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2. Brechtles Unvorsichtigkeit in der Wahl seiner Eltern

Damals, vor rund hundertundfünfzig Jahren, war dieser Witz noch fast neu. Ich zögere deshalb nicht, ihn zur Überschrift eines Kapitels zu benutzen, teils um meiner Geschichte jene Patina zu geben, die von Sachverständigen auf anderen Gebieten der Kunst so hoch geschätzt wird, teils um den ärgerlichen Leser darauf vorzubereiten, daß er in diesem Buch keine neuen sensationellen Paradoxen, sondern nur schlichte altbewährte, wenn auch oft versteckte Wahrheiten zu suchen hat.

Man brauchte in jenen Tagen nicht wie heute Dampf und Elektrizität und die halbe Erdkugel dazu, während eines mäßig bewegten Lebens in einem halben Dutzend fremder Länder, Fürstentümer und Herrschaften aufs abenteuerlichste umhergeschleudert zu werden. Ein rüstiger Fußgänger brachte dies unter Umständen ohne Anstrengung in ein paar Tagen fertig. Es ist deshalb auch nichts Außerordentliches, daß der Lebensweg von Berblinger senior über die Landesgrenzen innerhalb des heiligen römischen Reiches deutscher Nation in wunderlichen Rösselsprüngen hin und her hüpfte. Die Sache ließ sich schon vor seiner Geburt etwas bedenklich an. Niemand wußte mit Bestimmtheit, am wenigsten er selbst, wes Landes Kind er war, obgleich er zweifellos als das vierte Söhnchen des früheren Zeughausknechtes, späteren Zeughausverwalters Berblinger zu Ulm das Licht der Welt erblickt hatte. Seine Mutter aber stammte aus der Gegend von Kempten und liebte ihr bergiges Bayerland und ihren Kurfürsten dermaßen, daß dies die Ursache häufiger Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ehegatten wurde. Denn auch ihr Mann fühlte sich als freier Bürger eines reichsunmittelbaren Gemeinwesens nicht wenig, namentlich seitdem ihm infolge von Verbesserungen an gewissen Feldgeschützen der Stadt vom Kleinen Rat der Titel eines Zeughausunterverwalters verliehen worden war. Eine gewisse Verschärfung erfuhr das harmlose Zerwürfnis aber erst nach Fränzchens Geburt. Die Mutter erklärte nämlich kurz und bündig: die drei ersten Buben mögen sein, was sie wollen, der jüngste aber, der schon um anderthalb Pfund schwerer auf die Welt gekommen war als die anderen, sei ein echter Bayer und zwar aus Gründen, die damit zusammenhingen, daß die Stadt Ulm Ihrer Majestät der Kaiserin Maria Theresia drei nach Berblingers System verbesserte Haubitzen alleruntertänigst zu Füßen gelegt hatte. Dies geschah bei Gelegenheit eines feierlichen Friedensfestes, vornehmlich um den üblen Eindruck zu verwischen, welchen die Zuneigung der Reichsstadt für den großen Preußenkönig während des Siebenjährigen Krieges gemacht hatte. Nun wollte es aber die unerforschliche Vorsehung, daß besagte Feldstücke auf ihrem Weg von Ulm nach Wien schon bei der Brücke von Lauingen auf bayrischem Gebiet Schiffbruch erleiden mußten und für verloren erachtet worden waren. Berblinger erklärte jedoch, seine Feldstücke retten zu können. Dies gab Veranlassung zu einem mehrmonatigen Aufenthalt der Familie Berblinger in der gutbayrischen Stadt Lauingen, kurz vor dem freudigen Ereignis, das fast gleichzeitig mit der Hebung der Haubitzen eintrat. Zwar war es Frau Berblinger gelungen, ihr eigenes Heim noch rechtzeitig zu erreichen, sie wußte jedoch zu wohl, wie gut ihr in den letzten Monaten die frische Luft und das bayrische Bier zu Lauingen bekommen waren; auch zeigte sich in der Tat bald, daß der kleine Franz ein anderes Kerlchen war als seine Brüder, schlank, stark, zwar etwas stiller als sie, aber mit großen blauen, aufgeweckten Augen, kurz, ein echter Oberbayer; darauf bestand die Mutter.

Der Familienzwist nahm übrigens ein trauriges Ende. Der Zeughausunterverwalter hatte sich bei der Bergung der wertvollen Feldstücke eine schwere Erkältung zugezogen, die schließlich in Lungenschwindsucht ausartete. Auf diese Weise verlor Fränzchen seinen Vater, ehe er das dritte Lebensjahr erreicht hatte. Da die Familie arm war und der städtischen Verwaltung zur Last zu fallen drohte, war diese froh, als sich ein entfernter Vetter des Zeughausverwalters, ein Pfarrer zu Jebenhausen bei Göppingen, oder vielmehr dessen Frau erbot, das niedliche Bürschchen mitzunehmen, um ein bisher kinderloses schwäbisches Pfarrhaus wenigstens einigermaßen zu beleben. So änderte Berblinger senior schon in seinem vierten Jahr sein ›Nationale‹ zum drittenmal und wurde Württemberger.

Es würde zu weit führen, den Lebensweg des Jungen als Pflegesohn der wackeren Pfarrleute im einzelnen zu verfolgen. Das stille, fast allzu gesetzte Wesen des großen blauäugigen Lockenkopfes wurde zwar von der Frau Pfarrerin stets rühmend anerkannt, der Pfarrherr aber erlebte nicht viel Freude an seinem Pflegesohn, der eine unnatürliche Abneigung gegen die Humaniora in irgendwelchen Form an den Tag legte, dagegen häufig, anstatt ernsten Studien obzuliegen, die Bänke der Lateinschule zu Göppingen zerschnitzte und anstatt lateinische und griechische ›Vokabeln zu memorieren‹, sich auf dem Weg zwischen Jebenhausen und Göppingen mit kindischen Wasserbauten beschäftige, die übrigens selbst der gestrenge Schultyrann heimlich bewunderte. Trotzdem, allerdings nicht ohne vorangegangene Anwendung ernster Gewaltmaßregeln, finden wir ihn vierzehn Jahre später im ›Stift‹ zu Tübingen, wo er sich naturgemäß der Theologie ergeben sollte.

Die Freiheiten, welche zu jener Zeit die angehende Geistlichkeit genoß, waren engbegrenzt, doch genügten sie Berblinger, seiner Abneigung auch gegen diese Disziplin einen unzweideutigen Ausdruck zu geben. Durch die philosophischen Jahre kam er nicht unrühmlich; dann aber geriet er nach Ansicht seiner verantwortlichen Lehrer auf bedauerliche Abwege. Seine Predigtübungen verirrten sich, wenn er nicht steckenblieb, regelmäßig auf das Gebiet der Naturwissenschaften, vornehmlich der Physik, in der er Gott zu erkennen glaubte, sei es in den Gesetzen der Planetenbewegung, sei es in denen des Hebels; sein liebster Aufenthalt war eine halbdunkle Dachkammer, ›Kabinett‹ genannt, in der sich eine zerbrochene Luftpumpe im Staub wälzte und einige Vorrichtungen zur Erzeugung von Galvanismus und Elektrizität aufbewahrt waren, mit denen selbst der für sie verantwortliche Magister der Philosophie nichts anzufangen wußte: ein Geschenk Seiner Durchlaucht des Herzogs Karl, der sie aus demselben Grund aus seiner Akademie zu Stuttgart hatte entfernen lassen. Hier hantierte Berblinger stillvergnügt mit Glasplatten, Schellack, Katzenpelzen und Fuchsschwänzen, anstatt sich mit den Kirchenvätern zu beschäftigen oder heimlichen Kneipgelagen beizuwohnen. Seine Studiengenossen hielten ihn für einen harmlosen Sonderling, den zu stören sich kaum lohnte, und nur ein gewisser Fischer, ein stets heiteres, nur allzu witziges Männchen, der wußte, daß auch seine gewagtesten und ordnungswidrigsten Betrachtungen über Gott und Welt bei Berblinger wohl aufgehoben waren, bewahrte dem großen Kind eine schützende, fast mütterliche Freundschaft. Dabei glaubte er halb und halb an Berblingers Forschungen und förderte sie dadurch, daß er die geistigen Abfälle seiner eigenen schriftlichen Arbeiten zu einem Ragout für seinen Freund verarbeitete, das dieser ohne die geringste Gewissensregung den Universitätsbehörden vorsetzte. Die Folgen dieses schwer entschuldbaren Verhältnisses blieben nicht aus. Von Algebra und Analysis, von Differential- und Integralrechnung, die Berblinger fleißig studiert hatte und leidlich beherrschte, von seiner Dissertation über das Verhältnis des noch zu erfindenden Perpetuum mobile zur göttlichen Weltordnung wollten die Herren Examinatoren am Schluß seines achten Semesters nichts wissen und so schloß er seine theologische Laufbahn, ehe sie eigentlich begonnen hatte, mit einem kläglichen Durchfall.

Man riet ihm wohlwollend, sich dem Lehrfach zuzuwenden, aber auch dort war Latein, Griechisch, Hebräisch, ›etwas‹ Geschichte und noch weniger Geographie der einzige Maßstab, an dem die Brauchbarkeit eines jungen Mannes gemessen wurde. Doch was tut der Mensch nicht, wenn er muß. Es folgten mehrere Jahre unruhiger Irrfahrten an den verschiedenen Lateinschulen und Seminarien des Herzogtums, in denen ihn sein Freund Fischer, der bereits eine ständige Pfarrverweserei innehatte, mit einem menschgewordenen Perpetuum mobile verglich und dringend bat, den Wert und Nutzen seiner Lieblingsidee doch ja am eigenen Leib beobachten zu wollen. Aber auch hierzu ließ ihm das Schicksal nicht die genügende Zeit. Sein Landesherr hatte wieder einmal ein paar Regimenter an Frankreich zu liefern, um die Kosten der glänzenden Hoffeste, für die Stuttgart seit Jahrzehnten berühmt war, zu decken. Da wollte es der Zufall, daß der große, stattliche Hilfslehrer der Lateinschule zu Göppingen in tiefgedrückter Stimmung den Abend mit einem liebenswürdigen und trinkfesten Werbeoffizier des Herzogs zubrachte und fast getröstet nach Hause ging. Am folgenden Morgen jedoch wurde er unsanft geweckt und benachrichtigt, daß er angeworben sei und sich bereit zu halten habe, gegen Mittag mit anderen sechs Mann, einem Flickschneider, drei Tagelöhnern und zwei böhmischen Mausefallenhändlern nach Stuttgart abzumarschieren. Wie es ihm gelang, noch am Vormittag mit Zurücklassung von Hab und Gut, seinen wissenschaftlichen Schriften und mehreren Modellen seines Perpetuums nach Geislingen zu entkommen, blieb ihm selbst fast ein Rätsel. Dort auf Ulmer Gebiet war er für den Augenblick einer militärischen Laufbahn entronnen. Die Ulmer aber freuten sich, einen württembergischen Deserteur unter ihre Fittiche nehmen zu können, erstlich, weil sich derselbe als ihr eigener verloren gegangener Landsmann entpuppte, und zweitens, weil ihnen die Württemberger erst vor kurzem ihren Konzertmeister und Poeten Schubart aufs schmählichste über die Grenze gelockt und weggeschnappt hatten. Doppelt glücklich aber durfte sich Berblinger preisen, als er in dem hochangesehenen Pastor und Mathematikus Matthias Faulhaber einen alten Freund und Gönner seines Vaters fand und durch dessen angelegentliche Vermittlung am Gymnasio academico der freien Reichsstadt die neugeschaffene Stelle eines Lehrers der Algebra, der höheren Geometrie und des Zeichnens erhielt, mit der Verpflichtung, im Fall der Erkrankung der ständigen Professoren auch Unterricht in Latein, Griechisch und Hebräisch zu erteilen. Mit den besten Wünschen für die dauernde Gesundheit seiner neuen Kollegen trat er sein Amt an und begann unverzüglich, die in Göppingen begonnenen Modelle durch neue verbesserte Schöpfungen seines ruhelosen Geistes zu ersetzen.

Hier aber ereilte ihn die Katastrophe seines Lebens. Schiffahrt und Schiffbau auf der oberen Donau standen damals noch in voller Blüte. Erst spätere Zeiten erfanden für die stattlichen Flachboote, die in Ulm gebaut wurden und lustig bewimpelt in die weite Welt fuhren, aber selten zurückkehrten – denn sie wurden in Wien und Pest als vortreffliches Bau- und Brennholz verkauft –, die ehrenrührige Bezeichnung ›Ulmer Schachteln‹. Eine hochangesehene Schifferzunft pflegte das Gewerbe und ihre sozialdemokratischen Einrichtungen mit Eifer, Gewissenhaftigkeit und zuweilen auch nicht ohne engherzige Strenge. Allwöchentlich segelte, richtiger gesagt ruderte, noch richtiger trieb ein ›Ordinarischiff‹ vom Landungsplatz am Gänstor die Donau hinab auf dem Weg nach Wien, dem zwei, drei, fünf Boote folgten, je nach der Geschäftslage im Osten Europas. Auch wußte die Chronika der Zunft von Armeen zu erzählen, die in Kriegszeiten für das Reich wie für seine Feinde auf ihren Zillen befördert worden waren. Immer aber bildete die Schifferzunft ein reges Bindemittel zwischen dem enger werdenden Gesichtskreis der alternden Reichsstadt und der übrigen Welt und hielt Erinnerungen an die Zeit aufrecht, in der das süddeutsche Städtewesen ein bedeutsames Element des Wohlstandes und der Kultur im Leben des Volkes gebildet hatte. Ein Dutzend alter Ulmer Familien, die Heilbronner, Käßbohrer, Molfenter, Scheiffele und wie sie alle hießen, vererbten seit Jahrhunderten die Wohlfahrt, die Traditionen und den Stolz des Gewerbes von Geschlecht zu Geschlecht, und keine andere Zunft genoß in der Stadt und weit über ihre Grenzen hinaus das Ansehen und die Popularität der Ulmer Schiffer.

An ihrer Spitze stand zur Zeit als Zunftmeister der alte Anton Schwarzmann, der jüngste Bruder des verstorbenen Karl Friedrich Schwarzmann, den der Kaiser im Jahre 1766 geadelt hatte, der aber in seinem Bürgerstolz klug genug war, einige Jahre später auf die Ehre zu verzichten, nachdem ihm die Patrizier des Kleinen Rats klar gemacht hatten, daß sich seine neue Würde nicht mit einem blühenden Fisch- und Schneckenhandel vertrage, den schon sein Urgroßvater betrieben hatte. Der ›junge‹, übrigens 65 Jahre alte Schwarzmann, der jetzige Zunftmeister, ein ehrgeiziges Luder, wie ihn der Kleine Rat in geheimer Sitzung und seine Zunftgenossen öffentlich nannten (denn dem Ulmer Deutsch fehlte es nie an der wünschenswerten Deutlichkeit), sah die Sache anders an und hätte alle Fische und Schnecken des reichsunmittelbaren Gebietes darum gegeben, wenn sein Bruder nicht so verrückt gewesen wäre, die Ehre und den Glanz der Familie den Schnecken zu opfern, die ohnehin im Rückgang begriffen waren. So war ihr voraussichtlich für Zeit und Ewigkeit Sitz und Stimme in der ›Oberen Stube‹ verlorengegangen. Seit etlichen Jahren allerdings hoffte er wieder. Sein einziges Töchterlein war zu einer Jungfrau herangewachsen, auf die Ulm, wo es an schönen und stattlichen Frauen nicht fehlte, stolz zu werden begann, und der letzte Sproß des altpatrizischen Geschlechtes derer von Wespach war, obgleich schon ein Mann in reiferen Jahren, ein Freund seines ältesten Sohnes Fritz. Beide hatten seinerzeit lustige Tage zu Wien verlebt, wo der junge Schwarzmann nach dem Verkauf von drei Zillen seines Vaters Geld, der ältere von Wespach wie gewöhnlich nichts in der Tasche hatte. Dieses Verhältnis setzte sich später in Ulm fort. Hier wurde Herr von Wespach überdies von einer brennenden Leidenschaft für die schöne Schifferin ergriffen. Die Schwarzmann, Vater und Sohn, hätten die Verbindung mit dem alten Patrizierhaus sehr gern gesehen, obgleich Wespach als verlebter Taugenichts bekannt war, allein Fräulein Rosalie schien die Gefühle ihres Anbeters nicht zu teilen und wenig geneigt zu sein, ihre Schönheit zu opfern, um den Glanz eines vertrocknenden Geschlechts aufzufrischen. Überdies wollte es das Unglück, daß sie zu Ehren eines Neffen der feierlichen Preisverteilung im Gymnasium beizuwohnen hatte und neben den schlanken, blonden Hilfslehrer der Mathematik zu stehen kam. Dabei trat einer jener rätselhaften Fälle ein, deren Mysterium auch im Zeitalter der Elektrizität und des Magnetismus noch keine psychologische Untersuchung enthüllt hat. Nachdem Berblingers hervorragendsten Schüler nicht ohne Nachhilfe seines Lehrers den pythagoreischen Lehrsatz zur Befriedigung sämtlicher geladener Gäste bewiesen hatte, fühlte Rosalie Schwarzmann in stürmischer Aufwallung ihres Innersten, daß sie ohne den ruhigen, stattlichen Mathematikus nicht leben könne. Aber auch bei ihm regte sich zum erstenmal, während ihm der Neffe die errötende Tante vorstellte, infolge der geheimnisvollen Wechselwirkung, die ins Kapitel der Induktionsströme gehört, jenes Perpetuum mobile, das die Menschheit in der lieblichsten Weise der Welt und ohne alle Berechnung nicht zur Ruhe kommen läßt. Ein Ball auf der ›Unteren Stube‹, dem Gesellschaftshause der Bürgerlichkeit, eine Begegnung im ›Ruhetal‹ während eines Gewitters und die notgedrungene Heimkehr unter einem gemeinsamen Regenschirm steigerte das Unheil dermaßen, daß der sonst so gesetzte Mathematiker und außerordentliche Hilfslehrer den Boden unter den Füßen zu verlieren begann. Dazu kam gleichzeitig ein unerwartetes Drängen der Familien Schwarzmann und von Wespach und schließlich die gewaltsame Festsetzung des gefürchteten Verlobungstages.

Dies war zuviel für die beiden Liebenden. So wenigstens erklärte Fräulein Rosalie unter reichlichen Tränen ihrem geliebten Franz in dem Wäldchen hinter der Adlerbastei, nur von einer einsamen Schildwache beobachtet, nachdem sie die drohende Gefahr vierundzwanzig bange Stunden lang allein beweint hatte. Berblinger konnte die ihm noch unbekannten Frauentränen nicht ertragen und war zum Äußersten bereit. Er schrieb an seinen Freund Fischer, der zu Asch bei Blaubeuren im Württembergischen seines geistlichen Amtes waltete, mietete einen Einspänner und fuhr drei Tage später in der Abenddämmerung mit seiner Braut, die ihm vor dem Söflinger Tor in unauffälliger Weise begegnet war, über die Landesgrenze, auf derselben Straße, die der Dichter und Musikus Schubart wenige Jahre zuvor leichteren Herzens eingeschlagen hatte, um einem schwereren Schicksal entgegenzugehen. Armes Pärchen! Es war eine unvergeßliche, prachtvolle Mondnacht, in der das waldige Albtal förmlich erstrahlte, und noch vor Mitternacht hatten sie drei fremde Landesoberhoheiten zwischen ihr Glück und die bereits alarmierte Reichsstadt geschoben: das reichsunmittelbare Stift und Kloster Söflingen, das reichsritterschaftliche Gebiet von Herrlingen und das dem Deutschritterorden unterstehende Arnegg. In der Goldenen Gans zu Asch auf herzoglich württembergischem Boden, warm und witzig, wenn auch etwas verlegen begrüßt von dem noch immer unverheirateten Pfarramtsverweser Fischer, waren sie vor jeder Verfolgung vorläufig sicher. Dagegen hielt es Berblingers treuer Freund für seine heilige Pflicht, ihnen am folgenden Morgen in aller Stille vor dem Altar des Dorfkirchleins das bindende Ja abzunehmen und bewegten Herzens seinem Freund und dessen schon halbgetrösteten jungen Braut den erforderlichen geistigen Segen zu erteilen.

Sie hatten alle darauf gerechnet, daß sich vor einer so entscheidenden Tatsache die Wolken, die das junge Glück bedrohten, verteilen müßten, aber sie hatten sich schwer verrechnet. Der Pfarramtsverweser erhielt von seinem Dekanat und ein halbes Jahr später vom hohen Consistorio einen ernsten Verweis wegen unberechtigter Amtshandlung, und der rührende Brief der jungen Frau Berblinger an ihren Papa blieb unbeantwortet. Um so deutlicher war das Handschreiben ihres Bruders, der ihr riet, sich in Ulm nie mehr blicken zu lassen. Er habe mit eigenen Augen und mit großer Genugtuung gesehen, wie der Vater ihren Namen aus der Bibel gestrichen und mit zitternder Hand das Tintenfaß über das ganze Familienregister ausgeschüttet habe. Was geschehen sei, werde in diesem irdischen Leben nicht mehr auszuwischen sein. Tinte sei Tinte. Sie möge sich dementsprechend mit dem verdammten Duckmäuser, der sie und die Aussichten der Familie ruiniert habe, einrichten, so gut sie könne. Vielleicht das Nächste dieser leidvollen Flitterwochen war, daß die Schuldeputation im Einverständnis mit dem Kleinen Rat der freien Stadt Ulm den außerordentlichen Hilfslehrer Magister Franz Berblinger seines Amtes enthob und ihm anheimstellte, sich die ihm zustehende restierende Remuneration in Ulm selbst abzuholen, sich dagegen vorbehielt, diejenigen Maßregeln gegen ihn zu ergreifen, die sein pflichtvergessenes und öffentliches Ärgernis erregendes Entweichen mit der unverehelichten Jungfer Rosalie Schwarzmann geeignet erscheinen ließen. Dies klang so bedenklich, daß die drei beschlossen – der Pfarramtsverweser blieb nämlich in diesen schweren Tagen der treueste Freund und Ratgeber des Pärchens, das allerdings wesentlich durch seine Mitschuld ein solches geworden war –, lieber achtzehn Gulden und vierundzwanzig Kreuzer Ulmer Münz im Stich zu lassen, als sich der Gefahr auszusetzen, zur Hälfte den größeren Teil der Flitterwochen in Ulm hinter Schloß und Riegel zubringen zu müssen.

Nun aber brach der bittere Ernst des Lebens mit Macht über die verirrten Liebenden herein, die das Verbrechen begangen hatten, einen langen Liebesroman in einem einzigen Kapitel abmachen zu wollen. Die schöne Rosalie war zwar trotz aller vorübergehend angelegener Romantik klug genug gewesen, vor der Flucht ihr Beutelchen mit erspartem Haushaltungsgeld, das sie natürlich nach erworbenem Wohlstand mit Zinsen zurückzugeben gedachte, bis zum Platzen zu füllen. Aber schon nach zwei Monaten hatte es die Goldene Gans zu Asch völlig entleert. Weitere drei Monate, welche sie in der Hoffnung verlebten, daß die Mißstimmung in Ulm mit der Zeit ihre Schärfe verlieren werde, überzeugten sie, daß es unverantwortlich wäre, den guten Fischer, der selbst heiraten wollte, länger für ihr leibliches Wohl sorgen zu lassen. Als dieser die Pfarrei in Neidlingen erhielt, schien die Not ihren Gipfel erreicht zu haben. Bei seinem Abzug lieh Fischer dem Freund die Hälfte seiner Vierteljahrsbesoldung, die dieser mit bebender Hand und einer Träne im Auge annahm. Was tut ein Mann nicht, den eine junge Frau und werdende Mutter, die er nachgerade herzlich lieb hatte, ins Elend gestürzt hat.

Fischer war aber damit nicht zufrieden. Er fand in Neidlingen, daß die Stelle eines Schulmeisters im benachbarten Ochsenwang erledigt war, reiste selbst nach Stuttgart, um die Sache zu betreiben, erhielt seinen Verweis zum zweitenmal mündlich, aber doch auch die Erklärung, daß der Bewerbung seines Freundes um besagte Stelle kein prinzipielles Hindernis im Wege stehe. Das war eine halbe Zusage und erklärlich genug, wenn man wußte, daß niemand bei gesundem Menschenverstand Schullehrer von Ochsenwang sein wollte. Dann schrieb er an Berblinger einen verlegenen Brief: Für den Augenblick sei es wenigstens besser als nichts, ein Dach über seinem Kopf, Wasser und Brot und frisches Gemüse so viel Gott wachsen ließ auf seinem Tisch; das übrige müsse eben die Liebe machen, und lange könne es ja nicht dauern. Berblinger, den die Not des Lebens wunderbar mürbe gemacht hatte, griff mit beiden Händen zu, denn er sah voraus, daß er zu Ochsenwang ruhig über sein Perpetuum mobile werde nachdenken können, und war vier Wochen später wohlbestallter Dorfschulmeister auf der Rauhen Alb.

Nur in einem Punkt hatte sich sein Freund verrechnet: Es dauerte länger, als die schwärzesten Befürchtungen voraussehen ließen. Der pflichttreue Oberamtmann zu Kirchheim u. T., in dessen Gebiet Ochsenwang liegt, entdeckte nach wenigen Monaten, daß der neue Schulmeister den Behörden des Herzogtums nicht unbekannt war. War es nicht derselbe Berblinger, der sich vor wenigen Jahren seinen kurz zuvor eingegangenen Verpflichtungen in Göppingen durch die Flucht entzogen, sein dortiges Amt als Hilfslehrer an der Lateinschule im Stich gelassen und dadurch den herzoglich württembergischen Schulbehörden namhafte Kosten verursacht hatte? Das Durchbrennen schien eine Spezialität dieses unruhigen Kopfes zu sein. Die Entdeckung hätte die mißlichsten Folgen haben können, wenn nicht der Pfarrer durch einen schleunigst unternommenen Besuch des an sich gutherzigen Amtmannes und durch eine bewegliche Darstellung der Verhältnisse, die er dessen Frau gab, weiteres Vorgehen in der Sache hintertrieben hätte. Dagegen schien eine Beförderung des armen Mathematikus in herzoglichen Diensten nunmehr ausgeschlossen. Leise Winke Fischers an zuständiger Stelle wurden mit der Mahnung beantwortet, Berblinger möge Gott danken, wenn man ihn in seinem Albdörfchen ungeschoren lasse. Er sei noch immer ein schöner, großer Mann und könne jederzeit daran erinnert werden, was er seinem Landesherrn schuldig sei, der in Bälde wieder dreitausend Mann an die Holländer zu liefern habe, so schmerzlich dies seinem neuerdings reumütigen landesväterlichen Herzen ankomme. Es blieb dem wackeren Seelsorger nichts übrig, als den Freund gelegentlich an seinen quasi Leidensgenossen, den Poeten Schubart, zu erinnern, der noch immer wohlverwahrt und fast vergessen auf dem Asperg saß, und ihm zum Trost dessen rührendes Lied: ›Auf, auf ihr Brüder, und seid stark‹ vorzudeklamieren. Ochsenwang war immerhin erträglicher als der Asperg oder ›das heiße Afrika‹.

Dabei blieb's. Es waren harte Zeiten im reichsstädtischen Ulm, wo die Schwarzmann vergessen zu haben schienen, daß sie einmal ein liebliches Töchterlein besessen hatten, wie im Herzogtum Württemberg, wo man nichts vergaß. Doch teilte Berblinger die glückliche Fähigkeit der meisten nach innen gekehrten Menschen, sich an das Unangenehmste zu gewöhnen, und nachdem einmal der Rausch der Romantik verflogen war, zeigte sich, daß seine Rosel eine praktische Hausfrau von echtem Ulmer Schrot und Korn war, wie er sie mehr als ein anderer brauchen konnte. Auch fand sich nur zu bald, daß in Ochsenwang so gut als anderwärts stillstehende Modelle von Perpetuis mobilibus gebaut werden konnten. Damit war Berblinger nun seit vierzehn Jahren wieder in voller, ungestörter Tätigkeit. Seine Schule blühte dabei nicht allzu üppig; um so besser blühte die Jugend des Dörfchens, die von dem gutherzigen, geistesabwesenden Mann nicht überbürdet wurde. Eine Schulvisitation hatte sich noch nie von Neidlingen heraufgewagt, da sie der dortige Pfarrer wahrheitsgetreu versicherte, daß der Weg einfach halsbrecherisch sei. Nur Frau Berblinger klagte dem Pfarrer manchmal flüsternd, daß das verwünschte Pepetulum – die phonetisch verbesserte Bezeichnung war die Erfindung Brechtles – die Liebe ihres Mannes von ihr abziehe und sie manchmal schmerzlich an die schönen Zeiten in Asch zurückdenke, wo sie sich alles in allem gewesen seien. Fischer suchte auch sie zu trösten: Seine Frau sage genau dasselbe bezüglich der ersten Kirschblütenzeit, die sie in Neidlingen erlebt hätten, und er habe nie ein Perpetuum mobile gebaut.

Auch in anderer Richtung blieb der wackeren Schulmeisterin das Leid des Menschenloses nicht erspart. Zwei hübsche kleine Mädchen, mit denen sie beabsichtigt hatte, in einigen Jahren das steinharte Herz des Großvaters in Ulm zu rühren, erkrankten plötzlich an Halsbräune. Ein Arzt war seit Menschengedenken in Ochsenwang nicht gesehen worden; die Eingeborenen hielten es für selbstverständlich, ohne ärztlichen Beistand zur Welt zu kommen und aus dem Leben zu scheiden. Aber auch der Schäfer im benachbarten Gutenberg, den man trotz des Einspruchs des gefühllosen Vaters hatte holen lassen, wußte nicht zu helfen, und die armen Kleinen starben fast gleichzeitig und wurden an einem Tag in ein und dasselbe kleine Grab gebettet. Nur der dreijährige Brechtle blieb übrig, beneidete seine Schwesterchen wegen der zu erwartenden Flügel und versprach, der Trost seiner tiefgebeugten Mutter zu werden. Seitdem er aber die ersten Höschen trug und sich als Mann fühlte, verließ er die mütterliche Schürze, trippelte mit seinen noch krummen Beinchen – sie wuchsen sich erst später gerade – in den Holzstall zum Vater hinüber, um Schiffe und Wasserrädchen zu bauen, und die gute Frau sah mit Schmerzen, daß sie sich auch in ihm verrechnet hatte. Es war nichts mit den Männern, groß und klein! Wäre der Pfarrer von Neidlingen nicht gewesen, sie hätte dem ganzen Geschlecht den Laufpaß gegeben.

Das Verhältnis wurde schlimmer mit den Jahren. Mann und Frau gingen scheinbar gleichgültig nebeneinander her. Manchmal, wenn sie allein war, brach sie in bittere Klagen aus. Was hatte sie nicht alles für ihn geopfert! Was war er ihr jetzt? Und drüben in seinem Schuppen saß er, den müden Kopf in den Händen und seufzte. ›Es‹ – das jüngste Perpetuum mobile, das so vielversprechend begonnen hatte – ging nämlich wieder nicht länger als zwei Tage! Auch ihm hätte ein freundliches Wort, eine teilnehmende Berührung wohlgetan. Sein ganzes, allzu weiches Herz sehnte sich nach diesem Laut, nach dieser Hand, denn unter seinen Stangen und Rädchen, hinter seinem Sinnen und Hoffen lebte eine gute Seele, die keine Worte fand und sich nicht zu helfen wußte. Sie verstanden sich nicht mehr.

»Wie kann man sich verstehen ohne Worte?« fragte sie bitter.

Und doch liebte sie ihren Mann in aller Stille und von Herzen, ja, bis in den Tod – wie wir sehen werden.

Brechtle aber merkte von all dem nichts, baute seine Schiffchen und Rädchen eine glückliche Kindheit lang und sah den Lerchen nach, wie sie über den steinigen, frischgeackerten Feldern der Rauhen Alb jubelnd im Blau des Himmels verschwanden. Wie gut, daß Kinder dies noch sehen – noch und immer wieder.


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