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10. Bubenstreiche

Das größte geschichtliche Ereignis des dritten und vieler kommenden Semester blieb jahrelang in tiefstes Dunkel gehüllt, so tief es alle bewegte, die auch nur entfernt mit ihm in Berührung kamen. Fast möchte ich unter dem Einfluß des klassischen Geistes, der über dem Kloster schwebte, die Muse um ihren Beistand anrufen, wenn ich es wage, den Schleier zu lüften, den selbst die amtlichen Protokolle der Schule nicht zu heben vermochten. ›Meenin aeide thea‹, »Zorn, o Muse, besinge!« beginnt Homer sein unsterbliches Helden- und Kampflied; passender könnte auch dieses Kapitel nicht eingeleitet werden. Doch unsere Zeit glaubt nicht mehr an singende Göttinnen; so möge mir beistehen, wer da will, zum Beispiel das gute Gewissen, wenn ich schlicht und wahrheitsgetreu zu erzählen versuche, was seinerzeit zu ahnen nur den wenigsten vergönnt war.

Nicht bei allen Zöglingen der Klosterschule – die Bezeichnung ›Seminar‹ war noch nicht gebräuchlich – fand Maria Theresia die Liebe und Verehrung, die sie von Amts wegen beanspruchen konnte. Es sei sofort bemerkt, daß es sich nicht um die kürzlich verstorbene Kaiserin von Österreich handelte, sondern um die noch sehr lebendige Frau Prälat, die im Volksmund der Promotion Promotion nannte man die Gesamtheit der Zöglinge, die gleichzeitig die Klosterschule besuchten. diesen Namen führte; denn er war für Würde, Kraft und Temperament um jene Zeit fast sprichwörtlich geworden. Wie auch man auch sonst von ihr denken mochte, sie war eine stattliche Dame von gebietendem Äußeren, die ihren Gemahl, den Herrn Prälaten, um Kopfeslänge überragte, was er wohl zu würdigen wußte. Unter den Studenten hatte sie ihre Günstlinge, die sie mit Zittern anbeteten. Andre nährten andere Gefühle. Unter diesen waren die beiden unzertrennlichen Bösewichte Busch und Seeger vielleicht die schlimmsten. Daß Busch seinerzeit sechsmal, Seeger zweimal karieren mußte, weil sie, in der lieblichen Thusnelde Anblick versunken, die imponierende Erscheinung völlig übersehen hatten, war um so weniger vergessen, als in der Folge noch das eine oder andere Strafmandat, das dem Paar das Leben verbitterte, auf den verhängnisvollen Einfluß der ungekrönten Königin von Blaubeuren zurückgeführt werden konnte. Kein Wunder, daß sich die nicht übermäßig milde Denkungsart der beiden langsam in gärend Drachengift verwandelte und daß sie in ohnmächtiger Wut von einer Rache träumten, die außer aller Möglichkeit zu liegen schien.

In unerwarteter Weise bot ihnen jedoch ein ebenso boshaftes Schicksal die Hand. Wo hinter der Klostermauer die Blau aus dem wunderbaren Teich, der ihre Quelle bildet, als munteres Flüßchen dem offenen Tal zueilt, hatte sich unter der Leitung der Hausfrauen des Klosters eine Art Zweigerziehungsanstalt angesiedelt. Es handelte sich allerdings nur um Gänse, die übrigens mit nicht geringerer Liebe gehegt und gepflegt wurden als die Zöglinge innerhalb des Klosters und mit ähnlicher Regelmäßigkeit und weit weniger Zwang ihren Tagesaufgaben genügten. Zu gewissen Stunden schwammen sie geschäftig auf dem klaren Wasserspiegel hin und her und versenkten sich mit hochaufgerichteten Schwänzen und erstaunlicher Ausdauer in das Studium des Flußbettes, zu anderen Stunden ergingen sie sich in wohlanständigem Gänsemarsch in der benachbarten Wiese, ohne sich die geringsten jener unziemlichen Seitensprünge zuschulden kommen zu lassen, die bei den Klosterschülern noch immer nicht ganz unterdrückt werden konnten. Gegen Mittag standen sie alle auf einem Bein am Rand des Wassers, in ernste Selbstbetrachtung versunken. Schließlich fehlte es auch nicht an kurzen Interstitien, in denen sie sich in lebhaftem Gedankenaustausch Beobachtungen ihres Innenlebens oder Ereignisse des Tages mitteilten. Fast nie aber mußte man wahrnehmen, daß sie durch ungebührliches Betragen die Aufmerksamkeit oder gar den Unwillen Vorübergehender erregt hätten, noch weniger, daß sie, wie es bei Gänsen mangelhafterer Erziehung vorkommt, mit Geschrei über die Bleichwiese oder gar die öffentliche Straße entlang geflattert wären. Die Klostergänse hatten ein richtiges Gefühl für das, was sich schickt. Zwei-, dreimal allerdings war in jüngster Zeit etwas derart vorgekommen. Jedesmal aber glaubte man zu bemerken, daß einer der Studiosi – einige wollten Berblinger erkannt haben – hinter ihnen drein lief und sie mit ungebührlichem Rufen anspornte.

Dies war auch eines Nachmittags vorgekommen, als die Promotion, hinter dem Prälaten herwandelnd, einen Spaziergang um den Rucken antrat. Hierbei war der Berblinger zweifellos beteiligt; er hatte sogar mit einem Stein geworfen, um, wie er sagte, die Gänse zum Fliegen zu veranlassen, was ihm angeblich Spaß machte, aber auch eine ernste Rüge des Herrn Prälaten zuzog. Die geängstigten Tiere faßten sich jedoch wieder etliche hundert Schritte unterhalb ihres gewohnten Standorts und marschierten feierlich zurück, sobald sich die unverständigen jungen Leute entfernt hatten.

Auf der Rückkehr von diesem Spaziergang aber – es war schon Dämmerung – bemerkten Busch und Seeger, die gewöhnlich aus ihnen wohlbekannten Gründen den Schluß der Prozession zu bilden suchten, daß sich ein schneeweißes üppiges fettes Gänschen auf der Wiese verlaufen hatte und unbekümmert um die Folgen sein Abendbrot hinter einer Hecke suchte. Es hatte ein rotes Malteserkreuz auf dem linken Flügel: ein Zeichen, daß es zur Herde Maria Theresias gehörte. Da erfaßte ein teuflischer Gedanke den unglücklichen Seeger. Busch verstand ihn, ohne daß sie ein Wort zu wechseln brauchten, und ballte die Fäuste. Ein wilder, häßlicher Zug flog über sein sonst gutmütiges Gesicht; er wußte, es war die Lieblingsgans der Prälatin. Dann blieben sie stehen und ließen die anderen zwanzig Schritte vorausgehen, ehe sie hinter der Hecke verschwanden.

Was dort geschah, gehört zu den Geheimnissen jener Tage, die nie ganz aufgeklärt werden dürften. Busch, eine durchaus praktische Natur, hatte stets Bindfaden und andere nützlichen Gegenstände in der Tasche. Manchmal schleppte er Steine, Bündel von Blumen, ja ganze Sträucher nach Hause, denen er sodann wochenlang seine Aufmerksamkeit widmete. Er wollte später Mediziner werden. Einmal war es ihm sogar gelungen, einen jungen Hund einzuschmuggeln, wofür er fünf Stunden Karzer erhielt, während das Tier in unzeremoniöser Weise entlassen wurde. Als sie diesmal noch rechtzeitig mit den anderen durch die Klosterpforte traten, hatte seine Kutte eine so unförmliche Gestalt daß alle eine unglaubliche Verhöhnung des Prälaten vermuteten und rücksichtsvoll jede Bemerkung, ja selbst jeden Ausbruch von Heiterkeit unterdrückten. Auf dem Dorment angelangt, verschwanden Seeger und Busch auf kurze Zeit, erschienen aber pünktlich beim Präzieren Präzieren nennt man die regelmäßige gemeinsame Morgen- und Abendandacht. und zeigten während desselben einen so musterhaften Ernst, und Busch, der Lektor Lektor heißt der Zögling, der neben anderen Verpflichtungen beim Präzieren Gebete und Bibelstellen vorzulesen hat; ein wöchentlich wechselndes Amt. der Woche war, eine derartige Eindringlichkeit beim Verlesen des Kapitels, in dem der ungetreue Haushalter belobt wird, daß es Professor Bräunlin, dem Ordinarius, angenehm auffiel.

Auch ihre Mitschüler beobachteten sie mit wachsender Teilnahme. Beide, namentlich aber Busch, waren genötigt, nachts mehrmals ihr Bett zu verlassen, und entfernten sich auch am folgenden Morgen zweimal während des Ciceros und der Logik, was mit einem plötzlich auftretenden, hoffentlich vorübergehenden Unwohlsein zu entschuldigen war. Beim Mittagessen wurde bemerkt, daß Seeger einen Teil seiner übrigens ziemlich hart gekochten Erbsen in die Blätter eines zerrissenen Extemporalheftes wickelte und unter seiner Kutte verbarg, worauf sein Unwohlsein wieder eintrat. Professor Bräunlin riet ihm, nun doch den Oberfamulus Leuze, der zugleich Chirurg war, zu Rat zu ziehen. Dies lehnte er jedoch dankend ab. Besonders auffallend war, daß der unpäßliche Seeger nach Tisch bei seinen näheren Freunden förmlich um Brot bettelte. Am späteren Nachmittag war die Tatsache nicht mehr ganz geheimzuhalten, daß sich im oberen Stock, in der Kammer neben der Krankenstube, eine lebendige Gans befinde, die nur durch ständiges Füttern abgehalten werden konnte, laut zu schnattern. Willig gab nun jedermann, was er besaß, um die drohende Katastrophe so lang als möglich hinauszuschieben.

Mittlerweile verdichtete sich das Gewitter, das die Unglückseligen heraufbeschworen hatten, über dem ganzen Kloster in erschreckender Weise. Schon am Abend zuvor hatte die Magd der Prälatin fast weinend berichtet, daß das schönste Gänschen der Herde nirgends zu finden sei. Die sechs Gänse der Frau Professor Gaum und die acht der Frau Professor Bräunlin seien alle da, aber von den fünfzehn Prälatengänsen seien nur noch vierzehn vorhanden. Man habe aber recht wohl bemerkt und des Klosterschneiders sechs Buben könnten es bezeugen, wie die Studenten die Gänse auf der Bleichwiese herumgejagt hätten. Der kleine Berblinger, der Lausbub, habe sogar mit Steinen geworfen. Dabei könne das Lieschen wohl zu Tode geworfen worden sein. Das ›schöne Lieschen‹ war die einzige Gans, die sozusagen getauft worden war.

Noch am Abend teilte Maria Theresia dem Gemahl ihre Ansichten über den Charakter seiner Studenten mit und verlangte drastische Maßregeln. Er bat, wenigstens die Nacht vorübergehen und am Morgen die Wiese noch einmal gründlich absuchen zu lassen. Dies geschah mit dem Ergebnis, daß die Frau Prälatin erklärte, wenn etwas zu durchsuchen sei, so sei es nicht die Bleichwiese, sondern das Dorment. Sie setzte ihren Kopf gegen einen Gänseschnabel: dort müsse das Tier tot oder lebendig gefunden werden. Sie kenne die Schlingel, namentlich den Berblinger und den Busch.

Am Schluß des Nachmittagkollegs, nach Erledigung der üblichen vierundzwanzig Verse in Virgils Aeneide, sprach der Prälat mit sichtlicher Erregung: er müsse auf einen unerklärlichen und höchst peinlichen Vorfall eingehen. Es sei gestern, kurz nach dem Spaziergang der Promotion über die Bleichwiese, eine Gans seiner Frau oder Gattin abhanden gekommen und es sei die Vermutung oder besser der Verdacht nicht mehr zurückzuweisen, daß die Promotion in irgendwelchen Weise mit dem Verschwinden des besagten Tieres, das den Beinamen Lieschen führe, in Verbindung stehe. Er bitte und befehle jedem, der Licht über diese noch dunkle Angelegenheit verbreiten könne, sich zu erheben.

Noch nie saßen die sechsunddreißig Studiosi so mäuschenstill auf ihren Bänken.

Die Sache sei sehr ernst, wenn er auch das Wort Diebstahl noch vermeide, fuhr der Prälat fort. Er befehle ihnen jetzt im Namen des hohen Berufes, dem sie alle entgegengehen, und bei der Wahrhaftigkeit zu einer der ersten Pflichten gehöre, die Verstockung nicht zu weit zu treiben und aufzustehen, wenn sie etwas von der Gans wüßten.

Der Studiosus Stöckle war der einzige, der feuerrot wurde und sichtlich im Begriff war, sich zu erheben. Allein Busch der neben ihm saß, drückte ihn in einer Weise nieder, daß er blau wurde und den Versuch aufgab.

»Ich appelliere nun«, rief der Prälat feierlich, »an das Ehrgefühl der Promotion. Erheben Sie sich! Wer ist der Dieb?«

Die Aufforderung war so geschickt gestellt, daß jedermann, zwei ausgenommen, mit gutem Gewissen sitzen bleiben durfte, und diese beiden konnten in Zweifel sein, welcher von ihnen sich zu erheben habe. Sie sahen deshalb mit schuldloser Miene zum Fenster hinaus, als ob sie nicht das geringste mit der Sache zu tun hätten.

»Gut!« sprach der Prälat, »ich bin nun halb und halb überzeugt, daß die Promotion an dem traurigen Vorfall unbeteiligt ist. Zu eurer eigenen Beruhigung werde ich jedoch nach der Chorandacht eine gründliche Unter- und Durchsuchung des Klosters vornehmen lassen oder vielmehr selbst vornehmen. Jeder von euch wird, seinen Kastenschlüssel in der Hand, vor seinem Pult stehend, diese Untersuchung erwarten, und wehe dem, wehe dem, bei dem auch nur die geringste Spur von einer Gans entdeckt werden sollte! Es wäre ihm besser, daß ein Mühlstein – Sie können jetzt gehen!«

Die Erregung war nun allgemein. Dort laut und entrüstet plaudernd, hier ängstlich flüsternd, verließen die Zöglinge den Hörsaal. Hinter des Magisters Zeller Holzbeige, im dunkelsten Winkel des Dorments, fanden sich ohne jede Verabredung fünf Minuten später ein halbes Dutzend zusammen, die einzigen, die schweigend und angelegentlich in ihrem Virgil blätternd aus dem Kolleg getreten waren.

»Was nun?« fragte Seeger, zum erstenmal, seitdem er im Kloster war, eine gewisse Ratlosigkeit in Miene und Gebärde zeigend.

»Was machen wir jetzt?« echote sein Freund Busch in verbissenem Trotz.

»Es war auch eine Dummheit sondergleichen!« bemerkte Fischer entrüstet. »Ihr konntet doch denken, daß man eine lebendige Gans nicht zeitlebens im Kloster verstecken kann.«

»Und dazu Maria Theresias Lieblings-Lieschen!« stöhnte Stöckle.

»Bist du auch da?« fuhr Seeger zornig auf. »Wer hat dir etwas davon gesagt? Du mit deinem Gewissen, dem man nicht über den Weg trauen kann.«

»Er wäre beim Exortium des Prälaten wahrhaftig aufgestanden, das alte Weib«, grollte Busch, »wenn ich ihn nicht an der Kutte gehalten hätte.«

»Ich wollte, ich wäre aufgestanden, trotz deiner Fäuste«, seufzte Stöckle. »Ich habe noch nie solche Gewissensqualen durchgemacht, und sie lassen noch immer nicht nach.«

»Das hat man davon, wenn man sich zu viel mit der inneren Stimme abgibt, von der uns Bräunlin zu erzählen weiß, wenn er Leibweh hat«, sagte Seeger verächtlich. »Mir sagt meine innere Stimme, daß es deine Pflicht ist, das Maul zu halten.‹,

»Aber was soll ich denn machen?« fragte Stöckle, der Verzweiflung nahe. »Ich habe sie schnattern gehört.«

»Schnattern kann auch ein Mensch«, grollte Seeger. »Da gibt es kein ›aber‹ mehr. Die Frage ist: Was sollen wir machen? Du, Berblinger, alter Duckmäuser, du bist nicht so dumm, als du aussiehst, und der Verdacht ruht auf dir. Der Prälat sah niemand an als dich, während er vom siebenten Gebot sprach.«

»Eigentlich wollten wir das Federvieh nicht stehlen«, erklärte Busch, den die Not schließlich auch weicher stimmte. »Es sollte ja nur ein Witz sein.«

»Ein Witz, der euch den Kopf kosten kann«, sagte Pfitzenmeyer sehr ernst. »Man hat erst vor drei Jahren einen in Ulm gehenkt, der ein Schaf gestohlen hat. Glaubt nur nicht, daß Maria Theresia locker läßt, ehe man ihr Lieschen findet und die Missetäter dazu.«

»Willst du einen Justizmord auf dein Gewissen nehmen, Stöckle?« fragte Seeger, »wenn dich der Prälat wieder fragt?«

»Aber mein Vater ist ein rechtschaffener Landpfarrer, und –«

»Und der meine ist Konsistorialrat, also halt's Maul!« sagte Seeger sehr bestimmt. »Übrigens gäbe ich vier Wochen lang meinen und Buschs Tischwein dran, wenn wir die gefiederte Bestie los wären. Horch! Ich glaube, ich höre sie schon wieder rumoren.«

Wäre es in dem Winkel nicht stockfinster gewesen, so hätte man fünf der Jungen erbleichen sehen. Stöckle, der hierfür zu rot war, fing an zu zittern.

»Wir haben noch fünf Minuten bis zur Chorandacht. Etwas muß geschehen. Fällt keinem was ein?« drängte Busch.

Tiefes Schweigen. Nur die Gans schnatterte hörbar in behaglichem Selbstgespräch aus dem kleinen Fenster der Kammer neben dem Krankenzimmer heraus. Es befand sich unmittelbar über dem Winkel des Dorments, in dem dieser Kriegsrat stattfand.

»Komm, es brauchen es nicht alle zu hören«, sagte plötzlich Berblinger zu Busch und zog ihn auf die andre Seite der Holzbeige. Man hörte ein kurzes eindringliches Geflüster und dann Buschs lautes Lachen. Die andere faßten wieder Mut. Dann trat Berblinger zu ihnen.

»Seeger, du bist Zensor In jedem der Arbeitszimmer (Museen) der Zöglinge war einer derselben mit dem wöchentlich wechselnden Amt des Zensors‹ betraut, der für die Hausordnung in seinem Gebiet verantwortlich war. auf eurer Stube«, sagte er, »und der Professor Bräunlin ist Ordinarius. Ihr habt Glück.«

»Siehst du, Stöckle, der Herr verläßt die Seinen nicht«, bemerkte Seeger, ohne zu wissen, was Berblinger im Schilde führte.

»Ich sehe nichts«, antwortete der kleine Dicke, »als daß ich fürchterlich Angst habe.«

»Du gehst, ohne einen Augenblick zu verlieren, zu Bräunlin«, fuhr Berblinger fort, »und zeigst ihm an, daß Buschs Unwohlsein sich verschlimmert habe. Er lasse bitten, sofort zu Bett gehen zu dürfen. Gaum würde es nicht erlaubt haben, ehe ihn der Oberfamulus untersucht hätte, aber Bräunlin tut's. Er weiß, was Bauchweh ist. Und Busch geht zu Bett.«

»Aber die Gans? Wo bleibt die Gans?« stöhnte Stöckle.

»Dafür laß den Busch sorgen und halt's Maul!« sagte Seeger grob, obgleich sein ganzes Gesicht zu strahlen begann. »Bei Zeus, da läutet's schon zur Chorandacht. Fort mit euch; ich bin Zensor! Den Professor treff' ich noch an seiner Studierstubentüre.«

Nie hatten sie die Kollekte so laut und andächtig gesungen als diesmal, obgleich Busch, der sich mit seiner halbgebrochenen Stimme in dieser Beziehung auszuzeichnen pflegte, nicht anwesend war. Unmittelbar nach der üblichen Nachmittagsandacht begann die ad hoc gebildete Kommission die peinliche Arbeit der Durchsuchung des Klosters. Sie bestand aus dem Prälaten in eigener Person, dem Professor ordinarius und den beiden Famuli. Im Hintergrund, die Vorgänge zunächst nur scharf beobachtend, bewegte sich ein zweites, allerdings nur halboffizielles Komitee unter Führung der Frau Prälatin. Ihr zur Seite standen Professor Gaum, die Frau des Oberfamulus und zwei Klostermägde. Eine Stecknadel, welche die erste Kommission übersehen hätte, wäre der zweiten nicht entgangen.

Die längst außer Gebrauch gesetzte und wohlverschlossene Klosterkirche kam nicht in Betracht. Man begann mit dem Erdgeschoß des Klosterbaus, sah sich im verwahrlosten Klostergärtchen um, durchschritt den Kreuzgang mit besonderer Berücksichtigung der zierlichen Brunnenkapelle, ohne eine Feder des vermißten Tieres zu entdecken. Auch in den an den Kreuzgang anstoßenden Gelassen, der wunderlich verzierten Marterkammer, der Franzosenküche, dem alten Refektorium und dem jetzigen Speisesaal waren wohl Spuren von Katzen, Mäusen und Vögeln aller Art, nichts aber von einer Gans zu finden.

»Dummes Zeugs! Hier habe ich auch nichts erwartet«, erklärte die Frau Prälat und begab sich mit der ganzen Gesellschaft in den ersten Stock. Ihr Gemahl schloß selbst das Dorment auf und bemerkte unter der Tür, daß es für Damen eigentlich nicht Sitte sei, diese Räume zu besuchen, während die zuständigen Behörden in amtlicher Tätigkeit seien. Sie entgegnete etwas scharf, daß es auch nicht Sitte sei, Gänse auf dem Dorment zu verstecken, und trat ohne weitere Erörterungen ein.

Der Anweisung gemäß stand in den Museen jeder Student vor seinem Pult, mit seinem Kleiderkastenschlüssel in der Hand. Seeger, wie immer sehr zuvorkommend, präsentierte auch den des erkrankten Busch; von allen übrigen waren die ganz unschuldigen verlegen, andre lachten heimlich. Das Innere der Schreibpulte, der Kästen, der Waschkistchen – nichts blieb ununtersucht. Dabei musterte die Frau Prälat die Gesichter der jungen Leute mit durchdringendem Blick, so daß auch bei den Frechsten die unpassende Heiterkeit verschwand, mit der sie ihre Studierlampe und sonstigen Hausrat vorgezeigt hatten. Auch der Hörsaal wurde besucht, obgleich sich der Prälat dafür verbürgte, daß in diesem der reinen Wissenschaft geheiligten Raum nichts Profanes zu finden sei. Von dort ging es in die Schlafsäle, wo die Frau Prälat die Führung beider Kommissionen übernahm. Alle Kissen und Decken mußten auf den Boden geworfen, jeder Strohsack umgedreht werden. Nichts!

»Ich denke, jetzt sind wir fertig«, sagte der Prälat, der sehr ermüdet schien. »Ich vermutete ja schon längst, daß die Beteiligung der Promotion an dem vorliegenden Verbrechen nahezu ausgeschlossen ist. Ich sehe jetzt unzählige Möglichkeiten, es in andrer Weise zu erklären, zum Beispiel –«

»Fertig?« unterbrach ihn die Frau Prälatin entrüstet. »Habt ihr keine Dachkammern, die vom Dorment aus zugänglich sind? Wo geht's zu eurer Krankenstube hinauf?«

Es half nichts: die Kommissionen mußten eine weitere sehr unbequeme Treppe ersteigen. In respektvoller Entfernung und auf den Zehen schleichend folgten ihnen fünf der Alumni, die schon bei der Untersuchung der Museen eifrig mitgewirkt und auf diesen oder jenen vergessenen Winkel aufmerksam gemacht hatten, wofür namentlich Seeger den ersten wohlwollenden Blick der Frau Prälat erhascht hatte, und Stöckle, der sich nicht minder hervortun wollte, mit einem spaßhaften, aber nicht ganz freundlichen Klaps aus dem Wege gefegt worden war.

An der Türe der Krankenstube machte der Prälat den letzten Versuch, seine Frau aufzuhalten.

»Ist sie leer?« fragte sie, mit der Hand auf der Türklinke.

»Ach nein«, erwiderte Professor Bräunlin. »Der Alumnus Busch ist heute nachmittag schwer erkrankt und hat sich vor der Chorandacht zu Bett begeben müssen. Ich weiß noch nicht, ob die Sache gefährlich oder gar ansteckend ist. Nach meinen Notizen hat er die Pocken noch nicht gehabt.«

»Wir könnten ja zunächst die Nebenkammer untersuchen«, griff jetzt auch Professor Gaum ein. »Mittlerweile dürfte der Herr Kollege Bräunlin sich vergewissern, ob wir das Zimmer ohne Bedenken betreten können.«

Soweit gab die Frau Prälat nach. Der Unterfamulus schloß die Bodenkammer auf, in der massenhaftes altes Gerümpel, vor allem wahre Berge vergilbten Papiers unter dicken Schichten von Staub und Moder aufgehäuft lagen.

Die Prälatin befahl, die Berge zu versetzen, um die Winkel hinter denselben untersuchen zu können. Mit verdrießlicher Miene machten sich die Famuli an die Arbeit.

»Aber bewegt die Sachen mit Vorsicht«, bat der Prälat ängstlich. »Es ist teilweise sehr wertvolles Material. Ei, ei! Hier finde ich ja mehrere hundert Exemplare meines ersten Programms über Synonyma vom Jahr 1776, die ich schon seit zweiundzwanzig Jahren vermisse. Ich bin nun doch im höchsten Grade befriedigt, daß meine Frau – daß wir die Nachforschungen bis hierher ausgedehnt haben.«

Sonst wurde allerdings nichts gefunden. Dagegen stand die Seitentüre, die in das Krankenzimmer führte, halb offen, so daß die Frau Prälat jetzt ohne weitere Hindernisse dort eintreten konnte. Vier Betten befanden sich in dem etwas dunklen Raum. Drei derselben waren unberührt und mußten sofort von den Klostermägden in ähnlicher Weise geprüft werden wie die in den Schlafsälen. Vor dem vierten stand Professor Bräunlin und bat dringend, den Kranken nicht zu inkommodieren, der sichtlich sehr unwohl sei. Er sei soeben Zeuge eines heftigen Fieberanfalls gewesen, der den armen Jungen förmlich geschüttelt habe. Er scheine sich auch jetzt noch, von heftigen Schmerzen gepeinigt, förmlich unter der Decke verkriechen zu wollen. Man sah in der Tat von Busch nichts als seine roten Haare. Er hatte sich vielleicht in einer Anwandlung von knabenhaftem Schamgefühl gegen die Wand gedreht, konnte aber offenbar nicht verhindern, daß ihn die Schmerzen konvulsivische Bewegungen unter der Decke zu machen zwangen. Professor Bräunlin suchte seinen Kopf sanft nach vorn zu wenden und machte darauf aufmerksam, daß ihm die Schweißtropfen auf der Stirne standen. Ein neuer Paroxysmus schien im Anzug. Die Frau Prälatin, deren guter, mütterlicher Instinkt erwacht war, versuchte nun auch ihrerseits die Hand auf die fiebernde Stirne des Kranken zu legen, als die Aufmerksamkeit aller durch einen lauten Streit im Nebenzimmer abgelenkt wurde. Der Ober- und der Unterfamulus waren dort während des Umbeigens ihres ›wertvollen Materials‹ heftig aneinander geraten, was allerdings nicht selten der Fall war. Es hatten sich Spuren eines größeren Vogels gefunden. Der Oberfamulus behauptete erregt, daß sie nur von einer Gans herrühren konnten, der Unterfamulus bestand darauf, daß sie einem Turmfalken, höchstens einer Eule angehört haben müssen, die leicht durch die zerbrochenen Dachfensterscheiben eingedrungen sein konnten. Man betrachtete die fraglichen Spuren mit der größten Spannung. Der Oberfamulus hatte sie mit einer Schindel aufgeschaufelt und ließ sie ›herumgehen‹.

»Ich bitte Sie, Herr Prälat«, sagte er gekränkt. »Betrachten Sie sie genau. Ist das von einer Eule oder nicht vielmehr von einem grasfressenden Vogel?«

Der Prälat setzte seine Brille auf.

»Mit der Natur oder vielmehr dem Verhalten der Eulen«, begann er bedächtig, »bin ich allerdings nicht so vertraut, um ein maßgebendes Urteil abgeben zu können. Nach dem ersten Eindruck würde ich allerdings vermuten, daß der Gegenstand einer Gans zuzuschreiben wäre, wenn eine solche in der Nähe nachgewiesen werden könnte, was aber bis jetzt eben doch noch nicht der Fall zu sein scheint.«

»Potztürkenelement«, rief die Prälatin. »Es ist Gänsemist. Sucht, sucht! In der Kammer ist es nicht richtig.«

Alle begannen aufs neue in allen Winkeln und Ecken der Dachkammer herumzustöbern, während der Kranke im Nebenzimmer abermals von heftigen Krämpfen befallen wurde. Doch war es die letzte dieser beunruhigenden Erscheinungen, die Bräunlin flüsternd für möglicherweise epileptisch erklärte. Als man, ohne etwas gefunden zu haben, zu dem Kranken zurückkehrte, lag er mit geschlossenen Augen da, fast wie tot. Noch aber standen ihm die Schweißtropfen wie Perlen auf der Stirne.

»Es ist doch von einer Eule«, brummte der eigensinnige Möhrle und zog dadurch die Aufmerksamkeit der Prälatin wieder von dem Krankenbett ab.

»Haben Sie ein Papier in der Tasche?« fragte sie den Professor Bräunlin.

Dieser suchte eifrig, aber auch hierbei erfolglos. Ärgerlich wandte sie sich wieder an den Unterfamulus.

»Nehm Er eins von den Programmen und trage Er das Zeug hinunter. Drunten im Hof kann man's vergleichen. Ich bestehe darauf, daß der Sache auf den Grund gegangen wird. Sonst habt ihr keine Kammern hier oben?«

»Nein«, sagte Möhrle, zornig ein Programm zerreißend, »nur im andern Flügel die Bühnen und die Magdkammern der Frau Prälatin und der Frau Professor Gaum.«

»Dort ist nichts zu finden«, entschied die Gnädige. »In die alte Klosterkirche können die Jungen nicht hinüberkommen?«

»Nein«, fiel ihr Gemahl ein. »Es ist ihnen streng verboten.«

»Das glaube ich dir!« versetzte die Frau Prälatin spöttisch. »Aber können sie hinüberkommen?«

»Es wäre nur durch das Türchen möglich, das auf die alte Kanzel führt«, sagte der Oberfamulus. »Das ist aber gut verriegelt und seit zehn Jahren nicht geöffnet worden.«

»Schön! Hat Er es eingewickelt?« Das galt wieder dem Unterfamulus. »Dann können wir gehen. Es wird auch zu dunkel. Aber Licht muß in die Sache kommen, wenn ich das ganze Kloster abbrechen müßte!«

Die Kommissionen gingen im Gänsemarsch vorsichtig die krachende Treppe hinunter. Nur der gute Bräunlin trat noch einmal an Buschs Bett. Er fand dort bereits dessen Freund Seeger, der ihm liebevoll die Stirne abtrocknete.

»Das ist schön von Ihnen, Seeger«, sagte er fast gerührt. »Man muß sich in der Not beistehen. Samariterdienste werden nicht vergessen. Ich hoffe ernstlich, daß es nicht epileptisch ist. Sie können bis gegen neun Uhr oben bleiben und mir dann noch berichten, wie er sich befindet. Wird's schlimmer, so schicke ich noch heute nach dem Oberamtsarzt, aber ich hoffe das Beste. Sprechen Sie nicht zu viel mit ihm. Vor allem braucht er Ruhe. Alle Aufregung muß möglichst vermieden werden.«

Seeger nahm einen Stuhl, setzte sich mit der Miene des liebevollsten aller Krankenpfleger an das Bett seines Freundes, ergriff dessen Hand und behielt sie in der seinen, bis das letzte leise Krachen auf der Treppe verhallt war. Dann sprang er auf, während auch Busch sich aufrichtete.

»Sie ist tot«, sprach der letztere mit dumpfer Stimme.

»Bei Zeus!« rief Seeger, »jetzt wird es sogar mir zu bunt.«

»Tot gedrückt«, fuhr der andre fort. »Ich hatte sie fest zwischen den Beinen, so daß sie sich nicht rühren konnte. Als die Prälatin eintrat, fing sie an zu glucksen, ganz leis und zärtlich; wäre mir aber ihr Hals entschlüpft, so hätte ich das Geschnatter nicht erleben mögen.«

»Da wurde dir wohl angst und bang?«

»Das kannst du glauben. Sie standen alle ums Bett, als ob ich im Sterben läge. Maria Theresia sah mich mit ihren Feueraugen an, und nun wußte ich, daß ich oder die Gans das Leben lassen mußte. Da dachte ich: lieber die Gans und drückte und drückte. Sie bekam einen Flügel frei und ich epileptische Anfälle, bis ich sie wieder umklammert hatte. Schnattern konnte sie nicht mehr, dafür hatte ich sie zu gut beim Hals. Es war ein stummer Kampf auf Leben und Tod, und mit einemmal war sie ruhig. Ich hatte gewonnen.«

Er hob die Bettdecke auf und warf die Gans auf den Boden. Keine Frage: das arme Tier hatte ausgelitten.

»Großartig!« flüsterte eine dritte Stimme. Pfitzenmeyer war eingetreten, hinter ihm Fischer und Berblinger.

»Grandios; erinnert an Laokoon mit den Schlangen«, meinte Fischer in aufrichtiger Bewunderung.

»Oder an Leda mit dem Schwan«, sagte Pfitzenmeyer ernsthaft, die Gans hin und her drehend.

»Aber was jetzt?« fragte Busch. »Du hattest soweit die großen Gedanken, Berblinger. Jetzt hilf weiter. Wie verstecken wir den Kadaver, ohne daß er sich und uns nach ein paar Tagen verrät, auch ohne zu schnattern?«

»Verspeisen! Natürlich verspeisen!« jubelte Seeger.

»Mit den Federn? Das geht nicht«, meinte Busch, dessen Nerven durch das Erlebte sichtlich angegriffen waren.

»Nein, gekocht, gebraten«, versicherte sein Freund zuversichtlich; »mit allem Raffinement serviert à la Richelieu. Dafür laß mich sorgen und die göttliche Thusnelde. Ich sehe nicht umsonst an der Frau Speismeisterin hinauf, als ob sie schon meine halbe Schwiegermutter wäre.«

»Du! Das bitt' ich mir aus!« unterbrach ihn Busch plötzlich gereizt. »Ich war schon längst halb entschlossen. Wenn uns das himmlische Mädchen aus dieser Not hilft, verspreche ich ihr schlankweg die Ehe.«

»Heilige Götter!« schrie Pfitzenmeyer auf, als ob er ein Gespenst sähe. Unter der Türe stand starr und stumm der Unterfamulus Möhrle.

»Nur keine Angst!« sagte Seeger sehr ruhig. »Ich lasse dir Thusnelde, den Möhrle nehme ich auf mich.« Damit ging er auf den Famulus zu, packte ihn an den Schultern, drehte ihn um wie einen Bleisoldaten und marschierte mit ihm zur Türe hinaus.

Die Zurückgebliebenen, zu denen sich zu ihrem Ärger Stöckle gesellte, den die Neugier nicht ruhen ließ und der sie ermahnte, beim Präzieren den Dank für eine unerwartete Errettung aus schwerer Not nicht außer acht zu lassen, beschäftigten sich damit, unter dem ›wertvollen Material‹ in der Nebenkammer zwei große Bogen Papier herauszusuchen und die Gans in ein Paket zu schlagen, dem sie nach Möglichkeit die eckige Form einer Büchersendung zu geben suchten. Dann wurde Stöckle auf das Krankenbett geworfen und ihm unter schweren Drohungen das Versprechen abgenommen, mindestens vierzehn Tage lang nicht auf die Stimme seines Gewissens zu hören, worauf sich alle mit der gefährlichen Beute möglichst geräuschlos zurückzogen und jeder auf seinem Museum den gewohnten Privatstudien der Abendstunden mit ungewöhnlichem Eifer oblag.

Als gegen zehn Uhr Professor Bräunlin mit dem Oberamtsarzt den kranken Busch aufsuchen wollte, fanden sie das Nest leer, diesen aber bereits in seinem eignen Bett in tiefen, gesunden Schlaf versunken. Seeger, der noch wachte, ja merkwürdigerweise eben im Begriff war, wieder aufzustehen, berichtete, Busch habe sich nach kurzer Zeit so sehr gekräftigt gefühlt, daß sie beschlossen hätten, ihn in sein eignes Bett überzuführen. Nachdem der Oberamtsarzt dem Schlafenden den Puls gefühlt hatte, empfahl er, ihn in seiner wohltuenden Ruhe nicht mehr zu stören. Die Natur arbeite offenbar selbst einer Wiederherstellung der so plötzlich erschütterten Gesundheit entgegen. Ähnliches komme ja bei nervösen jungen Leuten nicht selten vor.

Damit schien der ereignisvolle Tag sein Ende erreicht zu haben; doch war es nicht unnatürlich, daß die ungewöhnliche Bewegung, die das ganze Kloster erfaßt hatte, selbst in der Nacht noch nachzitterte. Ein Glück aber war es, daß nur wenigen dieses Zittern zum Bewußtsein kam. Einige der leichteren Schläfer der kleinen Schlafstube, in der Busch, Seeger und Stöckle ruhten, glaubten von vorüberhuschenden Gespenstern geträumt zu haben. Gegenüber dem verwilderten Obstgarten, der sich um den Kirchenchor und das alte Kapitelhaus zieht, bellten zwei Hunde länger und eindringlicher als gewöhnlich, in den Fenstern des Hörsaals vermeinte der Oberfamulus gegen Mitternacht einen unerklärlichen Lichtschimmer bemerkt zu haben. Doch war dies alles vergessen, als der Morgen anbrach und der Zensor Seeger wenige Minuten nach fünf Uhr seine Mitschüler aus den Betten trommelte. Nur Busch zeigte sich hierbei renitent und versuchte sich seine gestrigen epileptischen Anfälle zunutze zu machen. Er mußte der Decke beraubt werden, ehe er sich zum Aufstehen entschloß. Dies geschah endlich unter vielem Gähnen.

»Da könnt ihr wieder sehen, ihr andern«, bemerkte Seeger, »welch vortreffliches, aber auch verwerfliches Ruhekissen ein gutes Gewissen ist.«

Es ist an dieser Stelle leider nicht zu umgehen, einiges Nähere über die Räumlichkeiten in dem alten Klosterbau zu sagen. An den schlichten gotischen Kreuzgang anschließend enthielt das Erdgeschoß nach Süden hin das alte Refektorium, das auch jetzt noch den Speisesaal der Klosterschüler bildete. In einem nach Osten auslaufenden Flügel befand sich die Wohnung des Speisemeisters und die Klosterküche. An das nördliche Ende des östlichen Teils des Kreuzgangs schloß sich das geräumige Kapitelhaus, in dem zur Zeit der Speisemeister seine Holzvorräte, wohl auch Küchenutensilien und andern Hausrat aufbewahrte. Es ist eine längliche Halle mit bis zur Unkenntlichkeit verdorbenen Fresken an den Wänden und einer gewölbten Decke, deren Gurten von vier Mittelsäulen aus nach den Wänden hin verlaufen. Ihre Fenster in dem hinteren chorartigen Teil gehen nach dem Garten, der auf dieser Seite Kirche und Kloster umgibt. Über dieser Halle befindet sich im oberen Stockwerk des nur einstöckigen Gebäudes der Hörsaal der Schule, der vom Dorment aus bei Tag und Nacht zugänglich war, außer der Zeit der Lektionen aber von niemand betreten wurde. Was hätte namentlich bei Nacht die Jugend dort zu suchen gehabt, die ihn auch in den hierfür bestimmten Tagesstunden nichts weniger als anziehend fand. Und doch zeigte sich auch in der folgenden Nacht an einem seiner Fenster gegen die Kirche hin ein gespenstischer Lichtschein, dem in dem darunterliegenden Fenster des Kapitelhauses eine ähnliche Helle zu entsprechen, man könnte sagen zu antworten schien. Beide warfen ihren Schein auf die gegenüberliegende alte Mauer der Klosterkirche, und dort zeigte sich in hellem Rahmen, allerdings rasch wieder verschwindend, zweimal der schwarze riesengroße Schatten – horribile dictu – einer weiblichen Gestalt. Dann hätte ein scharfes Auge im zitternden Mondlicht – glücklicherweise war es erst acht Tage nach Neumond – das Herabschweben eines kleinen weißen Gegenstandes beobachten können, der an einem Bindfaden hängen mußte, so sicher und geradlinig war sein Weg, bis er von einer Geisterhand durch das untere Fenster eingezogen wurde. Nach einiger Zeit schwebte ein ähnlicher weißer Fleck oder Lappen von unten nach oben. Nun aber zeigten sich am oberen Fenster zwei dunkle Köpfe, und man konnte erregte Flüsterworte hören, wie: Langsam – langsam – jetzt – Vorsicht! – und ein großes weißes Paket schwebte hernieder und verschwand wie die früheren kleinen in derselben wieder pechschwarzen Fensteröffnung des Kapitelhauses.

Während dieses Vorgangs hatten in einem Nachbarhaus jenseits der Klostermauer zwei Hunde wie wütend gebellt, jedoch niemand aus dem Schlaf gerüttelt. Dagegen trat jetzt aus dem Schatten des Kirchenchors eine kleine Gestalt hervor, winkte ganz freundlich nach dem Hörsaalfenster hinauf und schlich dann der Klostermauer entlang dem Häuschen zu, in dem sich Möhrles, des Unterfamulus, Amtswohnung befand. Bei der zweiten Durchsuchung des Klosters am folgenden Tag, die von der Frau Prälat und Professor Gaum mit Hilfe der beiden Famuli und einer Klostermagd während der Lektionen vorgenommen wurde, war das Interesse an der Sache selbst bereits etwas erlahmt. Es wandte sich mehr und mehr der ungewohnten Erscheinung eines häuslichen Zwists zwischen der Frau Prälat und ihrem Gemahl zu, der es ernstlich übel zu vermerken begann, daß sie mit solcher Hartnäckigkeit an dem Gedanken einer Schuld festhielt, welche die Promotion mit Gewalt auf sich geladen haben sollte. Natürlich war das Suchen abermals vergeblich, und der Eifer, mit dem nach den Lektionen die ganze Promotion aus eignem Antrieb eine dritte Haussuchung veranstaltete, der Triumph, mit dem der Prälat auf diesen Eifer aufmerksam machte, waren so ärgerlich, daß seine Gattin an heftigen Kopfschmerzen leidend früher als gewöhnlich zu Bett gehen mußte. Nach den Erschütterungen der letzten Tage schien endlich wieder eine besonders ruhige Nacht angebrochen zu sein.

»Das versteht sich per se«, hatte Seeger nach dem Nachtessen zu seinem Freund Busch gesagt, »der sicherste Ort bleibt das Kolleg. Dort sucht uns kein Mensch und dabei bleibt's. Präzis elf Uhr. Sag's den andern, den Stöckle ausgenommen. Sein Gewissen könnte sonst wieder aufwachen. Diesen Gewissen ist nie zu trauen.«

Der Nachmittag verlief in musterhafter Ordnung. Selbst Professor Gaum fand nichts zu tadeln. Unauffällig steckte Seeger dem Unterfamulus im Vorübergehen ein zusammengefaltetes Papier in die Hand. Es enthielt vierundzwanzig Kreuzer und eine Notiz, die sich auf Bier und Tabak bezog.

Nachts gegen elf Uhr schlichen sich aus den drei Schlafsälen fünf kleine tief verhüllte Gestalten nach dem Hörsaal, ohne einen Laut auszutauschen. Dort zogen sie ihre Kutten aus und verhängten, im Dunkeln tappend, ebenso lautlos die Fenster auf der Südseite des Saals. Dann wurde das Haus festlich beleuchtet: eine Lampe brannte auf dem Katheder, zwei Talglichter auf den ersten Schulbänken. Und nun begann der Seiltelegraph nach unten zu spielen. Mit einer fast unerhörten Frechheit stand Möhrle in den Brennesseln des Obstgartens vor dem halboffenen Fenster des Kapitelhauses. Zuerst wurde ein Krug hinaufgezogen, der aber nur halbvoll ankam.

»Der verruchte Möhrle«, schalt Seeger, als er dies entdeckte.

»Leben und leben lassen!« bemerkte der immer nachdenkliche Pfitzenmeyer.

Dann kam die Gans, unverhüllt, nur an einen Schlegel befestigt, goldbraun, wenn auch etwas mit Kalk von der Klostermauer bestreut, und einen köstlichen Duft verbreitend.

Nun parlamentierte Seeger laut flüsternd mit dem unten stehenden Möhrle, der nach einigem Drängen noch zwei Bierkrüge heraufschickte, denen ein kostbares Päckchen Tabak folgte. Dann wurde ihm empfohlen, sich nach Hause zu begeben, nachdem er Fräulein Thusnelde den tiefgefühlten Dank der Festgenossen ausgesprochen und sie versichert habe, daß ihr hier oben fünf Herzen zu Füßen lägen. Nachdem man sich sodann nochmals überzeugt hatte, daß die Kutten genügend Schutz in der Richtung der Wohnung des Professors Bräunlin gewährten, die allein in Betracht kam, begann man sich häuslich einzurichten.

Es war ein köstliches Mitternachtsmahl bei aller Einfachheit in unwesentlichen Äußerlichkeiten. Man speiste auf Papier und trank aus den Krügen. Der duftende Braten wurde mehr zerrissen als zerschnitten, aber der seltene Genuß erhöht durch die poesievolle Umgebung und das Gefühl, daß mit jedem Bissen die Beweise einer schweren Schuld, die alle insgeheim drückte, weniger wurden. So wenigstens erklärte man sich Buschs phänomenale Gefräßigkeit.

Sie tranken zunächst auf Thusneldens Wohl, die ihnen nicht ohne eigne Gefahr diesen Genuß bereitet hatte und die sie alle in nicht zu ferner Zukunft zu belohnen gelobten, wie noch keine deutsche Jungfrau belohnt worden war. Dann trug Fischer, der häufig Schillers ›Räuber‹ zitierte, ein Gedicht vor, in dem er darlegte, daß der Mann nur in der Gefahr sein wahres Glück erblicken dürfe, solange ihm die Götter nicht grenzenlose Freiheit gewährten. Pfitzenmeyer war im Begriff, der kapitolinischen Gänse zu gedenken, als ihm Berblinger, der anfänglich ziemlich still gewesen war, zuvorkam. Er führte in kurzer Rede aus: Wenn auch die Gans kein Adler sei und sich ihr Flug mit dem des Königs der gefiederten Welt nicht messen könne, so seien doch ihre Versuche, sich von der Erde zu erheben, dem Menschen ein Vorbild und berechtigten ihn, ein Hoch auf die Gans selbst in ihrem jetzigen, der Vergänglichkeit geweihten Zustand anzubringen. Sie lebe! – Hiergegen protestierte Busch, beschränkte sich aber im übrigen darauf, einen unverhältnismäßig großen Anteil des Mahls für sich zu beanspruchen, wozu er durch die für alle ausgestandene Todesangst berechtigt zu sein glaubte.

In diesem Augenblick ging langsam und feierlich die Türe auf und die ganze Gesellschaft verschwand wie durch Zauberschlag unter den Schulbänken. Aber es zeigte sich sofort, daß es nur Stöckle war, der im Nachthemd, Mund und Augen weit aufreißend, die einsam brennende Lampe und die zwei Talglichter betrachtete und dazu lüstern in der Luft schnupperte. Sobald Busch dies gewahr wurde, brach er aus seinem Versteck hervor, packte Stöckle am Kopf und stieß ihm einen Knochen in den Mund.

»Friß oder stirb!« rief er dabei mit dröhnender Stimme.

Stöckle machte keinen Versuch, Widerstand zu leisten. In der Tat hatte ihn der Geruch und eine dunkle, nicht unangenehme Ahnung herbeigelockt. Er pustete ein wenig und kaute.

»So!« sagte Busch befriedigt. »Er hat geschluckt. Jetzt bist du einer der Unsern mit Leib und Seele. Jetzt kann dich dein Gewissen beißen, soviel dir's behagt. Zeig uns an, wenn du den Mut hast.«

Der unglückliche Stöckle nahm Platz zwischen Fischer und Berblinger und aß für zwei, was ihm Busch vergeblich verwies. Das Bier ging auf die Neige. Vergebens telegraphierte Busch in den Garten hinunter nach weiterer Zufuhr; Möhrle war und blieb verschwunden, obgleich Seeger entrüstet versicherte, fünf Krüge bestellt zu haben. Ein kleiner Trost lag darin, daß er jetzt die silberbeschlagene Pfeife seines Papas, des Konsistorialrats, hervorzog und sie feierlich füllte. Nach Indianerart wanderte sie von Mund zu Mund und verfehlte nicht, die aufgeregten Geister einigermaßen zu beruhigen. Selbst Busch wurde nach wenigen Zügen sehr nachdenklich; Möhrle hatte für einen wirkungsvollen Knaster gesorgt.

Es war schön, unvergeßlich schön gewesen, doch es war zwecklos, die leeren Krüge und die weißen Knochen länger anzustarren. Pfitzenmeyer sammelte die letzteren, wobei ihm Stöckle beistand, packte sie in ein Papier und schleuderte dies mit kräftigem Schwung durchs Fenster über die Klostermauer. Das freudige Gebell der Hunde des dort ansässigen Klosterküfers bewies, daß von seiten der Gans keine Gefahr der Entdeckung mehr drohte. Jetzt wurden die Lichter gelöscht, die Kutten von den Fenstern entfernt. Man hörte noch leises Flüstern, das erschreckte Anstoßen eines Krugs, das vorsichtige Ächzen einer Türe. Dann schlug es Mitternacht im Städtchen draußen. Der Spuk war verschwunden.

Die erste Lektion am folgenden Morgen war dem hebräischen Alten Testament gewidmet. Man las unter der Leitung des Herrn Prälaten das Buch Hiob, so gut es ging. Der würdige Herr pflegte zuerst das Katheder zu besteigen und die vorangegangene Lektion kursorisch durchzunehmen und war eben im Begriff, dies auch heute zu tun, als er stillhielt. Sein Blick war auf einen kleinen weißen Gegenstand neben seinem Buch gefallen; seine Augen wurden starr. Ohne sie abzuwenden, holte er hastig seine Brille hervor und setzte sie auf. Plötzlich wurde er feuerrot und seine Stirne legte sich in senkrechte und horizontale Falten, so daß kleine Viereckchen entstanden, das sichere Zeichen eines nahenden furchtbaren Gewitters. Aber es kam nicht zum Ausbruch. Verhältnismäßig gefaßt nahm er den kleinen Gegenstand in die Hand und hielt ihn in die Höhe.

»Dies«, sprach er langsam mit bebender Stimme, »dies ist dem Aussehen nach der Knochen eines Vogels, scheinbar einer – einer Gans; der sogenannte Springer. Wer ihn hierhergelegt hat, möge sich erheben.«

Pause.

»Es scheint sich niemand zu erheben. Ich werde ihn meiner Frau zeigen.«

Dann steckte er ihn zitternd in die Tasche seiner langen Weste und begann: »Hiob antwortete und sprach: ›Wie lange plaget ihr doch meine Seele? Ihr habt mich nun zehnmal gehöhnet und schämet euch nicht, daß ihr mich also übertäubet!‹«

Und in sechs jungen Herzen regte sich doch etwas wie Reue. Keiner aber erhob sich, nur Stöckle schlich hinaus und weinte bitterlich.

Der Prälat aber bewahrte den fraglichen Knochen eine Woche lang in der Westentasche. Er zeigte ihn jedermann, und jedermann war der Ansicht, daß es der Springer einer Gans sei. Und alle schüttelten den Kopf, mehr traurig als belustigt. Nur seine Frau hatte ihm ins Gesicht gelacht, unehelich, boshaft, und hatte schneidend hinzugefügt:

»Hab' ich dir's nicht gesagt? Oh, ihr Männer!«


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