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22.

Am 15. Januar 1814, zwei und einen halben Monat nach der Schlacht bei Hanau, erwachte ich in einem wohlgeheizten Zimmer und in einem guten Bett und sagte, indem ich die Balken an der Decke über mir und dann die kleinen Fenster betrachtete, die der Frost mit weißen Blumengarben geschmückt hatte, zu mir selbst: »Es ist Winter!« Gleichzeitig hörte ich ein Geräusch wie Kanonendonner und das Knistern des Feuers auf einem Herde. Einige Minuten später sah ich, nachdem ich mich umgedreht hatte, ein junges, blasses Frauenzimmer, deren gefaltene Hände auf ihren Knieen ruhten, neben dem Herde sitzen und erkannte Katherine. Auch das Zimmer, in welchem ich, ehe ich in den Krieg zog, so viele schöne Sonntage verlebt hatte, erkannte ich wieder. Nur der Kanonendonner, der sich jeden Augenblick erneuerte, ließ mich befürchten, ich träume noch.

Lange blickte ich Katherine an: sie schien mir wunderschön, und ich dachte: »Wo ist denn Tante Gredel? Wie bin ich denn hierher gekommen? Sind Katherine und ich mit einander verheirathet? Mein Gott, wenn doch das kein Traum wäre!«

Endlich faßte ich Muth und rief ganz leise: »Katherine!« Rasch wandte sie sich um und rief:

»Joseph ... du erkennst mich?«

»Ja,« erwiderte ich, indem ich ihr die Hand entgegenstreckte.

Vor Aufregung und Freude zitternd, trat sie näher, und ich hielt sie lange umschlungen. Wir weinten beide.

Als aber der Kanonendonner von Neuem anhub, schnürte sich mir plötzlich das Herz zusammen.

»Was ist das, Katherine?« fragte ich.

»Das Geschützfeuer von Pfalzburg,« erwiderte sie, indem sie mich fester umschlang.

»Geschützfeuer?«

»Ja, die Stadt wird belagert.« »Pfalzburg? ... Die Feinde sind in Frankreich!« ...

Ich konnte kein Wort weiter sagen ... So viele Leiden und Beschwerden, so viele Thränen, zwei Millionen auf den Schlachtfeldern geopferte Menschen – das Alles hatte also am Ende nur dazu geführt, daß unser Vaterland der Plünderung und Verwüstung anheimfiel! ... Trotz meiner Freude darüber, daß ich die Geliebte in meinen Armen hielt, wich doch jener entsetzliche Gedanke während mehr als einer Stunde keine Secunde von mir, und sogar heute, so alt und grau ich bin, erfüllt er mich noch immer mit Bitterkeit ... Ja, wir Greise haben das erlebt, und es ist gut, daß die Jugend es erfahre: wir haben den Deutschen, den Russen, den Schweden, den Spanier, den Engländer als Herrn in Frankreich walten, Garnisonen in unsere Städte legen, Alles, was ihnen gefiel, aus unsern Festungen fortführen, unsere Soldaten beschimpfen, unsere Fahne verändern und sich in unsere Eroberungen, nicht nur in die aus der Kaiserzeit, sondern auch in die aus der Zeit der Republik, theilen sehen – – das hieß zehn Jahre des Ruhms theuer bezahlen!

Doch reden wir nicht von diesen Dingen, die Zukunft wird Richter darüber sein. Und sie wird verkünden, daß die Feinde uns nach den Schlachten bei Lützen und Bautzen das Anerbieten machten, uns Belgien mit einem Theil von Holland, das ganze linke Rheinufer bis nach Basel und das Königreich Italien sammt Savoyen zu lassen, und daß der Kaiser sich weigerte, diese Bedingungen, die doch gewiß gut waren – anzunehmen, weil er die Befriedigung seines Stolzes dem Glücke Frankreichs vorzog!

Um zu meiner Erzählung zurückzukehren, so muß ich nachholen, daß vierzehn Tage nach der Schlacht bei Hanau tausende von Wagen mit Verwundeten und Kranken auf der Heerstraße von Straßburg nach Nancy durch Vier-Winden zu defiliren begonnen hatten. Sie zogen in einer einzigen Reihe ununterbrochen aus dem Elsaß nach Lothringen hinein. Tante Gredel und Katherine sahen von ihrer Hausthür aus diesen traurigen Zug vorüberfluten. Ihre Gedanken zu schildern, habe ich wohl nicht nöthig! Mehr als zwölfhundert Wagen waren bereits vorüber gekommen, und ich befand mich in keinem derselben. Tausende von Vätern und Müttern, die zwanzig Meilen weit aus der Umgegend herbeigeeilt waren, schauten in solcher Weise längs des Weges nach ihren Söhnen aus ... Wie viele kehrten nach Hause zurück, ohne ihr Kind gefunden zu haben!

Am dritten Tage erkannte mich Katherine auf einem jener Korbwagen aus der Mainzer Gegend unter mehreren andern Unglücklichen, die wie ich hohlwangig, klapperdürr und halbtodt vor Hunger waren.

»Das ist er! ... das ist Joseph!« rief sie von Weitem.

Aber Niemand wollte es glauben. Tante Gredel mußte mich erst lange ansehen, ehe sie sagen konnte:

»Ja, er ist's! ... Man hebe ihn vom Wagen herunter ... es ist unser Joseph!«

Sie ließ mich in ihr Haus bringen und pflegte mich Tag und Nacht. Ich wollte nur trinken und schrie immerfort: »Wasser! Wasser!« Niemand im Dorfe glaubte, daß ich genesen würde. Aber das Glück, die Luft der Heimat zu athmen und meine Lieben wiederzusehen, rettete mich.

Ungefähr sechs Monate später, am 15. Juli 1814, verheiratheten wir uns, Katherine und ich. Herr Goulden, der uns wie seine Kinder liebte, hatte mich zum Theilhaber in seinem Geschäfte angenommen, und wir lebten Alle zusammen in derselben Behausung – kurzum, wir waren die glücklichsten Menschen von der Welt.

Der Krieg war jetzt zu Ende, die Alliirten kehrten in Tagemärschen nach Hause zurück, der Kaiser war nach der Insel Elba abgegangen, und König Ludwig XVIII. hatte uns vernünftige Freiheiten gewährt. Es war noch einmal die schöne Zeit der Jugend, die Zeit der Liebe, der Arbeit und des Friedens. Man konnte auf die Zukunft hoffen, man konnte glauben, daß Jeder mit gutem Benehmen und Sparsamkeit dazu gelangen würde, sich eine gute Stellung zu sichern, sich die Achtung der braven Menschen zu erwerben und seine Familie gut zu erziehen, ohne befürchten zu müssen, daß er sieben oder sogar acht Jahre, nachdem er sich frei geloost, von Neuem von der Aushebung getroffen werde.

Herr Goulden, der mit der Rückkehr der alten Könige und des alten Adels nicht sehr zufrieden war, meinte doch, diese Leute hätten in den fremden Ländern genug gelitten, um einzusehen, daß die Welt nicht für sie allein da wäre, und daß sie unsere Rechte respectiren müßten. Er glaubte auch, der Kaiser Napoleon werde verständig genug sein und sich ruhig verhalten ... Aber er täuschte sich: die Bourbons waren mit ihren alten Ansichten zurückgekehrt, und der Kaiser wartete nur auf den günstigen Moment, um sich zu rächen.

Das Alles sollte uns noch viel Leiden und Beschwerden verursachen, und ich würde euch das gern erzählen, wenn mich die Geschichte nicht für diesmal lang genug dünkte. Wir werden also bis auf Weiteres hier stehen bleiben. Wenn dann einsichtsvolle Leute mir sagen, daß ich wohl daran that, meine Erlebnisse im Feldzuge von 1813 zu beschreiben, daß das die Jugend über die Eitelkeit und Vergänglichkeit des Kriegsruhms aufklären und ihr zeigen könne, daß nur Friede, Freiheit und Arbeit glücklich machen – nun, dann werde ich den weitern Verlauf dieser Begebenheiten berichten und euch von Waterloo erzählen!


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