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Auf dem Hügel vor Groß-Görschen wurden Feuer angezündet, und ein Detachement stieg in das Dorf hinab und brachte fünf oder sechs alte Kühe zum Abkochen zurück. Wir waren aber so müde, daß eine große Anzahl von uns den Schlaf dem Essen vorzog. Inzwischen trafen immer noch neue Regimenter mit Kanonen und Schießbedarf ein, und gegen elf Uhr lagerten auf dem Hügel zehn bis zwölftausend, im Dorfe zweitausend Mann – die ganze Division Souham. Der General und seine Ordonnanz-Officiere befanden sich in einer großen Mühle zur Linken neben einem fließenden Wasser, das man den »Floßgraben« nennt. Die Schildwachen standen auf Schußweite rings um den Hügel. In Folge der großen Anstrengung schlief auch ich endlich ein, wachte aber jede Stunde wieder auf, denn hinter uns in der Richtung jener Straße, die an der alten Brücke bei Poserna beginnt und sich bis nach Lützen und Leipzig hin erstreckt, vernahm ich in der Nacht ein großes Getöse, ein Rollen von Wagen, Kanonen und Pulverkarren, das bald stärker, bald schwächer durch die Stille klang.
Der Sergeant Pinto schlief nicht. Er rauchte seine Pfeife und trocknete dabei die Füße am Feuer. Jedes Mal, wenn Einer oder der Andere sich bewegte, wollte er reden.
»Nun, Rekrut?« sagte er.
Aber man stellte sich, als höre man ihn nicht, drehte sich gähnend um und schlief wieder ein.
Die Thurmuhr in Groß-Görschen schlug sechs Uhr, als ich erwachte. Von dem Marsche im Morast waren mir die Hüft- und Schenkelknochen wie zerschlagen. Dennoch richtete ich mich auf, indem ich die Hände auf die Erde stemmte: ich wollte mich wärmen, denn mich fror sehr. Das Feuer qualmte, nur noch Asche und einige Kohlen waren übrig. Der Sergeant war aufgestanden und betrachtete die nebelweiße Ebene, über die einige Sonnenstrahlen hinblitzten.
Um uns schlief Alles, die Einen auf dem Rücken, andere auf der Seite, die Füße nach dem Feuer gekehrt. Einige schnarchten oder sprachen im Traum.
Als der Sergeant sah, daß ich erwacht war, nahm er eine glühende Kohle und legte sie auf seine Pfeife. Dann sagte er:
»He! Füsilier Bertha, wir sind jetzt also in der Nachhut?«
Ich begriff nicht recht, was er damit sagen wollte.
»Das setzt dich in Erstaunen, Rekrut?« sprach er weiter. »Aber das ist doch ganz klar: wir hier haben uns nicht gerührt, aber die Armee hat sich davon gemacht. Gestern stand sie dort vor uns an der Rippach, in diesem Augenblicke steht sie hinter uns bei Lützen: anstatt an der Spitze befinden wir uns jetzt im Nachtrab.«
Und indem er schadenfroh die Augen einkniff, that er zwei oder drei starke Züge aus seiner Pfeife.
»Und was gewinnen wir dabei?« fragte ich.
»Wir gewinnen dabei, daß wir zuerst nach Leipzig und den Preußen über den Hals kommen werden,« gab er zur Antwort. »Du wirst das später schon begreifen, Rekrut.«
Ich richtete mich nun auf, um die Gegend zu betrachten, und sah eine weite, sumpfige Ebene vor mir, die von der Grune und dem Floßgraben durchschnitten wurde. Am Rande dieser beiden Bäche erhoben sich einige kleine Hügel, und im Hintergrunde zeigte sich ein breiteres Gewässer: der Sergeant sagte, es wäre die Elster. Der Morgennebel breitete seine Schleier über das Alles.
Als ich mich dann umdrehte, erblickte ich hinter uns im Thale die Spitze des Kirchthurms von Groß-Görschen und weiter hinten zur Rechten und Linken fünf oder sechs kleine Dörfer, die in den Vertiefungen zwischen den Hügeln erbaut waren, denn die Gegend ist sehr bergig, und die Dörfer Kaja, Eisdorf, Starsiedel, Rahna, Klein-Görschen und Groß-Görschen, die ich seitdem kennen gelernt habe, liegen alle zwischen diesen Hügeln am Rande kleiner, sumpfiger Teiche, an deren Ufern Pappeln, Weiden und Espen wachsen. Groß-Görschen, wo wir bivouakirten, war am weitesten in die Ebene nach der Elster zu vorgeschoben; am entferntesten lag Kaja, hinter welchem die Heerstraße von Lützen nach Leipzig entlang läuft. Man sah auf den Hügeln zwar nur die Wachtfeuer unserer Division, aber das ganze dritte Armee-Corps lagerte in den Dörfern, und in Kaja befand sich das Hauptquartier.
Gegen sieben Uhr wurden die Schläfer durch die Trommeln und durch die Trompeten der reitendem Artillerie und des Trains geweckt. Man stieg nun in das Dorf hinunter, die Einen, um Holz, Andere, um Stroh und Heu zu holen. Dann kamen Fourage- und Munitionswagen an, und man vertheilte Brot und Patronen. Wir sollten in unserer Stellung bleiben und die Armee auf Leipzig zu vorüberziehen lassen, und aus diesem Grunde behauptete Sergeant Pinto, daß wir in der Nachhut wären.
Auch zwei Marketenderinnen kamen aus dem Dorfe herauf, und da ich noch fünf Sechsfrankenthaler hatte, bot ich Klipfel und Zebede ein Gläschen Schnaps an, um den Morgennebel unschädlich zu machen. Ich erlaubte mir auch, dem Sergeanten Pinto eins anzubieten; er nahm es an, indem er sagte, »daß Branntwein auf Brot den Muth belebe.«
Wir waren ganz vergnügt, und Niemand ahnte etwas von den fürchterlichen Dingen, die noch an diesem Tage geschehen sollten. Man glaubte die Russen und Preußen meilenweit von dem Gedanken entfernt, uns hinter der Grune zu suchen. Aber sie wußten, wo wir steckten, und gegen zehn Uhr sprengte plötzlich General Souham mit seinen Officieren in gestrecktem Galopp den Berg herauf: er hatte etwas gemerkt. Ich stand gerade bei den Gewehrpyramiden Wache und mir ist, als sähe ich ihn noch immer mit seinem ergrauten Kopfe und dem großen, weißbesetzten Hute zur Spitze des Hügels reiten, ein großes Fernrohr hervorziehen und vor das Auge halten, dann in Windeseile zurückkommen, in das Dorf hinuntersprengen und den Befehl ertheilen, zum Sammeln zu blasen.
Die Vorposten zogen sich jetzt auf uns zurück, und Zebede, der wahre Falkenaugen hatte, sagte:
»Ich sehe da unten an der Elster Truppenmassen durch einander wimmeln ... und sogar einige, die in guter Ordnung vorrücken, während andere auf drei Brücken aus den Sümpfen hervorquellen. Ein schönes Sturzbad, wenn die uns Alle über den Hals kommen!«
»Oho,« rief Pinto, der den Kopf emporgereckt und die Hand als Visier über die Augen gelegt hatte, »das ist der Anfang zu einer Schlacht, oder ich verstehe mich nicht mehr darauf. Während unsere Armee auf Leipzig zu defilirt und sich über einen Raum von mehr als drei Meilen erstreckt, wollen diese Halunken von Preußen und Russen uns in der Flanke packen und uns auseinander reißen. Das ist von ihrer Seite sehr gut berechnet! Sie lernen die Kriegskunststücke alle Tage besser!«
»Aber wir hier, was sollen wir anfangen?« fragte Klipfel.
»Das ist sehr einfach,« entgegnete der Sergeant. »Wir sind hier zehn- bis zwölftausend Mann unter dem alten Souham, der nie einen Schritt zurückgewichen ist. Wir werden also stehen wie die Mauern, einer gegen sechs oder sieben, bis der Kaiser von der Geschichte unterrichtet ist und umkehrt, um uns zu Hilfe zu kommen. Seht, da sprengen schon die Ordonnanz-Officiere davon.«
Es war wirklich so: fünf oder sechs Officiere sprengten über die Lützener Ebene in unserm Rücken nach Leipzig hin. Sie ritten wie der Wind, und ich bat Gott in meinem Herzen, er möge sie in seiner Barmherzigkeit zur rechten Zeit ankommen lassen und uns die ganze Armee zu Hilfe schicken. Denn es ist schrecklich, hören zu müssen, daß man verloren sei, und ich wünsche es meinem ärgsten Feinde nicht, in einer solchen Lage zu stecken.
Sergeant Pinto sagte uns ferner:
»Ihr habt Glück, Rekruten. Wenn Einer oder der Andere von euch davonkommt, wird er sich rühmen können, etwas Exquisites gesehen zu haben. Seht nur diese blauen Linien da, die mit geschultertem Gewehr längs des Floßgrabens heranmarschiren – jede dieser Linien ist ein Regiment. Es sind ihrer dreißig, das macht sechzigtausend Preußen, ohne jene Reihen von Kavallerie zu rechnen, von denen jede eine Schwadron ist. Und jene Andern da, die links von ihnen an der Rippach vorrücken, und deren Waffen in der Sonne glänzen, das sind die Dragoner und Kürassiere der russischen Kaiser-Garde. Ich habe sie zum ersten Male bei Austerlitz gesehen, wo wir sie hübsch zurichteten. Das sind auch wohl noch achtzehn- bis zwanzigtausend. Jene Lanzenmasse hinter ihnen, das sind Kosaken-Rotten. Und so werden wir denn in einer Stunde das Vergnügen haben, hunderttausend Mann, und zwar den hartköpfigsten, die es unter den Preußen und Russen giebt, Auge in Auge gegenüber zu stehen. Das ist, um deutlich zu reden, eine Schlacht, in der man das Kreuz gewinnt, und wenn man es nicht gewinnt, darf man nicht mehr darauf rechnen.«
»Glauben Sie, Sergeant?« fragte Zebede, der nie zwei klare Gedanken im Kopfe hatte und sich jetzt einbildete, er habe das Kreuz schon in der Hand. Seine Augen leuchteten wie Stieraugen, die an einer Sache immer nur die gute Seite sehen.
»Gewiß,« entgegnete der Sergeant, »denn man wird dicht an einander gerathen. Und erblickt man nun in dem Gedränge einen Obersten, eine Kanone, eine Fahne, kurz, irgend etwas, das einem in die Augen sticht, so stürzt man drauf los, trotz der Bajonettstiche, Säbelhiebe, Kolbenstöße oder dergleichen; man packt es, und kommt man glücklich davon, so wird man auf die Liste gesetzt.«
Während Pinto sprach, fiel mir ein, daß der Schulze von Felsenburg das Kreuz erhalten hatte, weil er Marie Louise mit seinem Dorfe auf blumenbekränzten Wagen unter dem Absingen alter deutscher Volkslieder entgegengefahren war, und ich fand seine Manier, das Kreuz zu erlangen, weit bequemer als die des Sergeanten Pinto.
Ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn auf allen Seiten wurde zum Sammeln geblasen. Jeder eilte nach dem Gewehrstand seiner Compagnie und nahm eiligst seine Flinte. Die Officiere stellten uns in Schlachtordnung, und aus dem Dorfe kamen im vollen Galopp Kanonen herauf. Man placirte sie oben auf die Anhöhe, etwas nach hinten, so daß der Kamm des Hügels ihnen als Brustwehr diente. Auch die Munitionswagen langten an. Weiter hinten, in den Dörfern Rahna, Kaja und Klein-Görschen, war Alles in Bewegung. Wir aber waren die Ersten, über welche die feindliche Masse herstürzen mußte.
Der Feind hatte in zwei Kanonenschußweiten Halt gemacht, und seine Reiter schwärmten zu Hunderten um die Anhöhe, um zu recognosciren. Schon beim bloßen Anblick dieser Masse von Preußen, die am Floßgraben hielten, so daß beide Ufer desselben schwarz erschienen, und deren erste Reihen sich in Kolonnen zu formiren begannen, sagte ich zu mir selbst: »Dies Mal, Joseph, ist Alles verloren, Alles zu Ende ... es giebt keine Hilfe mehr ... Alles, was dir zu thun bleibt, besteht darin, daß du dich rächst, dich vertheidigst und mit keinem Mitleid hast ... Wehre dich ... wehre dich!« ...
Als ich so dachte, sprengte General Chemineau allein vor die Front und commandirte: »Formirt das Karree!«
Alle Offiziere rechts und links, vorn und hinten, wiederholten das Commando, und so bildeten wir vier Karrees, jedes zu vier Bataillonen. Ich befand mich diesmal auf einer der Innenseiten und war froh darüber, denn ich meinte natürlich, daß die Preußen, die in drei Kolonnen anrückten, zuerst die vordern angreifen würden. Kaum aber hatte ich diese Bemerkung bei mir selbst gemacht, als ein wahrer Hagel von Kugeln das Karree durchsauste. Gleichzeitig begannen die Kanonen, welche die Preußen auf einem Hügel zur Linken aufgefahren hatten, zu brüllen und zwar ganz anders als bei Weißenfels: es nahm diesmal kein Ende! Sie hatten ungefähr dreißig grobe Geschütze auf jener Anhöhe stehen, man kann sich demnach vorstellen, was für Lücken sie machten. Die Kugeln pfiffen bald über uns hin, bald schmetterten sie in die Reihen, bald drangen sie in die Erde, die sie mit fürchterlichem Getöse aufwühlten.
Unsere Artillerie feuerte ebenfalls in einer Weise, daß man nur die Hälfte der feindlichen Kugeln pfeifen und brummen hörte, aber es half nichts. Den übelsten Eindruck machte übrigens der unaufhörliche Ruf der Officiere: »Aufgeschlossen! Aufgeschlossen!«
Wir standen von einer fürchterlichen Rauchwolke umhüllt, ohne daß wir einen Schuß abgegeben hatten, und ich sagte gerade bei mir selbst: »Wenn wir hier noch eine Viertelstunde bleiben, werden wir vernichtet, ohne uns vertheidigen zu können!« was mich entsetzlich dünkte, als plötzlich die ersten Kolonnen der Preußen mit einem befremdenden Getöse, gerade als ob eine Überschwemmung heranwoge, zwischen den beiden Anhöhen anlangten. Die drei ersten Seiten unseres Karrees, d. h. die Front und die beiden andern, welche rechts und links abschwenkten, gaben auf der Stelle Feuer, und Gott weiß, wieviel Preußen in diesem Terraineinschnitt blieben! Anstatt aber anzuhalten, fuhren ihre Kameraden fort, den Hügel emporzuklimmen, indem sie wie besessen: »Vaterland! Vaterland!« schrien und uns ihr Bataillonsfeuer auf hundert Schritt so zu sagen direct in den Leib jagten.
Dann begann der Kampf mit dem Bajonett und dem Kolben, denn sie wollten durchaus das Karree sprengen; sie waren gewissermaßen toll vor Wuth. Mein Lebtag werde ich daran denken, wie ein Bataillon dieser Preußen von der Seite gerade auf uns loskam und uns mit Bajonettstichen anfiel, die wir, ohne aus dem Glied zu treten, zurückgaben, und wie sie alle von zwei Geschützen, die fünfzig Schritt hinter dem Karree aufgepflanzt waren, niedergeschmettert und weggefegt wurden.
Nun wagte keine andere Schaar mehr zwischen die Karrees einzudringen.
Sie stiegen den Hügel wieder hinunter, und wir luden unsere Gewehre, um sie bis auf den letzten Mann zu vernichten, als ihre Geschütze von Neuem zu spielen begannen, und wir ein starkes Getöse zur Rechten vernahmen. Das war ihre Kavallerie, welche die Lücken benutzen wollte, die die Kanonenkugeln in unsere Reihen rissen! Ich sah nichts von dieser Attaque, denn sie ging auf der Rückfront der Division vor sich, inzwischen aber schmetterten uns die Kugeln zu Dutzenden nieder. Dem General Chemineau war der Schenkel zerschmettert worden, und es konnte nicht länger so fortgehen, als man uns befahl, den Rückzug anzutreten, was wir mit einem Vergnügen thaten, das Jeder begreiflich finden wird.
Wir schwenkten um Groß-Görschen herum, immer verfolgt von den Preußen, mit denen wir fortwährend Schüsse wechselten. Die zweitausend Mann, welche sich im Dorfe befanden, hielten endlich den Feind durch ein aus allen Fenstern eröffnetes Schnellfeuer auf, während wir den Abhang hinaufmarschirten, um das zweite Dorf, Klein-Görschen, zu erreichen. Jetzt aber zog die ganze preußische Kavallerie auf der freien Seite heran, um uns den Rückzug abzuschneiden und uns zu zwingen, im Bereich ihrer Kanonen zu bleiben. Dies Manöver erfüllte mich mit unglaublicher Entrüstung. Ich hörte, wie Zebede schrie: »Lieber drauf los, als dort stehen bleiben!«
Die Gefahr war in der That entsetzlich, denn jene Husaren- und Jäger-Regimenter kamen in guter Ordnung heran, ehe sie ihren Anlauf nahmen.
Wir marschirten noch immer rückwärts, als man uns vom Kamm des Abhangs aus zuschrie: »Halt!« und die Husaren, die bereits auf uns einsprengten, im selben Augenblicke mit einer fürchterlichen Kartätschen-Salve überschüttet wurden, die sie zu Hunderten niederstreckte. Es war die Division Girard, die uns so von Klein-Görschen her zu Hilfe kam. Sie hatte etwas weiter nach rechts eine Batterie von sechzehn Geschützen aufgepflanzt, die gute Wirkung that: die Husaren stoben schneller zurück, als sie herangekommen waren, und nun vereinigten sich die sechs Karrees der Division Girard in Klein-Görschen mit den unsrigen, um die preußische Infanterie aufzuhalten, die, drei Kolonnen vorn, drei andere, eben so starke, weiter hinten, immerfort vorrückte.
Wir hatten Groß-Görschen verloren, aber der Kampf zwischen Klein-Görschen und Rahna sollte noch schrecklicher werden.
Ich meinestheils dachte nur noch daran, mich zu rächen. Ich war so zu sagen toll vor Wuth und Groll gegen die, welche mir das Leben nehmen wollten, das Leben, dies höchste Gut des Menschen, das Jeder bewahren soll, so gut er kann. Ich empfand eine Art Haß gegen diese Preußen, deren Geschrei und trotziges Aussehn mich empörten. Dennoch machte es mir viel Vergnügen, Zebede noch bei mir zu sehen, und da wir in Erwartung neuer Angriffe das Gewehr bei Fuß genommen hatten, drückte ich ihm die Hand.
»Wir haben Glück gehabt!« sagte er. »Aber wenn nur der Kaiser bald kommt, denn sie sind zwanzig Mal stärker als wir ... und wenn er nur Kanonen mitbringt!«
Er sprach nicht mehr davon, sich das Kreuz zu verdienen!
Ich blickte ein wenig zur Seite, um zu sehen, ob der Sergeant noch da wäre, und sah ihn ruhig sein Bajonett abwischen. Sein Aussehn war unverändert – das freute mich. Ich hätte auch gern gewußt, ob Klipfel und Fürst sich noch in ihren Reihen befänden, aber das Commando: »Gewehr auf!« ließ mich an andere Dinge denken.
Die drei ersten feindlichen Kolonnen hatten auf dem Hügel bei Groß-Görschen Halt gemacht, um die drei andern zu erwarten, die mit geschultertem Gewehr herankamen. Das Dorf im Thale zwischen uns brannte, die Strohdächer loderten und der Qualm stieg bis zum Himmel empor. Auf einer Seite, zur Linken, sahen wir eine lange Reihe von Geschützen über die gepflügten Felder herankommen, sie wollten uns in die Flanke nehmen.
Es mochte zwölf Uhr sein, als die sechs Kolonnen sich in Bewegung setzten und rechts und links von Groß-Görschen sich große Massen von Husaren und reitenden Jägern ausbreiteten. Unsere Artillerie, die hinter den Karrees aus dem Kamm der Anhöhe stand, hatte ein fürchterliches Feuer gegen die preußischen Kanoniere eröffnet, die auf der ganzen Linie antworteten.
In den Karrees begannen die Trommeln zu wirbeln, um auf das Nahen des Feindes aufmerksam zu machen. Es klang wie das Summen einer Fliege während eines Sturms, und unten im Thale riefen die Preußen im Chore ihr: »Vaterland! Vaterland!«
Da der Wind auf uns zu blies, hüllte ihr Bataillonsfeuer beim Ersteigen des Hügels uns in eine Rauchwolke ein, so daß wir sie nicht sehen konnten. Trotzdem aber hatte unser Rottenfeuer begonnen. Man sah und hörte sich gegenseitig seit einer Viertelstunde nicht mehr, als plötzlich die preußischen Husaren in unserm Karree waren. Wie das gekommen, weiß ich nicht – kurz und gut, sie waren drin und kreisten zur Rechten und Linken, wobei sie sich von ihren kleinen Pferden herabbeugten, um uns unbarmherzig zusammenzuhauen. Wir drangen unter lautem Geschrei mit dem Bajonett auf sie ein, sie feuerten ihre Pistolen auf uns ab – es war schrecklich. – Zebede, der Sergeant Pinto, ich und einige zwanzig Andere von unserer Compagnie hielten zusammen. – Mein Lebtag werde ich diese bleichen Gesichter mit den bis zu den Ohren hinaufgestrichenen Schnurrbärten und den mit dem Sturmband unter dem Kinn befestigten Tschakos, sowie die Pferde, die sich wiehernd auf Haufen von Verwundeten und Todten bäumten, nicht wieder vergessen und stets die Rufe hören, die wir, die Einen auf Französisch, die Andern auf Deutsch, ausstießen. Sie nannten uns: »Schweinepelze!« und der alte Sergeant Pinto schrie unaufhörlich: »Muthig, Kinder! Muthig!«
Nie habe ich begreifen können, wie wir aus dem Getümmel herauskamen: wir marschirten aufs Gerathewohl im Pulverdampf umher und wanden uns durch Flintenschüsse und Säbelhiebe hindurch. Ich erinnere mich nur, daß Zebede mir alle Augenblicke zuschrie: »Komm! Komm!« und daß wir uns endlich mit dem Sergeanten Pinto und sieben oder acht andern Kameraden von der Compagnie hinter einem noch stehenden Karree auf einem sich abdachenden Felde befanden.
Wir sahen aus wie Schlächter.
»Von Neuem geladen!« commandirte der Sergeant.
Und jetzt erst, beim Laden, sah ich, daß Blut und Haare an der Spitze meines Bajonetts klebten, was mir bewies, daß ich in meiner Wuth fürchterliche Stöße ausgetheilt hatte.
Nach einer Minute fuhr Pinto fort:
»Das Regiment ist zersprengt ... diese preußischen Halunken haben es zur Hälfte niedergesäbelt ... Wir werden es später wiederfinden ... Für den Augenblick muß der Feind verhindert werden, in das Dorf einzudringen. – In Zügen rechts um! Vorwärts! Marsch!«
Wir stiegen eine kleine Treppe hinunter, die in einen der Dorfgärten führte, und traten in ein Haus, dessen Hinterthür der Sergeant mit einem großen Küchentisch verrammelte. Dann deutete er auf die nach der Straße führende Thür und sagte:
»Das ist unsere Rückzugslinie.«
Wir stiegen darauf in das erste Stock hinauf und traten in ein ziemlich geräumiges Zimmer, das die Ecke am Fuße des Hügels bildete. Es hatte zwei Fenster nach dem Dorfe zu und zwei andere, die auf den Hügel hinausgingen, der ganz in Pulverrauch gehüllt war, und auf dem das Knattern des Rottenfeuers und der Kanonendonner noch immer fortdauerte. In einem Alkoven im Hintergrunde stand ein ungemachtes Bett und vor dem Bett eine Wiege – die Leute waren ohne Zweifel bei Beginn der Schlacht geflohen. Aber unter den Vorhängen halb verborgen, sah uns ein Hund mit weißem, buschigen Schweife, aufrechtstehenden Ohren und spitzer Schnauze mit leuchtenden Augen an. Das Alles dünkt mich wie ein Traum.
Der Sergeant hatte ein Fenster geöffnet und feuerte bereits in die Straße, auf der zwei oder drei preußische Husaren zwischen Haufen von Karren und Düngerbergen vordrangen. Hinter ihm standen die Andern und lauerten mit schußbereiter Waffe. Ich schaute nach dem Hügel hinüber, um zu sehen, ob das Karree noch Stand hielt, und bemerkte es in der Entfernung von fünf- oder sechshundert Schritten, wie es in guter Ordnung zurückwich und auf allen vier Seiten auf die Reitermassen feuerte, die es umschwärmten. Mitten drin erblickte ich im Pulverdampfe den Obersten, einen vierschrötigen, untersetzten Mann, zu Pferde und den Säbel in der Faust, und neben ihm die Fahne, die so zerfetzt war, daß sie nur noch einem Lappen glich, der an einer Stange hängt.
Weiter hinten, zur Linken, brach an der Biegung der Landstraße eine feindliche Kolonne hervor und marschirte auf Klein-Görschen los. Diese Kolonne wollte sich quer zwischen die Unsern und das Dorf schieben und ihnen so den Rückzug abschneiden, aber wie wir waren bereits hunderte von versprengten Soldaten angelangt, und von allen Seiten strömten noch neue hinzu, einige, indem sie sich alle fünfzig Schritt umwandten und ihr Gewehr abfeuerten, andere, die verwundet waren, indem sie sich mühsam fortschleppten, um nur irgend wohin zu kommen. Sie drangen in die Häuser, und als die Kolonne immerfort näher kam, wurde aus allen Fenstern ein Schnellfeuer auf sie eröffnet. Das hielt sie auf, um so mehr, da im selben Augenblick auf dem Hügel zur Rechten die Divisionen Brenier und Marchand aufzumarschiren begannen, die der Fürst von der Moskwa uns zu Hilfe schickte.
Wir erfuhren nachher, daß der Marschall Ney dem Kaiser zwar nach Leipzig zu gefolgt war, jetzt aber auf den Kanonendonner hin zurückkam.
Die Preußen machten also an jener Stelle Halt, und das Feuer hörte auf beiden Seiten auf. Unsere Karrees und Kolonnen erklimmten den Abhang, der Starsiedel gegenüber lag, und Alles im Dorfe beeilte sich, die Häuser zu räumen und wieder zu seinem Regiment zu kommen. Das unsere war unter zwei oder drei andere gemengt, und als die Divisionen vor Kaja Gewehr bei Fuß nahmen, hatten wir Mühe, uns zusammenzufinden. Man verlas den Appell – es blieben zweiundvierzig Mann von unserer ganzen Compagnie. Der lange Fürst und Leger waren nicht mehr da, aber Zebede, Klipfel und ich waren mit heiler Haut davongekommen.
Unglücklicherweise jedoch war die Geschichte noch nicht zu Ende, denn die Preußen, die unser Rückzug unverschämt und übermüthig machte, trafen bereits von Neuem Anstalten, uns in Kaja anzugreifen. Eine Masse von Verstärkungen stieß zu ihnen, und ich konnte mich bei diesem Anblick nicht des Gedankens erwehren, daß der Kaiser da eine für einen so großen Heerführer doch recht schlechte Idee gehabt habe, auf Leipzig loszugehen und uns inzwischen durch eine Armee von mehr als hunderttausend Mann überfallen zu lassen.
Als wir gerade dabei waren, uns hinter der Division Brenier von Neuem zu ordnen, stürmten achtzehntausend alte Soldaten der preußischen Garde im Laufschritt die Anhöhe herauf, wobei sie die Tschakos unserer gefallenen Kameraden als Siegeszeichen auf den Bajonetten trugen. Gleichzeitig entspann sich der Kampf auch zur Linken, zwischen Klein-Görschen und Starsiedel. Die Masse russischer Kavallerie, die wir am Morgen hinter der Grune bemerkt hatten, wollte uns umgehen, aber das sechste Armeecorps war zu unserer Deckung herangekommen, und die Marine-Regimenter standen wie die Mauern. Die ganze Ebene war nur eine einzige Staub- und Rauchwolke, aus der man die Helme, Panzer und Lanzen zu Tausenden aufblitzen sah. Wir wichen unsererseits immer mehr und mehr zurück, als plötzlich etwas wie Blitz und Donner vor uns vorübersauste: es war Marschall Ney, der, gefolgt von seinem Generalstab, im gestreckten Galopp herankam. Nie habe ich ein solches Gesicht gesehen: seine Augen sprühten Funken, und seine Nasenflügel zitterten vor Zorn! In einer Secunde hatte er die Linie in ihrer ganzen Tiefe durchmessen und befand sich vor der Front unserer Kolonnen. Alles folgte ihm, wie von einer unwiderstehlichen Gewalt fortgerissen: anstatt zurückzuweichen, marschirte man jetzt den Preußen entgegen, und nach zehn Minuten war Alles im Feuer. Aber der Feind stand fest. Er glaubte sich schon Meister und wollte den Sieg nicht fahren lassen, um so mehr, als er immerfort Verstärkung erhielt und wir bereits durch einen ständigen Kampf erschöpft waren.
Unser Bataillon befand sich diesmal in der zweiten Linie, und die Kugeln flogen über uns weg. Ein weit schlimmeres Geräusch aber, das mir die Nerven zerriß, war das Klappern der Kartätschensalven in den Bajonetten: das pfiff wie eine Art fürchterlicher Musik, die weithin vernehmlich war.
Nichtsdestoweniger begannen wir unter Geschrei, Commandorufen und Gewehrfeuer über Haufen von Todten wieder abwärts zu marschiren, und unsere ersten Divisionen drangen von Neuem in Klein-Görschen ein. Man kämpfte dort Mann gegen Mann: auf der großen Dorfstraße war nichts zu sehen als geschwungene Flintenkolben und Generale zu Pferde, die den Degen führten wie gemeine Soldaten.
Das dauerte einige Minuten lang, und wir sagten schon in den Gliedern: »Es geht gut! ... geht gut! ... wir rücken vor!« Als aber auf preußischer Seite neue Truppen herankamen, waren wir gezwungen, zum zweiten Male zu weichen, und diesmal unglücklicherweise so schnell, daß eine große Anzahl bis nach Kaja hinein floh. Dies Dorf lag auf dem Hügel selbst und war das letzte diesseits der Heerstraße nach Lützen. Es besteht aus einer langen Reihe von Häusern, die durch kleine Gärten, Ställe und Bienenstände von einander getrennt werden. Wenn der Feind uns in Kaja forcirte, war die Armee in zwei Theile zerschnitten.
Während des Laufens erinnerte ich mich jener Worte Herrn Gouldens: »Wenn die Verbündeten uns unglücklicherweise schlagen, werden sie sich in unserm Lande für Alles das rächen, was wir ihnen seit zehn Jahren angethan haben!« Ich hielt die Schlacht für verloren, denn selbst Marschall Ney ging inmitten eines Karrees mit den übrigen zurück, und die Soldaten trugen, um aus dem Getümmel zu kommen, verwundete Officiere auf ihren zu Tragbahren verschränkten Gewehren fort. Kurzum, die Sache nahm eine schlechte Wendung. Ich kam auf der rechten Seite des Dorfes nach Kaja hinein, indem ich über die Hecken stieg und über die kleinen Stakete sprang, durch welche die Gärten von einander abgegrenzt sind.
Eben wollte ich um eine Scheunenecke biegen, als ich beim Aufblicken ungefähr fünfzig Officiere zu Pferde auf der Spitze eines gegenüber liegenden Hügels halten sah; weiter hinter ihnen sausten Artilleriemassen in gestrecktem Galopp auf der Leipziger Straße heran. Das veranlaßte mich, genauer hinzuschauen, und nun erkannte ich den Kaiser, der ein wenig vor den Uebrigen hielt: er saß auf seinem Schimmel wie in einem Lehnstuhl. Ich sah ihn unter dem fahlen Himmel sehr gut: er rührte sich nicht und beobachtete die Schlacht unten durch sein Fernglas.
Dieser Anblick erfreute mich so, daß ich aus Leibeskräften: »Es lebe der Kaiser!« rief. Dann eilte ich durch einen Gang zwischen zwei alten Häusern auf die Hauptstraße von Kaja. Ich war einer von den Ersten und sah noch, wie die Bewohner des Dorfes, Männer, Frauen und Kinder, eiligst in ihre Keller stürzten.
Mehrere Personen, denen ich diese Umstände erzählte, haben mir Vorwürfe gemacht, daß ich so schnell gelaufen sei, ich habe ihnen aber erwidert, daß, wenn Michel Ney zurückwich, Joseph Bertha wohl ebenfalls zurückweichen konnte.
Klipfel, Zebede, der Sergeant Pinto, Alle, die ich aus der Compagnie kannte, waren noch draußen, und ich hörte ein so fürchterliches Kampfgetöse, daß man sich keine Vorstellung davon machen kann. Rauchmassen wälzten sich über die Dächer, die Ziegel rollten herab und fielen auf die Straße, und die Kugeln drückten die Wände ein oder zerschmetterten mit fürchterlichem Krachen die Balken.
Gleichzeitig strömten von allen Seiten durch die Gassen, über die Hecken und über die Zäune in den Gärten unsere Soldaten herein, indem sie sich von Zeit zu Zeit umdrehten, um Feuer zu geben. Sie waren aus allen Regimentern durcheinander gewürfelt, ohne Tschakos, zerfetzt, blutbespritzt und wüthend, und jetzt, nach so vielen Jahren denke ich daran: es waren Alles Kinder, wahre Kinder, unter fünfzehn oder zwanzig hatte nicht einer einen Schnurrbart – aber der Muth ist dem Franzosen einmal angeboren!
Und als die Preußen unter der Führung alter Officiere, die fortwährend: »Vorwärts! Vorwärts!« schrien, wie eine Heerde von Wölfen, die einander auf den Rücken springen, um schneller vorwärts zu kommen, heranstürmten, eröffneten wir, etwa zwanzig oder dreißig Mann stark, von einer Scheunenecke aus und gegenüber einem Garten, indem sich ein kleines Bienenhäuschen und große, blühende Kirschbäume befanden, die ich noch jetzt vor mir zu sehen glaube, ein Schnellfeuer auf diese Halunken, die eine kleine Mauer weiter unten übersteigen und das Dorf nehmen wollten.
Wieviel von ihnen, sobald sie auf die Mauer gelangten, wieder in die Masse zurückstürzten, weiß ich nicht, es kamen aber immer wieder andere. Die Kugeln pfiffen uns zu Hunderten um die Ohren und schlugen sich an dem Mauerwerk platt, der Kalk fiel von den Wänden, das Stroh hing von den Dachbalken herab, das große Thor zur Linken war ganz von Kugeln durchlöchert, und wir, nachdem wir hinter der Scheune geladen hatten, sprangen abwechselnd vor und wieder zurück, um in den Haufen zu schießen. Das dauerte nur gerade so lange, als man zum Anlegen und Abdrücken brauchte, und trotzdem waren schon fünf oder sechs von uns mit dem Gesicht nach unten an der Ecke des Heuschobers zu Boden gestürzt. Unsere Wuth war jedoch so groß, daß wir nicht darauf achteten.
Als ich zum zehnten Male vorsprang, fiel mir beim Anlegen die Flinte aus der Hand. Ich bückte mich, um sie aufzuheben, und stürzte dabei über sie hin – ich hatte eine Kugel in der linken Schulter. Das Blut strömte mir über die Brust wie warmes Wasser. Ich versuchte aufzustehen, aber Alles, was ich thun konnte, war, daß ich mich gegen die Mauer lehnte. Jetzt floß mir das Blut bis auf die Schenkel herunter und der Gedanke überfiel mich, ich müsse an dieser Stelle sterben – dabei überlief es mich eiskalt.
Die Kameraden schossen noch immer über meinen Kopf weg, und die Preußen erwiderten das Feuer ohne Unterbrechung.
Da ich fürchtete, eine andere Kugel könne mich vollends tödten, klammerte ich mich mit der rechten Hand, um mich auf diese Weise fortzuziehen, so krampfhaft an die Mauerecke, daß ich in einen kleinen Graben fiel, der das Wasser von der Straße in den Garten leitete. Mein linker Arm war schwer wie Blei, der Kopf wirbelte mir, zwar hörte ich noch immer das Gewehrfeuer, aber nur wie im Traum. Dieser Zustand dauerte ohne Zweifel längere Zeit.
Als ich die Augen wieder öffnete, war die Nacht im Anzuge, und die Preußen zogen auf der Gasse im Laufschritt vorüber. Sie füllten schon das ganze Dorf. Im Garten mir gegenüber hielt ein alter General mit bloßem Haupte und weißem Haar auf einem großen, braunen Pferde. Mit schmetternder Stimme befahl er, Kanonen herbeizuschaffen, und einige Officiere sprengten mit verhängtem Zügel davon, um seine Befehle zu überbringen. Neben ihm stand auf der mit Todten bedeckten kleinen Mauer einer ihrer Chirurgen und verband ihm den Arm. Auf der andern Seite hielt weiter hinten zu Pferde ein sehr hagerer, russischer Officier, ein junger Mann, dessen Kopf ein Hut mit grünen, bouquetförmig herabfallenden Federn bedeckte. Das Alles sah ich mit einem Blick: den Alten mit der dicken Nase, der breiten, flachen Stirn, den lebhaften Augen und der kühnen Miene; die Andern um ihn her; den Arzt, einen kleinen, kahlköpfigen Mann mit einer Brille; und dann, sechs oder siebenhundert Schritt entfernt, zwischen zwei Häusern unten im Thale unsere Soldaten, die sich ordneten. Das Alles steht mir vor Augen, als ob ich noch an jener Stelle läge.
Es wurde nicht mehr geschossen, aber zwischen Klein-Görschen und Kaja erhob sich jetzt ein fürchterliches Geschrei. Man hörte dumpfes Rollen, Wiehern, Fluchen und Peitschenschläge. Ohne zu wissen, warum, schleppte ich mich aus dem Fahrgleise fort und lehnte mich wieder gegen die Mauer, und beinahe im selben Augenblicke bogen zwei Sechzehnpfünder, jeder mit sechs Pferden bespannt, beim ersten Hause des Dorfes um die Ecke. Die reitenden Artilleristen peitschten die Pferde aus Leibeskräften, und die Räder schnitten in die Haufen von Todten und Verwundeten ein wie in Stroh: die Knochen krachten! Daher kam das fürchterliche Geschrei und Gewinsel, das ich gehört hatte – mir stiegen dabei die Haare zu Berge.
»Hierher!« rief der Alte auf Deutsch. »Zielt da unten hin, zwischen die beiden Häuser neben dem Brunnen!«
Die beiden Geschütze wurden sofort herumgedreht, die Pulver- und Kugelwagen kamen im Galopp nach. Der Alte, den linken Arm in der Binde, ritt näher heran, um zuzusehen, und während sie die Gasse hinaufritten, hörte ich, wie er in kurzem Tone an den jungen russischen Officier die Worte richtete:
»Sagen Sie dem Kaiser Alexander, daß ich in Kaja bin ... Die Schlacht ist gewonnen, wenn man mir Verstärkungen schickt. Man berathe nicht lange ... man handle! ... Wir müssen auf eine fürchterliche Attaque gefaßt sein. Napoleon kommt ... ich fühle es! In einer halben Stunde haben wir ihn mit seiner Garde auf dem Halse ... Aber was es auch koste, ich werde ihm die Spitze bieten ... Man verliere aber um Gottes willen nicht eine Minute ... und der Sieg ist unser!«
Der junge Mann sprengte im Galopp in der Richtung nach Klein-Görschen davon, und im selben Augenblicke sagte Jemand neben mir:
»Der Alte – das ist Blücher ... Ha! Schurke, wenn ich meine Flinte hätte!«
Als ich den Kopf umdrehte, erblickte ich einen alten, ausgedörrten, hagern Sergeanten mit tiefgefurchten Backen, der sich gegen das Scheunenthor lehnte, indem er, da ihm eine Kugel die Lenden zerschmettert hatte, die Hände als Krücken auf die Erde stemmte. Seine gelblichen Augen folgten schielend dem preußischen General, seine schon bleifarbene, gekrümmte Nase steckte wie ein Schnabel in seinem dichten Schnurrbart: er hatte eine zugleich fürchterliche und stolze Miene.
»Wenn ich meine Flinte hatte,« wiederholte er nochmals, »würdest du sehen, ob die Schlacht gewonnen ist.«
Wir waren die einzigen noch lebenden Wesen in diesem mit Todten überfüllten Winkel.
Ich dachte daran, daß man mich vielleicht am nächsten Tage mit all den Andern da drüben im Garten einscharren und daß ich Katherine nie mehr wiedersehen würde, und die Thränen liefen mir über die Backen. Unwillkürlich rief ich:
Her Sergeant sah mich darauf von der Seite an, und als er sah, daß ich noch so jung war, fragte er:
»Was hast du denn, Rekrut?«
»Eine Kugel in der Schulter, Herr Sergeant.«
»In der Schulter – das ist besser als in den Lenden: man kann davonkommen!«
Und nachdem er mich von Neuem betrachtet hatte, fügte er mit weicherer Stimme hinzu:
»Fürchte nichts ... du wirst die Heimat wiedersehen.«
Ich dachte, er habe Mitleid mit meiner Jugend und wolle mich trösten. Aber mir war die Brust wie zerschmettert, und das raubte mir alle Hoffnung.
Der Sergeant sagte nichts mehr; er machte nur von Zeit zu Zeit eine Anstrengung, um den Kopf aufzurichten und nachzusehen, ob unsere Kolonnen noch nicht kämen. Dabei fluchte er zwischen den Zähnen und ließ sich endlich, indem er die Schulter in den Thorwinkel lehnte, zu Boden gleiten, indem er sagte:
»Mit mir ist's aus! ... aber der große Halunke hat es wenigstens gebüßt.«
Dabei schaute er nach der vor uns liegenden Hecke, wo ein preußischer Grenadier auf dem Rücken ausgestreckt lag: das Bajonett steckte ihm noch in der Brust.
Es mochte jetzt sechs Uhr sein. Der Feind hatte alle Häuser inne und füllte die Gärten, die Baumpflanzungen, die Dorfstraße und die Nebengäßchen. Ich fror am ganzen Leibe und war, die Stirn auf die Kniee gestützt, erstarrt und betäubt, als das Donnern der Kanonen mich von Neuem aufrüttelte. Die beiden Geschütze im Garten und einige andere, die weiter oben im Dorfe aufgepflanzt waren, gaben Feuer und beleuchteten bei jedem Schusse die Hauptstraße, auf der die Preußen und Russen sich durch einander drängten. Aus allen Fenstern wurde ebenfalls geschossen. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Feuer der Franzosen da drüben auf dem Hügel. Und unten im Thale stürmte die junge Garde im Laufschritt, die Obersten, Commandanten und Generale mit hochgeschwungenen Degen und zu Pferde mitten unter den Bajonetten, in geschlossenen Kolonnen herauf. Alles war in einen grauen Nebel gehüllt und wurde nur von Secunde zu Secunde durch das Aufblitzen der achtzig Geschütze beleuchtet, die der Kaiser zu einer einzigen Batterie hatte auffahren lassen, um den Vorstoß zu unterstützen. Diese achtzig Geschütze verursachten ein fürchterliches Getöse, und das alte Gebäude, an das ich mich lehnte, erbebte davon trotz der Entfernung bis in die Grundmauern. Die Kugeln rissen auf der Straße ganze Reihen von Preußen und Russen nieder wie Sichelhiebe das Gras; jetzt war an ihnen die Reihe, aufzuschließen!
Hinter uns hörte ich die feindliche Artillerie antworten und dachte: »Mein Gott! wenn jetzt nur die Franzosen siegen, so werden ihre armen Verwundeten doch aufgelesen werden, während die Preußen und Kosaken zuerst an die ihren denken und uns Alle umkommen lassen würden.«
Auf den Sergeanten gab ich nicht mehr Acht. Ich beobachtete nur, wie die preußischen Kanoniere ihre Geschütze luden, richteten und abfeuerten, indem ich sie aus Herzensgrund verfluchte, und lauschte mit Entzücken auf die Rufe: »Es lebe der Kaiser!« die aus dem Thale heraufzuschallen begannen, und die in den Pausen zwischen den Kanonensalven deutlich zu vernehmen waren.
Nach zwanzig Minuten endlich begannen die Preußen und Russen zu weichen. Sie strömten in Masse durch die Gasse zurück, in der wir lagen, um sich auf dem Abhang festzusetzen. Die Rufe: »Es lebe der Kaiser!« näherten sich mehr und mehr. Die Kanoniere vor uns sputeten sich wie wahnsinnig, als drei oder vier Kugeln zwischen ihnen einschlugen, ein Rad zertrümmerten und sie mit Erde überschütteten. Ein Geschütz fiel auf die Seite, zwei Artilleristen waren getödtet, zwei andere verwundet. Da fühlte ich mich plötzlich beim Arm gepackt – ich wandte mich um und erblickte den alten Sergeanten, der, obschon halbtodt, mich anschaute und mit wilder Miene dabei lachte. Das Dach der Scheune sank zusammen, die Mauer bog und neigte sich, aber wir achteten nicht darauf. Wir sahen nur die Niederlage der Feinde und hörten unter all dem fürchterlichen Krachen und Donnern nur die immer näher und näher kommenden Rufe unserer Soldaten.
Plötzlich wurde der Sergeant weiß wie Kalk und rief:
»Da ist er.«
Und auf den Knieen sich nach vorn neigend, die eine Hand auf die Erde stützend und die andere erhebend, schrie er mit schallender Stimme:
»Es lebe der Kaiser!«
Dann fiel er mit dem Gesicht auf den Boden und rührte sich nicht mehr.
Und als ich mich, um zu sehen, ebenfalls nach vorn neigte, erblickte ich Napoleon, wie er, den Hut auf den dicken Kopf gedrückt, in seinem grauen, offenen Mantel und mit einem breiten, quer über die weiße Weste laufenden rothen Bande kalt und ruhig, wie beleuchtet vom starren Glanz der Bajonette, mitten unter dem Gewehrfeuer den Abhang heraufsprengte. Alles wich vor ihm. Die preußischen Kanoniere ließen ihre Kanonen im Stich und sprangen über die Gartenmauer, trotz der Rufe ihrer Officiere, die sie zurückhalten wollten.
Alle diese Umstände habe ich gesehen, und sie sind mit feurigen Zeichen in mein Gedächtniß eingegraben. Von jenem Momente ab erinnere ich mich aber keines Umstands mehr, denn in der sichern Hoffnung auf unsern Sieg hatte ich das Bewußtsein verloren und lag wie ein Todter unter all den andern Todten.