das übrige taten die zwölf Kreuzer, welche sie für die Befrachtung ihrer Kisten geben wollte, in deren einer sich das Perpetuum mobile befand. Sie hatte es noch gestern mit ihren Tränen fast in Bewegung gesetzt und wollte sich nicht mehr von ihm trennen. So kann der Tod in wenigen Stunden Leben und Lieben ändern und uns die reumütige Frage aufdrängen, wie es doch gekommen sei, daß wir so blind gewesen.

Eine kleine Stunde genügte, um Hab und Gut der Flüchtlinge von einem Wagen auf den anderen überzuladen und mit Stricken und Ketten wieder zu befestigen. Dann fuhren sie in bedächtigem Trab das grüne Tal hinunter, der Blau entlang. Wer wollte es Brechtle verargen, der wieder ganz munter geworden war, daß er seine Tränen getrocknet hatte und die Augen weit aufriß, um die neue Welt einzusaugen, die ihm entgegentrat. Bei Gerhausen sprang ein Hirsch über den Weg. Wenn die Straße das Flüßchen mit seinem klaren blaugrünen Wasser berührte, sah man Weißlinge aufschnellen oder Forellen in der Sonne spiegeln, und mitten aus dem Waldesdickicht ragten graue, wunderlich gestaltete Felsgruppen empor wie Riesen. Sie hatten kaum das Rusenschloß hinter sich, das eine der höchsten Klippen des Blautals krönt, als ihnen die Fenster des neuerbauten Schlößchens von Klingenstein entgegenblitzten, über dem sich die Ruine der alten Burg erhob. Dann ging's durch das muntere Herrlingen und vorüber an der grünen Mündung des Lautertals. Dazu die Erwartung, was heute noch kommen mußte! Ulm, das Münster, die Donau, Schiffe, wirkliche Schiffe! Wie viele seiner Kinderträume spielten um diese Worte, die Vater und Mutter so oft gebraucht und in die er alles Erdenkliche hineingelegt hatte. Heute sollte er sehen, was sie wirklich bedeuteten: ein Paradies voll Wunder und Freuden und Überraschungen.

Nur wenn er mit einer kindlichen Frage in das Gesicht seiner Mutter blickte, krampfte plötzlich ein Schluchzen seine Brust zusammen. Das kam noch von gestern, und für Frau Berblinger wollte es nach der schlaflosen Nacht nicht heute werden. Sie dachte an die Zeit vor vierzehn Jahren, an die Mondnacht, in der sie mit ihrem Verlobten dasselbe Tal heraufgefahren war, etwas bang, aber doch voll Vertrauen und voll kommenden Glücks. Damals lag das Mondlicht auf Wiesen und Berghalden, und lautlos schlichen die Nebel am Waldsaum hin. Aber sie achtete nicht darauf. Sie fuhr ja dem sonnigsten Frühling entgegen. Heute strahlte alles im fröhlichsten Sommersonnenschein. Drüben über dem Flüßchen schnitten sie schon das Öhmd. Wie sah das alles anders aus durch strömende Tränen!

Bei Söflingen öffnete sich das Tal. Brechtle stieß einen Schrei des Entzückens aus. Man sah noch nichts von der Stadt, aber der stumpfe, halbfertige Turm und die gewaltige Masse des Münsters ragten blau und fern über die Obstbäume empor, welche die niedrigen Hügel und letzten Ausläufer der Alb bedeckten. Seiner Mutter Herz zog sich zusammen, als ob es stillstehen wollte. –

Auf dem Weg bis hierher war ihnen nichts Ungewöhnliches begegnet. Der Bote hatte sie gefragt, ob sie einen Paß aus dem Württembergischen bei sich führe, da es in diesen unruhigen Zeiten nicht so leicht gehen werde, ohne Ausweis in die Stadt zu kommen. Sie hatte nichts dergleichen und lachte im stillen über die Frage. ›Die Tochter des alten Schwarzmann, die schöne Fischerin von damals, die schon hundertmal durch das Blaubeurer Tor ein und aus gegangen war, wird wohl auch diesmal mit einem Grüß Gott an der wohlbekannten Torwache vorbeikommen‹, dachte sie.

Brechtles Aufregung stieg. Es war nicht mehr möglich, ihn auf seinem Sitz zurückzuhalten. Man sah jetzt die Türme auf der Ringmauer und an den Stadttoren, die grauen und schwarzbraunen Giebeldächer hervorragender Gebäude. Das war etwas anderes als Neidlingen, selbst als Kirchheim, wohin ihn der Vater einmal mitgenommen hatte. Nur die Donau fehlte noch. »Wo ist die Donau, Mutter, wo ist die Donau?« fragte er immer fast atemlos. Doch die Donau wollte sich vorläufig nicht zeigen. Er bekam sie später zu sehen, mehr als ihm lieb war.

Erst als der Botenwagen zwischen den Bastionen Scharfeck und Cavallier unter dem Neuen Tor stillstand, zeigten sich Spuren der drohenden Kriegszeiten. Die Torwache schien ausschließlich der energischen Frau des städtischen Torwarts anvertraut zu sein, die den Blaubeurer Boten in erregten Worten anwies, zuzufahren. Heute sei doch alles gleich. Die Österreicher seien gestern ab- und die Stadtmiliz noch nicht aufgezogen. Alles, auch ihr Mann, sei aufs Zeughaus gelaufen, das man auf Befehl des Erzherzogs ausleere, damit es nicht in die Hände der Franzosen falle. Unter dem Gänstor würfen sie die Kanonenkugeln und das Pulver wagenweise in die Donau. Das seien Männer! Manche schwitzen vor Eifer, habe ihr Mann erzählt. »Sie werden Blut schwitzen, wenn die Franzosen einmal da sind!« brach die lebhafte Frau los. Daß sie das erleben müsse! Das Zeughaus ausgeleert, das sie jeden Dienstag nach dem Schwörtag schon mit ihrer Großmutter besucht habe, um die greulichen Mordwaffen anzustaunen, mit denen sich vor Zeiten die Altvorderen der Feinde erwehrten. »Patrioten heißen sich die Kerle und helfen mit, ihr eigenes Pulver in die Donau zu werfen, wenn auch ein paar alte Herren dazu mit den Fäusten auf die Tische schlagen. Fahrt nur zu, Stadler, mit Eurer Frau und dem Büble. Heute wird nichts visitiert und nichts verzollt. Kreuztürkenelement, es ist doch alles hin!«

So kamen sie ohne Schwierigkeiten über die drei Brücken in die Stadt. Waren das Häuser mit ihren doppelten Giebeln, waren das Straßen und Gassen, Brechtle, kühl und schattig, weil oben die Dächer fast zusammenstießen! Unten im Halbdunkel gab es Kaufläden und Warenhallen, und wenn man durch die halboffenen Türen hineingehen konnte, im Innern Höfe und Gärten, manchmal auch hoch oben zwischen den Giebeln ein Stückchen vom Münsterturm, daß es einem schwindelte vom Hinaufsehen! Durch die Dreikönigsgasse und die Herrenkellergasse und das Hafenbad, wo sie warten mußten, weil zwei Kompanien weißröckiger Österreicher vorbeizogen und Brechtle wirkliches Trommeln zum erstenmal hörte, daß ihm die Ohren brummten, ging's auf den Kornmarkt, wo im Pflug, gegenüber dem riesigen Kornhaus, das wie eine Noahsarche aussieht, der Blaubeurer Bote einstellte. Es ging Brechtle wie ein lustiges Mühlrad im Kopf herum, als sie ausstiegen. Nur manchmal blieb das Mühlrad plötzlich stehen, und Schmerz und Trauer drückte auf das kleine Herz wie ein sinnloser, zentnerschwerer Mühlstein.

 

Mittag war schon vorüber, als sie ankamen. Auch der Pflugwirt war nach dem Zeughaus gelaufen, um zu sehen, was dort vorging, so daß Frau Berblinger zu ihrer Beruhigung unerkannt blieb. Wer weiß, ob der Mann in der vergrämten Frau die schöne Fischerin von damals erkannt hätte. Die aufgeregte Magd – alles war heute außer Rand und Band – machte aus den noch dastehenden Resten des Mittagessens eine Suppe für die Ankömmlinge zurecht. Dann nahm Frau Berblinger Brechtle bei der Hand, um ihr väterliches Haus in der Herbelgasse aufzusuchen.

Wie sie alles anheimelte: die engen Straßen, die überhängenden Häuser, deren Vorderseite schief gegen die Straße liegt und die deshalb stufenförmig eines hinter das andere zurücktreten: eine uralte Bauweise, die mit der Verteidigung der Stadt, auch wenn der Feind schon in die Straßen eingedrungen sein sollte, zusammenhängt. An jeder Ecke, um die sie bog, grüßte sie eine Erinnerung aus der Kinder- und Mädchenzeit. Dann kam das düstere, zweigiebelige Haus der Schwarzmanns in Sicht wo jedes Fenster, jede Dachluke von einem Geschichtchen zu erzählen wußte, das sie einmal glücklich oder traurig gemacht hatte. Und doch war alles so fremd geworden, so abweisend. Wahrhaftig: Die Levkojen und Reseden standen noch auf dem grünen Fensterbrett ihrer alten Wohnstube. Aber sie wußte, daß der weiße Kopf ihres Vaters hinter den Scheiben nicht mehr erscheinen würde. Drinnen war wohl alles anders geworden.

Schüchtern bewegte sie den altertümlichen Klopfer an der schwarzbraunen reichgeschnitzten Tür. Es war noch immer der abgegriffene schuppenlose Fisch, der sich in den Schwanz biß. Fast gleichzeitig wurde die Tür heftig aufgerissen. Ein zufälliges Zusammentreffen: Ihr Bruder stand vor ihr. Zehn Sekunden lang starrte er sie an, ohne sie zu erkennen. Auch sie erkannte ihn kaum; wie hatte auch er sich verändert! Sie hatte ihn als einen derben jungen Mann verlassen, der gerne zeigte, daß er in Wien gelernt hatte, wie sich ein reicher junger Schiffsherr betragen und kleiden, vor allem kleiden sollte. Ein rundes rotes Vollmondgesicht kämpfte beständig mit dem Drang, über alles laut zu lachen, und dem Bestreben, sich in würdevolle Falten zu legen. Die Falten hatten gesiegt. Er war schon damals ein großer stattlicher Bursche gewesen. Jetzt schien er noch größer geworden zu sein. Ein schwarzer wohlgepflegter Bart umgab das unfreundliche, hochmütige Gesicht. Seine Kleidung war gewählter, als es der Schifferstand erfordert hätte: eine lange Weste bedeckte den beträchtlichen Umfang seines Leibes, und eine große silberne Doppelkette hing protzig über seinen Bauch herab. In der Hand hielt er einen schweren Spazierstock mit goldenem Knopf, den er ein paarmal auf die ausgetretene Türschwelle stieß, während ein ärgerlicher Schatten über sein Gesicht flog, bis er endlich seine Schwester mit einem »Rosel! Türkensapperment, wo kommst du her?« begrüßte.

Brechtle starrte den Onkel an; er hatte sich ihn anders vorgestellt. Seine Mutter schritt rasch an ihrem Bruder vorüber und zog den Kleinen in den dunklen Hausflur.

»Ich komme in meines Vater Haus«, sagte sie.

»Du kommst in das meine«, versetzte der Bruder scharf. »Es ist mein Haus seit bald drei Jahren. – Überhaupt! – Grüß' dich Gott trotzdem. Bringst du die Franzosen mit?«

»Nichts bring' ich mit, nichts als meinen Brechtle. Alles haben mir deine Franzosen genommen.«

»Meine Franzosen! Schwatz keinen Unsinn. Wir sind heute noch kaiserlich. Deshalb leeren sie uns auch das Zeughaus aus. Aber wir sind kaiserlich, wie's die Schwarzmanns von jeher gewesen sind. Komm herauf! Laß dich ansehen!«

Sie gingen die dunkle, aber geräumige Treppe hinauf und traten in das große Wohnzimmer, wo sich Frau Berblinger weinend in einen Stuhl warf.

»Das war mein Stuhl!« schluchzte sie.

»Komm, komm!« sagte der Bruder etwas verlegen. »Dein Bub – das ist doch der Kleine – braucht nicht alles zu hören, was wir uns zu sagen haben.«

Er führte seine Schwester durch eine Seitentür, die er heftig hinter sich zuschlug. Brechtle blieb in der großen Stube allein zurück und sah sich erst scheu, dann mit kindlicher Neugier in dem altertümlichen Gemach um, das mit dem behäbigen Luxus früherer Zeiten ausgestattet war. Die Schwarzmanns gehörten zu den wohlhabenden Familien der Stadt und hatten sich über die Mauern hinaus in der Welt umgesehen. In einem Glasschrank, auf Tischchen und an den Wänden entdeckte der Kleine hochinteressante Dinge: eine Kokosnuß, zwei Riesenmuscheln, einen Mohren aus Porzellan, ein Schiffsmodell, an der Wand zwei reichverzierte Türkensäbel mit einem Roßschweif darüber. Das merkwürdigste aber war eine Standuhr, in der sich eine Schäferin schaukelte, wie wenn sie fliegen wollte. ›Sie kommt auch nicht weiter‹, dachte Brechtle. ›Alles will fliegen, und niemand kann's! ‹ Dabei überhörte er fast die Stimmen im Nebenzimmer, die bald lauter und zornig, bald eindringlich und leiser klangen, ohne daß er ein Wort verstehen konnte. Dann trat er ans Fenster und sah in die Herbelgasse hinunter. War das ein Leben! Acht, zehn Leute auf einmal! Und jetzt donnerte etwas vom Rathaus her den Hügel herunter, betäubend, erschütternd, daß die Fensterscheiben klirrten. Vier Kanonen wurden in scharfem Trab dem Herbeltor zugeführt. Da und dort rissen Leute die Fenster auf. Es war auch für Ulm kein alltägliches Schauspiel, und unter den Haustüren schimpften alte Männer und Weiber auf die Kaiserlichen, die die Stadt im Stich ließen und ihr die Kanonen stahlen. All das mit Augen und Ohren verschlingend, hatte Brechtle nicht bemerkt, daß neben ihm eine bleiche kleine Frau stand, seine Tante, die lautlos zur Tür hereingekommen war. Erst als ihn ein großer Junge beim Hals packte, vom Fenster wegzog und mit einem: »Wer ist denn der da?« begrüßte, erwachte er wieder. Es war sein Vetter Hans, ein eckiger, hochaufgeschossener Junge von zwölf Jahren, der sichtlich die Gewohnheit hatte, den Herrn im Haus zu spielen, wenn der Vater nicht um den Weg war.

Als dieser mit Frau Berblinger wieder aus dem Nebenzimmer heraustrat, hatte er einen hochroten Kopf, seine Schwester verweintere Augen als je. Es war drinnen zu einer Familienszene gekommen, an deren Schluß Herr Schwarzmann das Testament seines Vaters auf den Tisch warf und Frau Berblinger sich überzeugte, daß ihr vom väterlichen Erbe nichts zustand als die Standuhr mit der fliegenden Schäferin, die sie als Kind leidenschaftlich geliebt hatte. Beide, namentlich aber der Bruder, schienen die Sache jetzt als abgemacht betrachten zu wollen und bereit zu sein, sich anderen Dingen zuzuwenden. Herr Schwarzmann, seit drei Jahren Meister der Schiffer- und Fischerzunft von Ulm, seit einem Jahr Mitglied des Großen Rats der Stadt, wie es sein Vater gewesen war, hatte Eile. Er wurde auf dem Rathaus erwartet. Es war ja ein Umtrieb gegenwärtig, daß einem der Kopf brummte. Überhaupt, die Herren von den Geschlechtern, die alten Patrizier, ließen alles laufen, wie es eben lief. Stündlich kamen reitende Boten von der Alb, von Geislingen, das Donautal herunter. Kein Mensch konnte sagen, ob man morgen französisch sein werde oder türkisch. Das eben seien vermutlich die letzten Kanonen gewesen, die im Zeughaus gestanden hätten.

Rasch machte er seine Frau mit der Schwester bekannt. Sie bleibe vorläufig im Hause, und der Bub – wie heißt der Schulmeistersbub? – Brechtle? Dummheit! Für den Albrecht könne das alte Kanapee in Hansens Stübchen gestellt werden. Die Buben würden sich schon selbst verhauen, bis sie aneinander gewöhnt seien. Wenn das Wiener Ordinarischiff Wöchentlich einmal ging zu jener Zeit regelmäßig ein Boot nach Wien ab, das man das ›Ordinarischiff‹ nannte. noch heute nachmittag fortkomme, sei er zum Nachtessen jedenfalls wieder hier.

Damit seine Haltung plötzlich ändernd – er ging nämlich anders als Ratsherr, anders, wenn er nach seinen Schiffen und Schiffern sah –, stolzierte er feierlich zur Tür hinaus und langsam die krachende Treppe hinunter.

»Aber wo ist denn die Donau?« fragte Brechtle schüchtern, dessen leitender Gedanke mit schwäbischer Zähigkeit alle Eindrücke überwand, die auf ihn einstürmten. Herablassend versprach Hans, sie dem Vetterchen zu zeigen, während die beiden Frauen sich ineinander zu schicken und die grüne Stube einzurichten begannen, in der auch am hellen Nachmittag tiefe Dämmerung herrschte. Sie rührte vom Nachbarhaus her, dessen staubige, fensterlose Riegelwand man unschwer mit der ausgestreckten Hand berühren konnte. Keine Frage: Ulm war eine prächtige und ehrwürdige Stadt und die Heimat der Familie seit dreihundert Jahren, wie der alte Schwarzmann nicht oft genug versichern konnte. Luft und Licht im Gärtchen auf der Alb hatten aber doch auch ihre Vorteile, dachte heute seine entartete und schwer bestrafte Tochter und seufzte.

 

Gegen Abend des für alle ereignisvollen Tages sammelte sich die Familie wieder im großen Wohnzimmer, wo auf einem mächtigen Eichentisch für zehn Personen gedeckt war. Hans hatte in der Tat seinem kleinen Vetter in nicht unfreundlicher Weise die Donau gezeigt, mit dem häufigen Hinweis darauf, daß sie eigentlich ihm und seinem Vater gehöre. Dann hatten sie drüben am anderen Ufer den Schiffsbauplatz besichtigt und weiter unten den ›Schwall‹, wo die Zillen beladen wurden und das Wiener Ordinarischiff, zur Abfahrt bereit, schon die Ulmer schwarzweiße und die österreichische schwarzgelbe Flagge aufgezogen hatte. Zum erstenmal in seinem Leben sah Brechtle so viel Wasser beisammen, daß es wirklich Schiffe tragen konnte, und Hans ergötzte sich mit der Überlegenheit des Stadtjungen herablassend an den hundert Fragen seines Schützlings. Doch ließ sich Brechtle nicht ganz unterkriegen. Er wußte auch, daß all das Wasser nach Wien fließe und dann durchs Ungarland in die Türkei und dann – das wußte Hans nicht, für den die Welt bei Peterwardein aufhörte –, dann ins Schwarze Meer, wo es wahrscheinlich ein türkischer Hexenmeister in Tinte verwandelte.

Dies war ein Witz Brechtles, den Hans ernst nahm.

»Wie der alte Lombard auf dem Münsterturm«, meinte er etwas kleinlaut. »Der ist auch ein Hexenmeister, sagt unsere Gret.«

»Es gibt keine Hexenmeister«, versetzte Brechtle eifrig und froh, seinen großen Vetter belehren zu können. »Das ist nur so eine türkische Geschichte. Man braucht auch keine mehr, sagte mein Vater, sobald sein Perpetulum in Gang komme. Und beinahe habe man's jetzt schon so weit gebracht, seitdem die Engländer Feuermaschinen bauen.«

Nun aber fühlte Hans keinen Grund und Boden mehr unter den Füßen. Er schlug deshalb vor, nach dem Zeughaus zu laufen und die Kanonen zu sehen. Sie liefen, kamen aber zu spät. Das Hoftor war offen, wie alle Türen und Tore in dem düsteren Gebäude, die Räume waren fast leer. Da und dort hing noch eine vergessene Flinte oder eine Gruppe hundertjähriger Spieße und Hellebarden. Im Hof lagen Haufen von Kugeln; die Kanonen aber waren verschwunden. Auch war es hohe Zeit, ans Abendessen zu denken.

Sie erreichten das Haus, als eben der Vater mit schweren Schritten die Treppe hinaufstieg, begleitet von zwei Männern, die ihm ehrerbietig folgten. Der eine war ein Schiffermeister, der für Schwarzmann Zillen nach Wien geführt hatte und soeben nach sechswöchiger Reise zurückgekehrt war, der andere ein österreichischer Armeelieferant, der fünftausend Paar Stiefel auf der Donau nach Wien bringen wollte und dem der Angstschweiß auf der Stirne stand, sooft man von den herannahenden Franzosen und ihrem bereits weltbekannten Mangel an Stiefeln sprach. Das ganze Land, erzählten die Gäste, sei voll Krieg und Kriegsgeschrei, aber man sei guten Mutes drunten in der Kaiserstadt. Das Reich werde sich doch von dem Lumpenpack von Republikanern nicht ins Bockshorn jagen lassen! Sie sollten nur fest hinstehen in Schwaben, mit ihrem Reichsbanner, und die tapferen Reichsstädte Ulm, Augsburg, Memmingen, Regensburg und wie sie alle hießen, seien auch noch da.

»Ja, ja«, meinte der Rat, »wir sind noch da. Wenn uns aber ihr Österreicher die Kanonen nehmt und mit dem ganzen Kriegszeug der Stadt retirieret – Kreuzschwerenot! – womit sollen wir schießen? Ich bin gut reichsdeutsch, solang es geht, und laß dem Kaiser nichts geschehen. Aber – Herr Gott von Peterwardein! – womit sollen wie schießen? Morgen soll die ganze Stadtmiliz wieder antreten, meine Schiffer auf dem Weinhof. Ihr könnt gleich mittun, Molfenter, und Euer Wiener Feuer losbrennen.«

»Ist doch immer besser, als wenn die Franzosen die Kanonen holten und euch mit dem eignen Geschütz zusetzten«, sagte der Lieferant.

»Das schon, das schon!« gab Schwarzmann höflich zu. »Wir müssen halt sehen, wie wir's treiben. Die Schiffer sollen ans Glöckler Tor kommen und das Lauseck besetzen. Wir sind's zufrieden. Wenn sie kommen, die roten Banditen, werden sie vorerst am Neutor anklopfen. Das hält die erste Kompagnie: die Weber und die Kaufmannszunft. Geschieht den Kerls recht. Tragen immer die Nase so hoch als seien sie die Herren der Stadt, die Krämer! Nun können sie's zeigen.«

Man war im Begriff, sich zu setzen, als ein Männchen zur Tür hereinschlüpfte, das Brechtle fast erschrocken anstarrte. Der kleine Herr hatte ein abgeschabtes, aber sauberes schwarzes Röckchen an mit langen Schößen und gewaltigen Aufschlägen, wie sie vor fünfzig Jahren Mode waren. Sein Haar war gepudert, und ein steifes Zöpfchen, keck nach oben gedreht, hing ihm im Nacken. Sein Gesicht war häßlich wie die Nacht: große graue Fischaugen, eine kaum sichtbare Stumpfnase, eine hervortretende Unterlippe und ein gewaltig großer Mund. In der Hand hielt er einen Dreispitz, der ihm half, eine zierliche Verbeugung gegen Frau Berblinger und ihre Schwägerin zu machen. Dann nahm er seinen Platz am unteren Ende des Tisches ein, sprang aber sogleich wieder auf und sprach mit näselnder Stimme das Tischgebet. Hans benutzte den Augenblick dazu, seinem Vetter das neben dessen Teller liegende Brot wegzustibitzen, was die Mutter mit einem hilflosen Blick bestrafte, während sie Brechtle, der feuerrot geworden war, ihr eigenes Brot hinüberreichte.

Man aß in tiefem Schweigen. Nur der Herr Rat unterbrach es gelegentlich mit einer kurzen Bemerkung und war sichtlich erstaunt, wenn jemand darauf erwiderte. Feierlich legte er schließlich Messer und Gabel weg und begann, sich behaglich zurücklehnend, in etwas gesprächigerem Ton:

»Prosit Mahlzeit Herr von Schnabelkern! Hoffe, die schwäbischen Würste und das bayrische Kraut vertragen sich in Ihrem Innern. Wir sind gut deutsch hier, wir Ulmer, wie es einer freien Stadt ansteht. Das können Sie den Wienern versichern, wenn Sie mit Ihren Stiefeln wieder glücklich zu Hause sind. Was sagt man dazu, Herr Pestilenziarius?«

Der Wiener sah verwundert auf; der Rat lachte.

»Pestilenziarii habt ihr wohl nicht in eurer Kaiserstadt«, fuhr er fort. »Ja, sehen Sie, wir haben doch noch manches voraus in und um Ulm. Eigentlich haben wir auch keine mehr. Mein Herr Vetter ist sozusagen ein Überbleibsel aus der guten alten Zeit, in der man noch an unsern Herrgott glaubte und gegen die Pestilenz beten ließ, von Amts wegen, wie sich's Christen geziemt. Sie haben's auch hier schon seit vierzig Jahren abgeschafft, zahlen aber meinem Vetter, dem Magister Balthasar Krummacher dahier, eine nicht unerkleckliche Pension für seine Bemühungen in der Vorzeit und respektieren ihn bis an sein Lebensende dementsprechend.«

Alle betrachteten jetzt den Pestilenziarius aufmerksam, der unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte.

»Da fällt mir ein«, begann der Rat wieder, sich an das kleine Männchen wendend. »Das ist etwas für Sie! Sie haben die Rosel als kleines Mädel gekannt und müssen den Berblinger gekannt haben, den Hilfslehrer. Auch so ein verrückter Kerl, obgleich er mit des Kuckucks Hilfe mein Schwager geworden ist. Da haben wir jetzt die Folgen, den Brechtle, wie sie ihn heißen. Ehrlicher Leute Kind, aber trotzdem eine dumme Geschichte, Rosel, eine ganz dumme Geschichte, wie du nachgerade selbst einsiehst. Na, Herr Pestilenziarius, den Brechtle könnten Sie mir in die Hand nehmen. Man soll nicht sagen, der Rat Schwarzmann lasse seiner Schwester Buben aufwachsen wie eine Kaulquappe. Der Köter sollte in die Lateinschule. Er sei zehn Jahre alt, meint seine Mutter, die's wissen muß. Ins Gymnasium mit dem Kerlchen. Lernt er was, kann man weiter sehen; lernt er nichts: auch gut. Dann nageln wir ihn in ein Faß und lassen ihn die Donau hinuntertreiben. Das ist alter Ulmer Brauch. Der Herr Pestilenziarius wird's besorgen, Brechtle.«

Schwarzmann lachte laut über seinen Witz, die beiden Gäste etwas leiser. Brechtle sah entsetzt nach seiner Mutter, als ihn auch der Pestilenziarius anstarrte, wie wenn er schon für das Faß Maß nehmen wollte. Und doch: Unter der entsetzlichen Grimasse, die er schnitt, blitzte etwas wie Wohlwollen, wie Mitleid auf, halb mit sich, halb mit dem Kleinen. Dieser fühlte, was niemand am Tisch zu sehen vermochte, eine gute Seele unter der abstoßendsten aller Masken. Ohne Zaudern ging er, dem Wink seiner Mutter gehorchend, auf den häßlichen kleinen Mann zu, nachdem dieser das Dankgebet gesprochen hatte, und küßte ihm die Hand. Der Pestilenziarius legte sie ihm auf das blonde Köpfchen, ohne ein Wort zu sagen, und durch Frau Berblingers Mutterherz zog's wie ein leiser Trost. Sie hatte ihn ja auch gekannt, den kleinen Magister, und über ihn gelacht und gespottet in ihren Mädchenjahren. Es war doch noch nicht alles kalt und roh und fremd geworden in der alten Heimat.

Bei einem großen Krug Söflinger Wein, den der Wiener Gast todesmutig lobte, ließ man die Männer allein. Es war spät geworden; fast neun Uhr! Die Jungen wurden zu Bett geschickt, und Brechtle versank schon halb schlafend in den Federkissen, mit denen ein kleines krachendes Kanapee in ein Bett umgewandelt worden war. Er hörte noch, wie sie unten ein Vivat auf Stadt und Reich ausbrachten. Gleich darauf rollte ein Wagen durch die Herdbrucker Gasse: erst ein leises fernes Donnern, das lauter und lauter anschwoll und dann wieder in tiefer nächtlicher Stille versank. Später rief mitten in seinen Träumen hinein ein Nachtwächter: »Hört, ihr Leute, laßt euch sagen, die Glock hat zehne g'schlagen; nehmt Feuer jetzt und Licht in acht, dieweil der Herr die Stadt bewacht«, ein Sang, dem ein heulender, langgezogener Klagelaut folgte, alles Töne, die nie zuvor sein Ohr berührt hatten und ihn jetzt wie in ein Zaubermärchen einwiegten, in welchem alles Leid des Lebens unterging.

 

Und doch war eine wilde Nacht angebrochen, von der sich die Ulmer noch Jahrzehnte später erzählten, trotz aller Stürme, die in der nächsten Zukunft über die Stadt hereinbrechen sollten.

Kurz vor zwei Uhr klopfte es scharf an der Haustür. Fenster öffneten sich. Stimmen fragten, wo es brenne. Brechtle erwachte. Hans saß schon aufrecht im Bett und zitterte. Sie hörten von da und dort den alten gefürchteten Ruf »Feuerjo!«, aber in einem unsicheren, fragenden Ton, und dann war es wieder minutenlang still, schrecklich still. Durch die Türspalte drang jetzt Licht. Hans sprang aus dem Bett und öffnete die Tür, wurde aber von seinem Vater, der in Schlafrock und Zipfelmütze im Nebenzimmer stand und nach seiner Uniform schrie, mit einem derben Klaps zurückgeschickt. Jetzt tönten rasche durchdringende Glockenschläge vom nahen Münsterturm. »Sie schlagen Sturm«, flüsterte Hans mit klappernden Zähnen. Sein Vater rief heftiger nach seiner Uniform, nach seinen Stiefeln, nach seinem Degen. Die Tante, die Mägde, alles war in Bewegung. Das Sturmläuten hatte aufgehört. Von der Straße herauf hörte man jetzt das rennende Trampeln von Einzelnen, dann von ganzen Trüpplein, die sich zuriefen. Nein; es brannte nicht. Die Franzosen standen vor den Toren. Das Sturmläuten begann nach kurzer Zeit aufs neue. Nun hörte man den Onkel mit einem eigentümlichen Klirren hastig die Treppe hinabgehen und die Haustür dröhnend hinter sich zuschlagen. Immer lauter wurde es auf den Straßen, in denen Laternen ohne Zweck und Ziel hin und her zu irren schienen. Da und dort wurden Fenster beleuchtet und warfen ein mattes Licht auf das Nachbarhaus. Die Herdbrucker Gasse hatte noch keine Straßenbeleuchtung, und die Jungen, die die Schlafzimmertür von außen verschlossen fanden, konnten aus ihrem Dachfenster nicht sehen, was unten vorging. Dagegen sahen sie das Wächterhäuschen auf der Plattform des Münsterturms. Dort hingen an einem weit herausragenden Gestänge zwei Pechfackeln und funkelten wie Sterne. »Das«, sagte Hans, »bedeutet: Bürgermiliz heraus. Wenn es brennt, zündet der Turmwart nur eine Fackel an. Ich weiß das von damals, als der Weinhof abbrannte.«

»Ans Gänstor die Metzger!« rief eine dröhnende Baßstimme unten. »Die Schneider und Schuster auf die Adlerbastei. Dort sind sie am sichersten.«

Ein schallendes Gelächter folgte. Dann schrie plötzlich eine gellende Stimme. »Es sind die Franzosen! Vivat die Franzosen! Vivat die Republikaner!«

»Nieder mit dem Kerl! Schlagt ihn tot, den Hund!« brüllte eine dritte Stimme, und einem lauten, gutmütigen Lachen folgten etliche dumpfe Schläge.

Dann wurde es stiller unten. Die Leute schienen sich verlaufen zu haben, das Sturmläuten hatte abermals aufgehört. Erst nach einer Stunde hörte man das Volk in größeren Haufen wieder vorüberkommen, lachend und plaudernd. Auch lautes Schimpfen mischte sich ein. Doch hatte sich die Aufregung sichtlich gelegt.

»Geht zu Bett, Buben«, sagte die Tante, die die Schlafzimmertür aufschloß und den Kopf hereinstreckte. »Es ist vorbei.«

»Was ist vorbei?« fragte Hans unwirsch. Er hatte es sehr übel vermerkt, daß sie eingeschlossen gewesen waren.

»Ich weiß nicht, aber es ist vorbei«, antwortete seine Mutter. »Der Vater ist auf dem Rathaus, und alle Leute gehen wieder zu Bett. Macht, daß ihr selbst in die Federn kommt. 's ist nichts mehr zu sehen.«

Die Jungen gehorchten zögernd, und Brechtle lag bald wieder in tiefem Schlaf. Am folgenden Morgen war ihm, als habe er nach einem wundervollen Tag einen häßlichen Traum geträumt. Aber es war doch wieder etwas zu sehen, als er in das Wohnzimmer trat, wo in einer mächtigen Kanne der Morgenkaffee auf dem Tisch dampfte. In einer Fensternische stand der Onkel, etwas bleich und überwacht dreinsehend, in der Majorsuniform der Stadtmiliz und neben ihm ein vornehmer Offizier in weißgelben Reithosen, mit goldenen Epauletten auf dem blauen Frack. Die Herren unterhielten sich in einem wunderlichen Kauderwelsch. Der Fremde war einer von den ersten Franzosen, vom ersten Feind, der seit fast hundert Jahren in die Reichsstadt eingedrungen war. Damals – die Geschichte war fast vergessen – hatten sich die Bayern durchs Gänsetor eingeschlichen. Doch gab's blutige Köpfe, und man hatte sich ein paar Stunden lang gegen Übermacht und Hinterlist gewehrt. Diesmal kamen sie durchs Neutor und – Gott sei's geklagt – es ging leichter. Gestern nacht hielten drei Schwadronen Chasseurs vor der Zugbrücke und begehrten stürmisch Einlaß, drohten auch, ohne Verzug Kanonen aufzufahren, die sie nicht hatten, um das Tor zusammenzuschießen und alles massakrieren zu lassen. Die Stadtwache sollte dort erst heute mittag aufziehen. Der Torwart, von seiner Frau tatkräftig unterstützt, weigerte sich mutig, die Brücke herabzulassen, schon weil er nicht verstand, womit die Leute drohten. Der Steuereinnehmer, den er rasch geweckt hatte, lief aufs Rathaus, und schon nach einer Stunde schlug der Wächter auf dem Münsterturm Sturm. Zum erstenmal seit Menschengedenken wurde eine schlechtbesuchte Sitzung des Kleinen Rats nachts um ein Uhr abgehalten, um zu erörtern, was unter sotanen dringenden und gefährlichen Umständen zu tun sei. Der Bürgermeister, Herr von Besserer, stimmte dem alten Herrn von Baldinger zu, der in wohlgesetzter Rede – der alte Herr verlor nie den Kopf, was allgemein anerkannt wurde – darlegte, daß, nachdem die verbündeten Österreicher das Zeughaus ausgeleert und das meiste Pulver in die Donau geworfen, eine Verteidigung der Stadt mit Waffengewalt nicht rätlich, da dieselbe zweifellos zur Verschlimmerung der ohnehin mißlichen Lage führen müßte. Es seien demnach unter Protest die Tore zu öffnen, in der Hoffnung, daß die siegreiche Kriegsmacht Seiner Kaiserlichen Majestät die getreue Reichsstadt baldigst aus gegenwärtiger Notlage mit Gottes Hilfe erretten werde. Eine diesbezügliche Deputation sollte unverzüglich nach Wien abgesandt werden und spätestens zu Anfang nächster Woche mittels Extraschiff Ulm verlassen.

Demgemäß machten sich zwei Stadtknechte und der jüngste der Herren vom Kleinen Rat Herr Schad von Mittelbiberach mit Laternen auf den Weg, um zunächst dem Torwart am Neutor das Öffnen desselben zu gestatten, zuvor allerdings aber mit dem Kommandanten der feindlichen Kriegsmacht über die Bedingungen der Übergabe der Stadt sich wenn möglich zu verständigen; während welcher Zeit die bereits alarmierte Bürgerschaft – das Sturmläuten, das niemand angeordnet hatte, hörte während der ganzen Sitzung in höchst störender Weise nicht auf – nach alter Ordnung die zwölf Bastionen der Stadt zu besetzen habe. Herr von Schad und die zwei Stadtknechte begegneten jedoch der feindlichen Truppenmacht schon in der Herrenkellergasse, wodurch der Auftrag hinfällig wurde und er es auf eigene Verantwortung hin unternahm, den französischen Oberst und dessen Adjutanten nach dem Rathaus zu geleiten, woselbst sofort, jedoch nicht ohne einige Verwirrung, die Verteilung der Quartiere stattfand, wie all dies aus dem Protokoll zu ersehen, das der Herr Ratschreiber trotz manchfacher Störung noch am selben Tage aufsetzte.

Herr Schwarzmann, der nicht zum Kleinen Rat gehörte, nichtsdestoweniger aber in der Verwirrung der Sitzung angewohnt hatte, war mit dem Adjutanten des Obersten nach Hause gekommen. Es war ein Elsässer, der, wie sich bald herausstellte, Fischermeister in Straßburg gewesen war, so daß sich die beiden Majore um so rascher befreundeten, als der deutsche dem französischen ›im Interesse der Stadt‹ mit allen Zeichen der Unterwürfigkeit begegnete und, obgleich Zunftmeister, den tollsten Behauptungen seines Gastes in betreff von Fischen und Fischereigeräten zustimmte. Sie waren in der eingehendsten Auseinandersetzung über den Bau von Reusen am Rhein und an der Donau verwickelt, als Frau Berblinger, mit Brechtle hinter sich, eintrat. Die Frau stieß einen kleinen Schrei aus. Es war nicht derselbe Mann, aber es war nahezu dieselbe Uniform, die seit wenigen Tagen das Schreckbild ihres Träumens und Wachens geworden war. Am ganzen Leib zitternd wankte sie zur Tür wieder hinaus und schloß sich, fast ohne zu wissen, was sie tat, in ihr Zimmer ein. Brechtle war mit weitaufgerissenen Augen stehengeblieben und sah, starr und unbeweglich, den fremden Mann an. Auf seinem Gesichtchen wandelte sich der Schrecken des ersten Augenblicks in einen Ausdruck des Hasses, den man den Kinderzügen des Kleinen kaum zugetraut hätte.

Beide, der Onkel und der Offizier, welche Frau Berblingers hastiges Verschwinden aufmerksam gemacht hatte, betrachteten Brechtle, der Elsässer nicht unfreundlich lachend, der Rat mit verlegenem Ärger. Dann sagte der letztere: »Nur mein Schwestersohn, Exzellenz. Küß dem Herrn Oberst die Hand, Bub! Wie? – Dummer Kerl!«

Der Major streckte die Hand aus. Brechtle sah ihm keck ins Gesicht, ballte beide Hände zu Fäusten und legte sie auf den Rücken. Im nächsten Augenblick klatschte eine Ohrfeige, die das kleine Bürschchen fast zu Boden schlug. Sein Kopf stieß gegen die halboffene Tür, was ihn wieder aufrichtete. Er gab keinen Laut von sich, war aber, er wußte selbst nicht wie, aus dem Zimmer und lief halb betäubt nach seiner Mutter Stube. Da er dort die Tür verschlossen fand, setzte er sich auf die Schwelle und hub an zu schluchzen wie ein Kind, das er ja noch immer war.


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