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Pustkuchens »Choralbuch«

und »Anleitung, wie Singe-Chöre auf dem Lande zu bilden sind« (Detmold 1810).

Alles das, was Hr. P. in der Vorrede zu seinem Choralbuche von der Verunstaltung der Choralmelodien in den Kirchen, sowie von dem unerträglichen Schreien, Heulen, ja Brüllen vieler Gemeinden sagt, ist gewiß nur zu wahr, und sein Unternehmen, den Gesang in den Kirchen zu reinigen und zu verbessern, sehr löblich, und aller nur möglichen Beförderung wert. Es liegt ferner ganz in der Sache selbst, daß diese Reinigung, diese Verbesserung des Kirchengesanges, von dem Unterricht, der in den Land- und Stadtschulen im Gesange erteilt wird, ausgehen muß; inwiefern aber, selbst den kaum denkbaren Fall angenommen, daß jener Unterricht überall gleichmäßig erteilt werden sollte, der bessere Kirchengesang, dessen Herzerhebendes und Andachterweckendes in der reinsten Intonation und in dem einfachen, edlen Vortrage liegt, nicht immer ein pium desiderium bleiben wird – das läßt Rez. dahin gestellt sein. Es scheint nämlich dem Rez. schon in der Einrichtung und in dem Geiste des evangelischen und reformierten Gottesdienstes beinahe die Unmöglichkeit zu liegen, daß der Kirchengesang nicht jedem, für Musik empfindlichen Ohre anstößig sein sollte. Die ganze Gemeinde nimmt an dem Absingen der Lieder teil, und dies Mitsingen ist eben ausdrücklich eine Andachtsübung, deren Unterlassen man für sündlich achten würde. Dieses aszetische Prinzip bringt denn eben auch das gewaltige Schreien hervor, worüber Hr. P. mit Recht klagt, da bei nicht Wenigen die Stärke jener Andachtsübung auch den höhern Grad der Frömmigkeit bezeichnen soll, weshalb ein Nachbar den andern zu übertoben strebt. Schon dieses Schreien führt die unreine Intonation, trotz dem Gegenkampf der Orgel und des Kantors, herbei, wenn sich auch nicht jedesmal eine beträchtliche Anzahl Menschen vorfände, die, hörlos, nicht Einen richtigen Ton herausbringen, geschweige denn eine Choralmelodie fassen können, dessenungeachtet aber nicht weniger fromm als die übrigen sich zeigen wollen und mit ihren falschen Tönen obligat werden. – Das Piano, in welchem sich der Herrnhutismus ausspricht, ist auf den musikalischen Teil der Andachtsübungen von wohltätigem Einfluß, und Rez. erinnert sich noch lebhaft der innigen, wahrhaft religiösen Stimmung, in die ihn eine Abendandacht versetzte, der er vor mehreren Jahren in der Kirche zu Herrnhut beiwohnte. Die untergehende Sonne warf ihre goldnen Strahlen durch die himmelblauen Vorhänge der Fenster und schien die Flötentöne zu wecken, die aus der Orgel strömten. Der Organist präludierte kurz, einfach und edel, und nun fiel mit einem sotto voce die Gemeinde ein. Niemand wollte hervorstechen, niemand die stille Ergebung, mit der er dem höchsten Wesen näher trat, verleugnen, und so blieb der Gesang nicht allein rein, sondern es traten auch die dreistimmigen Akkorde des Chorals (Sopran, Tenor, Baß,) hinlänglich hervor. Vorzüglich in dem Sopran ließen sich ganz vortreffliche Stimmen hören, und Rez. begriff alles dieses sehr wohl, da in den Herrnhuter Knaben- und Mädchenhäusern der Gesang nach alter Form gelehrt, und also das erfüllt wird, was Hr. P. zur Verbesserung des Kirchengesanges ausgeführt wünscht. Daß hier aber jener Unterricht den Zweck erreicht, liegt in dem Geiste des Herrnhutischen Gottesdienstes, der alles Grelle, alles einzeln Hervorstechende vermeidet. Gewiß würde der Sänger, der nur irgend, und noch dazu mit einem falschen Tone hervortreten wollte, von den Ältesten zum Stillschweigen verwiesen werden. In den katholischen Kirchen werden auch zuweilen Litaneien und Choräle von der Gemeinde abgesungen, jedoch ist dies eigentlich nicht der wichtigere Teil der katholischen Andachtsübung, deren Höchstes sich in dem feierlichen Hochamt konzentriert. Hier findet die Kirchenmusik ihre höchste Tendenz und wirkt mit Allgewalt auf das Gemüt jedes empfindenden Menschen, indem sie ihn mit Ehrfurcht und Andacht erfüllt, so daß seine Gedanken Gebet werden. Daß Rez. hier von den wahrhaft kirchenmäßig gesetzten Messen, welche man denn doch überall noch hört, und nicht von den Verirrungen mancher obskuren Komponisten spricht, versteht sich von selbst, und als Prototypus dieser Musik möchte er die Werke der alten Italiäner, welche choralmäßig a cappella setzten, (Leo, Durante, Perti), nennen. Nur diese Art, durch die Musik in der Kirche auf das Gemüt des Menschen zu wirken und in ihm religiöse Gefühle zu erwecken, würde Rez. für die richtige halten, und so sehr er überzeugt ist, daß ein geistliches Lied, in der Einsamkeit mit heller Stimme abgesungen, oft die Seele über den Tand des Irdischen emporhebt und zum höheren Leben stärkt, so meint er doch, dieselben Gefühle könnten bei dem öffentlichen Gottesdienste durch das Anhören des schön und kräftig von Chorschülern mehrstimmig gesungenen Chorals, dessen Worte man im Buche vor Augen hat, erregt werden. Rez. hörte von einem Reisenden, in der reformierten Kirche in St. Petersburg habe man die Kirchenlieder auch gewaltig abgeschrien, bis dem, für Musik fein empfindenden Prediger das Ding zu arg geworden sei; der habe es dahin gebracht, daß ein, mit der Zeit formierter Chor schön gesetzte, aber der Gemeinde unbekannte Choräle vierstimmig abgesungen habe. Nach mehreren vergeblichen Versuchen mitzusingen, hätte endlich die Gemeinde schweigen müssen und sich in der Folge bei dem Anhören der Choräle, die Worte im Buche still nachlesend, mehr gerührt und erbaut gefunden, als vorher. Rez. fand hierin sein Ideal des Absingens der Kirchenchoräle bei dem Gottesdienste, kann aber die Wahrheit jener Erzählung nicht verbürgen, wiewohl er in der Ähnlichkeit jener Andachtsübung mit dem griechischen Gottesdienste, dessen Haupterfordernis ein wohlbesetzter und sehr gut einstudierter Singechor ist, die Wahrscheinlichkeit findet, daß in St. Petersburg, wo auch Reformierte wohl an Festtagen die griechischen Kirchen besuchen, so etwas ausgeführt worden. –

Was nun Hrn. P.s Bemühen für die Einführung des bessern Gesanges betrifft, so gebührt seiner Anleitung zum Singen das gerechte Lob, daß sie, zunächst für das Land bestimmt, präzis, und, mit wenigen Ausnahmen, zweckmäßig abgefaßt sei, so bald man voraussetzt, daß der Lehrer, der sie zur Hand nimmt, die Kunst des Gesanges ganz kennt. Dies kann nämlich der Fall, und doch dem Lehrer die Art, wie er auf dem kürzesten Wege seine Schüler bilden soll, wenn nicht ganz unbekannt, wenigstens nicht geläufig sein; und da darf er gewiß getrost nach Hrn. P.s Anleitung, die in das praktische Detail (wie z. B. von der Methode, die Fähigkeit der Schüler zu prüfen) geht, verfahren, und er wird seines Zwecks nicht verfehlen. Für Lehrer, die selbst nicht ganz musikalisch ausgebildet sind und die Kunst des Gesanges nicht aus dem Grunde verstehen, würde Hrn. P.s Anleitung viel zu mangelhaft und oberflächlich sein. Manchen Satz des Hrn. Verf.s würde Rez. nicht unterschreiben. So z. B. traut er der Mehrzahl der Menschen zu viel zu, wenn er § 4 sagt: Taktgefühl hat wohl ein jeder Mensch. Er darf nur tanzen sehn, und wird sich wundern, wie viele, um die Musik ganz unbekümmert, gerade außer dem Taktschlag auftreten. Ferner ist der Begriff der Falsett- und Bruststimme unrichtig angegeben, wenn der Verf. sie bloß nach der Schwäche und Stärke des Tons, und in Rücksicht der Skala, in folgender Art unterscheidet:

Noten

Gerade die vier ersten Töne werden Diskantisten, verhältnismäßig, nur schwach herausbringen, und die volle Bruststimme wird erst in den folgenden Tönen eintreten. Das Falsett ist aber auch nicht der schwächere Ton des Sängers, sondern derjenige, den er außer der Skala seiner natürlichen, d. h. der Töne, die in der Brust wohnen, durch künstliches Zusammenpressen der Kehle (Kehltöne) bildet und hervorbringt. Doch dieses hat wenig Einfluß auf die zu lehrende Methode, wiewohl es zu Irrtümern im Prinzip veranlaßt. Die Beispiele § 57 sind aus dem figurierten Gesange genommen, und passen daher nicht zum aufgestellten Zweck. Was aber endlich die Lehre des Vortrags § 72 betrifft, so hält es Rez. für äußerst gefährlich, den Schülern irgend eine Berührung eines Mitteltons von einem Intervall zum andern zu gestatten, da hieraus nur zu leicht eine ganz falsche Methode, den Choral vorzutragen, entstehen und der Ernst des Kirchengesanges verloren gehen kann. Hrn. P.s eigentliche Absicht ist wohl, das Portamento di voce zu lehren, welches in der Verbindung der Intervalle liegt, die der Atemzug hervorbringt, und nur im Vortrag der Lehre liegt der Fehler, der manchen, mit der Kunst des Gesanges nicht vertrauten Lehrer ganz irre führen kann. Hr. P. fühlt das selbst und sagt: Alle Vorausnahmen und Berührungen der Mitteltöne müssen äußerst kurz und fast unmerklich sein, wenn sie den schönen Vortrag der Melodie befördern sollen. Rez. aber ist der Meinung, daß der Vortrag des Chorals von Sängern, die wenig Portamento di voce haben sondern die Töne einzeln, jedoch rein herausstoßen, doch noch immer leidlicher sein würde, als das Durchschreiten der Mitteltöne oder die Vorausnahme des folgenden Tons, welches dem Choral das Ernste und Majestätische benimmt. Jenes eigentliche Portamento setzt die höchste Bildung des Sängers voraus, und ist, wie jeder Singmeister erfahren haben wird, am schwersten zu lehren. –

Was nun Hrn. P.s Choralbuch betrifft, so sind die mehresten Choräle recht gut gewählt, und auch für minder geübte Organisten und pedallose Orgeln zweckmäßig beziffert. Er selbst hat auch vierundzwanzig Choräle neu komponiert, die nicht zu verwerfen sind, wiewohl manche nicht den Ernst und die Würde an sich tragen, die man von Kirchenmelodien fordert. So z. B. ist der bravourarienmäßige Anfang des Chorals Nr. 40 ganz dem Geiste des Kirchen-Gesanges entgegen:

Noten

Die Melodie, welche an ein Trompeterstückchen mahnt, durchläuft hier eine Dezime, und keine Regel ist für den Choral strenger anzunehmen, als die, nur in kleinen Intervallen, welche die Mitteltöne kaum über- oder untersteigen, die Melodie sich bewegen zu lassen. Der Komponist scheint überhaupt die Bewegung der Melodie durch den 8/5/3 Akkord zu lieben, denn die Choräle Nr. 60 und 85 fangen wieder so an:

Noten

und gerade dieser Gang fällt ins Matte und Verbrauchte. Ferner schließen mehrere Strophen aus der Terz in den Grundton fallend, wie der Choral Nr. 152

Noten

welches auch ziemlich matt klingt. Rez. würde bei diesem angeführten Schluß in die Dominante kadenziert haben. Die Melodie des Chorals 102 im 3/2 Takt ist zu hüpfend, und der Schluß der Choräle 106, 110 für den Choral viel zu gemein und ariettenmäßig.

Noten

Rez., der in den übrigen Chorälen noch manches rügen könnte, bricht hier ab, um jeden Verdacht des Krittelns von sich zu entfernen, und bemerkt nur im allgemeinen, daß die Choräle des Hrn. P. ihm viel zu modern vorkommen, und daß vielleicht ein tieferes Studium der alten Tonarten, die dem Chorale einen feierlichen Ernst und eine große Würde geben, so wie das Eingehen in die Choralkomposition der alten Italiäner und Deutschen (z. B. des Sebastian Bach), den Hrn. P. wohl bald zu einem recht braven Choralkomponisten erheben würden. Wie schwer es ist, einen guten Choral zu komponieren, und wie mancher, der im figurierten Stil recht viel leistet, sich vergebens daran versuchen würde, weiß Rez. recht gut, und um so mehr schätzt er das Talent und die Bemühungen des Hrn. P., denen er den besten Erfolg wünscht. Vielleicht gelingt es ihm noch später, durch die Komposition und Einführung ernster, würdevoller Choräle sich um den verwahrloseten Kirchengesang verdient zu machen und so den Lohn seines Eifers für die gute Sache einzuernten.

Der Druck des Werkes ist gut; nur möchte Rez. den Notenlinien mehr Zusammenhang wünschen, da die kurzen, geteilten Striche einen gewissen Schimmer hervorbringen, der dem Organisten in einer nicht ganz hellen Kirche leicht beschwerlich werden kann.

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