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6.

Am Morgen des 15. Januar 1813, während der Loosung, hätte man das Pfalzburger Rathhaus sehen müssen. Heut zu Tage bedeutet es schon etwas, bei der Ziehung zu verlieren und Eltern, Freunde, Geburtsort, Haus und Hof verlassen zu müssen, um, Gott weiß wo, das » Eins ... Zwei! Eins ... Zwei! ... Halt! ... Augen rechts ... Augen links ...gerade aus! ... Faßt's Gewehr an!« ... u.s.w. u.s.w. zu lernen. Ja, das ist schon etwas, aber man kommt doch zurück! Man kann sich mit einiger Sicherheit sagen: »In sieben Jahren werde ich mein altes Nest, meine Eltern, vielleicht auch meine Geliebte wiederfinden ... Ich werde dann die Welt gesehen und sogar Ansprüche auf die Stelle eines Forstgehülfen oder Gendarmen haben!« Das tröstet die Vernünftigen. Wenn man aber damals das Unglück hatte, bei der Loosung zu verlieren, so war Alles vorbei. Von Hundert kam oft nicht Einer zurück: der Gedanke, für ewig scheiden zu sollen, wollte einem beinahe nicht in den Kopf.

An jenem Tage also sollten zuerst die Burschen aus Harberg, Garburg und Vier-Winden, dann die Pfalzburger und endlich die Weschheimer und Mittelbronner loosen.

Ich war frühzeitig auf den Beinen und begann, beide Ellbogen auf den Werktisch gestützt, alle diese Leute, die vorübergingen, zu betrachten: die Burschen in ihren Blousen, die armen Alten in kleinen Röcken und Baumwollenmützen, die bedauernswerthen Mütter in wollenen Jacken und Röcken – Alle mit gebeugtem Rücken, verstörtem Gesichte und dem Stock oder dem Regenschirm unter dem Arme. Der Herr Unter-Präfect von Saarburg mit seinem silbergestickten Rockkragen und sein Secretär, die am Tage zuvor im Rothen Ochsen abgestiegen waren, sahen ebenfalls aus dem Fenster.

Gegen 8 Uhr setzte sich Herr Goulden, nachdem er gefrühstückt hatte, an die Arbeit. Ich hatte nichts vorgenommen und sah noch immer zu, als der Herr Bürgermeister Parmentier und sein Adjunct den Herrn Unter-Präfecten abholten.

Die Loosung begann gegen neun Uhr, und bald darauf hörte man die Clarinette des Pfeifer-Karl und die Geige des großen Andres auf der Straße. Sie spielten den Schweden-Marsch. Unter den Klängen dieses Liedes haben Tausende von armen Teufeln das alte Elsaß für immer verlassen. Die Ausgehobenen tanzten, schoben sich Arm in Arm vorwärts, schrieen, daß die Fensterscheiben klirrten, stampften mit dem Absatz auf den Boden und schwenkten ihre Hüte: sie suchten lustig zu scheinen, während sie den Tod im Herzen hatten – es ist ja Mode so. Und der große Andres, trocken, dürr und gelb wie Buchsbaumholz, glich mit seinem fettleibigen, pausbackigen Kameraden jenen Leuten, die Jemanden zum Kirchhof geleiten und dabei über gleichgültige Dinge reden.

Die Musik und das Geschrei stimmten mich traurig.

Eben hatte ich meinen Schwalbenschwanz angezogen und meinen Castor aufgesetzt, als plötzlich Tante Gredel und Katherine eintraten.

»Guten Morgen, Herr Goulden!« sagten sie. »Wir kommen wegen der Aushebung.«

Ich sah sofort, daß Katherine viel geweint hatte: ihre Augen waren ganz roth. Sie fiel mir gleich um den Hals, während ihre Mutter rings um mich herumging.

Herr Goulden fragte sie:

»Es muß bald Zeit sein für die jungen Burschen aus der Stadt?«

»Ja, Herr Goulden,« entgegnete Katherine mit schwacher Stimme. »Die Harberger sind schon fertig.«

»Schön ... Schön ... Nun, Joseph, es wird Zeit, daß du gehst,« bemerkte er. »Mach' dir aber keine Sorgen ... seid nur nicht ängstlich. Die Loosungen, seht ihr, sind nur noch der Form wegen da. Schon seit langer Zeit gewinnt man nicht mehr, und, wenn man gewinnt, wird man zwei oder drei Jahre später gefaßt: die Nummern sind alle schlecht! Wenn die Ersatz-Commission zusammentritt, werden wir sehen, was sich thun läßt. Heut zu Tage ist das Loosen eine Art Genugthuung, die man den Leuten giebt ... aber Jeder verliert.«

»Das ist egal,« sagte Tante Gredel, »Joseph wird gewinnen.« »Ja ...ja« ..., entgegnete Heer Goulden lächelnd, »das kann nicht fehlschlagen.«

Dann ging ich mit Katherine und der Tante fort, und wir begaben uns nach dem großen Platze, auf dem die Menge hin und her drängte. In allen Läden drängten sich die Ausgehobenen dutzendweise um die Tische, um Bänder zu kaufen. Man sah sie weinen, während sie dabei wie Besessene sangen. In den Wirthshäusern umarmten sich Andere unter Seufzern und Thränen, sangen dabei aber immerzu. Aus der Umgegend waren zwei oder drei Musikbanden, die Truppen Rosselkastens, Georg Adams und des Zigeuners Waldteufel herbeigekommen und mischten mit ohrzerreißendem, entsetzlichen Getöse ihre Melodien durch einander.

Katherine hatte mich beim Arm genommen. Tante Gredel ging hinter uns.

Schon von Weitem bemerkte ich dem Wachthause gegenüber den Hausirer Pinacle, der seinen Waarenballen auf einem kleinen Tische ausgebreitet hatte. Dicht daneben stand eine lange Stange, die ganz mit Bändern behängt war, welche er an die Rekruten verkaufte.

Ich beeilte mich, an ihm vorüber zu kommen, er aber schrie mir zu:

»He, Lahmer, halt doch ... halt! Komm her ...ich habe ein schönes Band für dich aufgehoben! ... Du brauchst ja das schönste, das der Leute, die gewinnen!«

Dabei schwenkte er eine große, schwarze Schleife über dem Kopfe. Ich wurde unwillkürlich blaß. Als wir aber die Treppe am Rathhause hinaufstiegen, kam gerade ein Ausgehobener herunter: es war Klipfel. der Schmied aus La Porte-de-France. Er hatte eben Nummer 8 gezogen und schrie schon von Weitem:

»Her das schwarze Band, Pinacle, das schwarze Band!.., Her damit! ... es koste, was es wolle!«

Sein Gesicht war düster und entstellt, aber er lachte. Sein kleiner Bruder Jean lief weinend hinter ihm her und rief:

»Nein, Jacob, nein, nicht das schwarze Band!«

Pinacle aber befestigte schon die Schleife am Hute des Schmieds, während dieser sagte:

»Das brauchen wir jetzt ... Wir sind Alle so gut wie todt und müssen uns betrauern!«

Und mit wüthender Stimme schrie er: »Es lebe der Kaiser!«

Es war mir lieber, das Band an seinem Hute zu sehen als an dem meinen, und ich glitt schnell unter die Menge, um Pinacle zu entgehen.

Wir hatten große Mühe, in das Rathhaus hinein und die alte, eichene Treppe hinaufzukommen, auf der die Leute wie in einem wirklichen Ameisenhaufen unaufhörlich hinauf- und herunterstiegen. In dem großen Saale oben ging der Gendarm Kelz hin und her, um so viel als möglich die Ordnung aufrecht zu erhalten. Im Rathszimmer daneben, wo die Gerechtigkeit mit einer Binde über den Augen abgebildet ist –hörte man die Nummern ausrufen. Von Zeit zu Zeit kam ein Stellungspflichtiger mit blutrothem Gesichte heraus, steckte seine Nummer an die Mütze und ging mit gesenktem Kopfe durch die Menge wie ein wüthender Stier, der nicht mehr recht sieht und sich die Hörner an der Wand zerschmettern möchte. Andere dagegen gingen todtenblaß vorüber. Die Fenster des Rathhauses standen offen, und man hörte draußen gleichzeitig die fünf oder sechs Musikbanden spielen: es war fürchterlich.

Ich nahm Katherine bei der Hand, und langsam gelangten wir durch die Menge in den Saal, wo der Herr Unter-Präfect, die Bürgermeister und die Secretäre von der für sie bestimmten Tribüne herab mit lauter Stimme die Nummern ausriefen, gerade wie man ein Urtheil verliest, denn alle diese Nummern waren wahre Todesurtheile.

Wir warteten lange. Als man endlich meinen Namen rief, hatte ich so zu sagen keinen Tropfen Blut mehr in den Adern.

Ich trat wie betäubt vor, steckte die Hand in die Urne und zog eine Nummer.

»Numero siebzehn!« rief der Herr Unter-Präfect.

Ohne ein Wort zu reden, ging ich fort. Katherine und die Tante folgten mir. Wir gingen hinunter auf den Platz, und als ich ein wenig frische Luft spürte, erinnerte ich mich, daß ich Nummer siebzehn gezogen hatte.

Tante Gredel schien bestürzt und verblüfft.

»Ich hatte dir doch etwas in die Tasche gesteckt,« bemerkte sie. »Aber dieser Halunke Pinacle hat dich behext.«

Dabei zog sie ein Ende Band aus meiner hintern Rocktasche. Mir liefen große Schweißtropfen von der Stirn herab, Katherine war ganz blaß, und so kehrten wir zu Herrn Goulden zurück.

»Welche Nummer hast du denn?« fragte mich dieser sofort.

»Siebzehn,« sagte die Tante, indem sie sich niedersetzte und die Hände auf die Knieen legte.

Einen Augenblick schien Herr Goulden bestürzt, dann aber sagte er:

»Die ist so gut wie eine andere ... es soll einmal Alles zu Felde ziehen ... die Reihen müssen gefüllt werden. Für Joseph hat das nichts zu bedeuten. Ich werde dem Herrn Bürgermeister und dem Herrn Platzcommandanten einen Besuch machen ... Nicht um ihnen etwas vorzulügen, sondern um sie darauf aufmerksam zu machen, daß Joseph lahm ist – die ganze Stadt weiß es, aber in der Eile könnte man es doch übersehen. Deshalb eben werde ich mit ihnen reden. Macht euch also keine Sorgen ... faßt wieder Muth.«

Diese Worte des guten Herrn Goulden beruhigten Tante Gredel und Katherine, die voller Hoffnung nach Vier-Winden zurückkehrten. Bei mir aber war es anders: seit jenem Augenblicke hatte ich Tag und Nacht keine ruhige Stunde mehr. –

Der Kaiser hatte eine gute Gewohnheit: er ließ die Ausgehobenen nicht zu Hause rosten. Gleich nach der Loosung kam die Ersatz-Commission und einige Tage später der Marschbefehl. Er machte es nicht wie jene Zahnbrecher, die erst ihre Zangen und Haken zeigen und einem stundenlang in den Mund sehen, so daß man die Kolik bekommt, ehe sie sich entschlossen haben: er handelte schlankweg und ohne Umstände.

Acht Tage nach der Loosung befand sich die Ersatz-Commission mit allen Ortsvorständen und einigen Vornehmen auf dem Rathhause, um vorkommenden Falls Auskunft zu ertheilen.

Am Tage vorher hatte Herr Goulden seinen kastanienbraunen Mantel angelegt und seine schöne Perrücke aufgesetzt, um die Uhren beim Herrn Bürgermeister und beim Herrn Platzcommandanten aufzuziehen. Mit heiterer Miene war er zurückgekommen und hatte zu mir gesagt:

»Die Sache macht sich ... Der Herr Bürgermeister und der Herr Commandant wissen recht gut, daß du hinkst – das ist auch klar genug, beim Teufel! Sie antworteten mir sofort: »Ei, Herr Goulden, der junge Mann ist lahm – wozu darüber reden? Seien Sie nur ganz ruhig. Wir brauchen keine Krüppel, sondern Soldaten.«

Diese Worte hatten mir Balsam ins Herz geträufelt, und ich schlief in jener Nacht wie ein Glückseliger. Doch am nächsten Morgen packte mich die Furcht wieder: ich stellte mir plötzlich vor, wieviel Leute, obgleich sie mit Körperfehlern behaftet und überhäuft waren, trotzdem auszogen, und wieviel andere niedrig genug dachten, dergleichen zu erfinden, um die Commission zu täuschen, indem sie schädliche Dinge verschluckten, um sich ein bleiches Aussehen zugeben, oder sich den Fuß unterbanden, um Krampfadern hervorzurufen, oder sich taub, blind oder schwachsinnig stellten. Und indem ich an all diese Dinge dachte, zitterte ich bei der Vorstellung, ich möchte nicht lahm genug sein, und beschloß, mir ebenfalls ein jämmerliches Aussehen zu geben. Ich hatte gehört, daß der Essig Leibschneiden verursacht, und verschlang daher in meiner Angst, ohne Herrn Goulden etwas davon zu sagen, den ganzen Essig, der sich in dem kleinen Fläschchen unserer Menage befand. Dann kleidete ich mich an; ich glaubte eine wahre Leichenfarbe zu haben, denn der Essig war sehr stark und arbeitete mir im Leibe herum. Kaum aber hatte Herr Goulden, als ich in sein Zimmer trat, mich angesehen, als er ausrief:

»Joseph, was hast du denn? Du bist ja roth wie ein Puter!«

Und nachdem ich mich im Spiegel betrachtet hatte, sah ich selbst, daß Alles bis zu den Ohren und bis zur Nasenspitze roth war. Nun erschrak ich allerdings, aber anstatt davon blaß zu werden, wurde ich nur noch röther und rief daher in heller Verzweiflung:

»Jetzt bin ich verloren! Ich werde aussehen wie ein Bursche, dem nichts fehlt, der sich sogar recht wohl befindet. Das macht der Essig, der mir zu Kopfe steigt.«

»Was für Essig?« fragte Herr Goulden.

»Der aus der Menage, den ich austrank, um blaß zu werden, wie dem Gerede nach Fräulein Sclapp, die Organistin, es thut. O Gott, was habe ich da für einen schlechten Einfall gehabt!«

»Nichtsdestoweniger wirst du doch lahm sein,« sagte Herr Goulden. »Aber du wolltest die Commission betrügen, und das ist nicht ehrenhaft! Doch da schlägt's eben neuneinhalb Uhr; Werner sagte mir gestern, du würdest um zehn Uhr vorkommen ... beeile dich also.«

Ich mußte mich also in diesem Zustande auf den Weg machen. Das Feuer des Essigs sprühte mir von den Backen. Als ich mit der Tante und Katherinen zusammentraf, die mich unter dem Thürbogen des Rathhauses erwarteten, erkannten sie mich kaum.

»Wie heiter und zufrieden du aussiehst!« sagte Tante Gredel.

Ich hätte beim Anhören dieser Worte sicherlich eine Ohnmacht bekommen, hätte der Essig mich nicht wider meinen Willen auf den Beinen erhalten. Ich stieg also in unbeschreiblicher Verwirrung die Treppe hinauf, ohne den Mund zu einer Antwort aufthun zu können, so sehr verabscheute ich meine eigene Dummheit.

Oben waren schon mehr als fünfundzwanzig Dienstpflichtige, die mit Fehlern behaftet zu sein vorgaben, genommen, und mehr als fünfundzwanzig andere, die auf einer längs der Wand angebrachten Bank saßen, starrten mit gesenktem Kopfe zu Boden und warteten, daß die Reihe an sie käme.

Der alte Gendarm Kelz mit seinem großen Dreimaster ging auf und ab. Sobald er mich erblickte, stand er wie bezaubert still und rief dann:

»Alabonnör! Das lasse ich mir gefallen! Da ist doch wenigstens einer, den's nicht kränkt, ins Feld zu ziehen! Die Ruhmbegierde blitzt ihm aus den Augen.«

Und indem er mir die Hand auf die Schulter legte, fügte er hinzu:

»Schön, Joseph ... ich prophezeie dir, daß du am Ende des Feldzugs Korporal sein wirst.«

»Aber ich bin ja lahm!« schrie ich entrüstet.

»Lahm!« entgegnete Kelz, indem er lächelte und mit den Augen zwinkerte, »lahm! Ganz egal, mit solchem Gesicht macht man immer seinen Weg.«

Kaum hatte er geendet, als der Saal der Aushebungs-Commission sich öffnete, Werner, der andere Gendarm, sich aus der Thür beugte und mit rauher Stimme rief:

»Joseph Bertha!«

Ich trat so viel als möglich hinkend ein, und Werner machte die Thür wieder zu. Die Bürgermeister und Schulzen des Cantons saßen im Halbkreise auf einfachen Stühlen, der Herr Unter-Präfect und der Herr Bürgermeister von Pfalzburg in der Mitte in Lehnsesseln, und der Secretär Frelig an seinem Tische. Ein Ausgehobener aus Harberg kleidete sich eben wieder an, der Gendarm Descarmes half ihm beim Anlegen der Hosenträger. Dieser Ausgehobene mit seinen langen, braunen, ins Gesicht hängenden Haaren, dem entblößten Halse und dem zum Seufzen geöffneten Munde hatte das Aussehn eines Menschen, der zum Galgen geführt wird. Zwei Aerzte, der Herr Stabsarzt vom Hospitale und ein anderer in Uniform, sprachen in der Mitte des Saales mit einander. Sie wandten sich nach mir um und sagten:

»Entkleiden Sie sich.«

Und ich entkleidete mich bis aufs Hemd, das Werner mir auszog. Die Uebrigen betrachteten mich.

Der Herr Unter-Präfect sagte:

»Ein gesunder Bursche.«

Diese Worte ärgerten mich, trotzdem aber antwortete ich höflich und bescheiden:

»Ich bin aber lahm, Herr Unter-Präfect.«

Die Aerzte musterten mich, und der Stabsarzt vom Hospitale, mit dem der Herr Platzcommandant ohne Zweifel von mir gesprochen hatte, sagte:

»Das linke Bein ist ein wenig kurz.«

»Bah!« entgegnete der andere, »es ist solide.«

Dann legte er mir die Hand auf die Brust und sagte:

»Der Körperbau ist gut. Husten Sie.«

Ich hustete so schwach als möglich, er aber fand dessenungeachtet, daß ich einen guten Brustton hätte, und fügte noch hinzu:

»Betrachten Sie einmal diese Gesichtsfarbe ... das ist gesundes Blut.« Da ich nun sah, daß man mich nehmen würde, wenn ich nichts sagte, erwiderte ich:

»Ich habe Essig getrunken.«

»Ah!« machte er. »Das beweist, daß Sie einen guten Magen haben, da Sie den Essig lieben.«

»Aber ich bin lahm!« rief ich ganz trostlos.

»Bah! machen Sie sich keine Sorge darüber,« entgegnete mir dieser Mensch. »Ihr Bein ist solid, ich sage gut dafür.«

»Das Alles hindert aber nicht,« sagte jetzt der Herr Bürgermeister, »daß der junge Mann von Jugend auf hinkt. Es ist das eine in ganz Pfalzburg bekannte Thatsache.«

»Zweifelsohne ist das linke Bein zu kurz,« fiel sogleich der Hospital-Arzt ein, »und das befreit vom Dienste.«

»Ja,« hob der Bürgermeister wieder an, »ich bin überzeugt, daß der Bursche einen weiten Marsch nicht aushalten würde. Bei der zweiten Etappe würde er liegen bleiben.«

Der erste Arzt erwiderte nichts mehr.

Schon glaubte ich mich gerettet, als der Herr Unter-Präfect mich fragte:

»Sie sind doch Joseph Bertha?«

»Ja, Herr Unter-Präfect,« entgegnete ich.

»Nun denn, meine Herrn,« fuhr er fort, indem er ein Schreiben aus seiner Brieftasche nahm, »hören Sie.«

Und er begann das Schreiben vorzulesen. Man erzählte in demselben, daß ich eine Wette eingegangen wäre, nach Zabern zu gehen und schneller zurückzukommen als Pinacle, daß wir den Weg zusammen in weniger als drei Stunden zurückgelegt, und daß ich gewonnen hätte.

Unglücklicherweise war das die Wahrheit! Dieser Halunke von Pinacle nannte mich immer »der Lahme,« und in meiner Wuth hatte ich mit ihm gewettet. Alle Welt wußte es, ich konnte also nicht das Gegentheil behaupten.

Da ich verwirrt und bestürzt dastand, sagte der erste Arzt zu mir: »Damit ist die Frage entschieden. Kleiden Sie sich wieder an.« Und indem er sich zu dem Secretär wandte, rief er:

»Tauglich für den Dienst!«

In fürchterlicher Verzweiflung kleidete ich mich wieder an.

Werner rief einen Andern. Ich gab auf nichts mehr Acht ... Irgend Jemand half mir in die Rockärmel. Plötzlich befand ich mich draußen auf der Treppe, und als Katherine mich fragte, was vorgegangen wäre, stieß ich einen schrecklichen Seufzer aus. Ich würde von oben herabgestürzt sein, hätte Tante Gredel mich nicht gehalten.

Wir gingen durch die Hinterthür hinaus und überschritten den kleinen Platz. Ich weinte wie ein Kind und Katherine ebenfalls. Unter der Markthalle standen wir im Schatten still und umarmten uns.

Tante Gredel schrie:

»Ha! die Banditen! ...jetzt nehmen sie sogar die Lahmen ... die Krüppel! Sie brauchen Alles! Mögen sie doch auch uns nehmen!«

Die Leute sammelten sich um uns an, und der Fleischer Sepel, der dort auf dem Scharren sein Fleisch zerhackte, sagte: »Um Himmels willen, Mutter Gredel, seien Sie still ... Man wäre im Stande, Sie einzusperren.«

»Nur zu, man sperre mich ein, man massakrire mich,« schrie sie. »Ich behaupte aber, die Männer sind Feiglinge, daß sie solche Scheußlichkeiten zulassen!«

Da aber der Stadt-Sergeant sich genähert hatte, gingen wir weinend weiter, bogen beim Café Hemmerle um die Ecke und traten in unsere Wohnung. Die Leute betrachteten uns aus den Fenstern und sagten sich: »Noch einer, der in den Krieg geht.«

Da Herr Goulden wußte, daß Tante Gredel und Katherine am Tage der Aushebung zum Essen kommen würden, hatte er aus dem »Goldenen Schaf« eine gefüllte Gans und zwei Flaschen guten Elsäßer Weins ins Haus bringen lassen. Er war überzeugt, daß man mich auf der Stelle entlassen würde – wie groß war daher seine Ueberraschung, als er uns Alle zusammen in solcher Trostlosigkeit hereintreten sah.

»Was ist das?« sagte er, indem er die seidene Mütze auf den kahlen Scheitel zurückschob und uns mit weit aufgerißnen Augen anschaute.

Ich war nicht im Stande, ihm Antwort zu geben; ich warf mich in den Lehnstuhl und brach in Thränen aus. Katherine setzte sich zu mir, legte den Arm um meinen Hals, und unser Schluchzen verdoppelte sich.

Tante Gredel aber sagte:

»Die Halunken haben ihn genommen.«

»Das ist nicht möglich!« rief Herr Goulden, dem die Arme am Leibe herabsanken.

»Ja, das ist das Schlechteste, was einer erleben kann.« sagte die Tante. »Das zeigt die Schändlichkeit dieser Menschen im hellsten Lichte.«

Und mehr und mehr sich ereifernd, rief sie:

»Es wird also keine Revolution mehr kommen! Diese Banditen werden also immer die Herrn sein!«

»Langsam, langsam, Mutter Gredel, beruhigen Sie sich,« sagte Herr Goulden. »Um Himmels willen, schreien Sie nicht so. Joseph, erzähle uns die Sache einfach und vernünftig. Sie haben sich getäuscht ... es ist gar nicht anders möglich ... Haben denn der Herr Bürgermeister und der Hospital-Arzt nichts gesagt?«

Seufzend erzählte ich die Geschichte mit dem Briefe. Tante Gredel, die noch nichts davon wußte, hob die geballten Fäuste auf und rief:

»O der Schurke! Gott gebe, daß er noch einmal zu uns kommt! ... ich schlage ihm mit dem Beil den Schädel ein!«

Herr Goulden war äußerst betroffen. »Wie?!« sagte er, »du hast nicht sofort gerufen, das wäre falsch?! Die Geschichte ist also wahr?«

Und da ich, ohne zu antworten, den Kopf senkte, fügte er mit gefalteten Händen hinzu:

»O, die Jugend, die Jugend! ... das denkt an nichts ... Welche Unklugheit! ... welche Unklugheit!«

Er ging dabei im Zimmer umher. Dann setzte er sich, um seine Brille zu putzen, und Tante Gredel sagte:

»Ja! aber sie sollen ihn trotzdem nicht haben ... ihre Bosheit soll ihnen nichts nutzen: schon heute Abend wird Joseph im Gebirge, auf dem Wege nach der Schweiz sein.«

Herr Goulden wurde ernst, als er diese Worte hörte. Er runzelte die Stirn, und nach Verlauf eines Augenblicks entgegnete er:

»Es ist ein Unglück ... ein großes Unglück ... denn Joseph ist wirklich lahm ... man wird das später einsehen ... er wird keine zwei Tage marschiren können, ohne zurückzubleiben und krank zu werden. Sie haben aber Unrecht, Mutter Gredel, solche Reden zu führen und ihm einen schlechten Rath zu geben.«

»Schlechten Rath?!« eiferte sie. »Sie wollen also auch die jungen Leute niedermetzeln lassen, Sie?«

»Nein,« entgegnete er, »ich liebe die Kriege nicht, namentlich nicht solche, bei denen Hunderttausende ihr Leben einbüßen zum Ruhme eines Einzigen. Diese Kriege aber sind jetzt vorüber. Nicht mehr, um Ruhm und Länder zu gewinnen, hebt man jetzt Soldaten aus – jetzt gilt es, das Vaterland zu vertheidigen, das Tyrannei und Ehrgeiz in schlimme Händel verwickelt haben. Jetzt wünscht man wohl den Frieden. Unglücklicherweise aber rücken die Russen vor, die Preußen verbinden sich mit ihnen, und unsere Freunde, die Oestreicher, warten nur auf eine gute Gelegenheit, um über uns herzufallen; wenn man ihnen nicht entgegenzieht werden sie zu uns kommen, denn wir werden wie Anno 93 ganz Europa auf dem Halse haben. Das ist also ganz etwas Anderes als unsere Kriege in Spanien, Rußland und Deutschland. Und ich selbst, so alt ich bin, Mutter Gredel – wenn die Gefahr zu wachsen fortfährt, und wenn man der Alten aus den Zeiten der Republik bedarf – ich würde mich schämen, in der Schweiz Uhren zu machen, während Andere ihr Blut vergößen, um mein Vaterland zu vertheidigen. Und dann merkt euch wohl: die Deserteure werden überall verachtet. Nachdem man einen solchen Streich begangen, hat man nirgends eine Stätte, hat man weder Vater noch Mutter, weder Heimat, noch Vaterland mehr ... Man hat sich selbst für unfähig erklärt, die erste seiner Pflichten zu erfüllen, die darin besteht, daß man sein Vaterland liebt und ihm hilft, selbst wenn es im Unrecht ist.«

Für den Augenblick sagte er nichts weiter und setzte sich mit ernster Miene an den Tisch.

»Laßt uns essen,« sagte er dann nach einem augenblicklichen Stillschweigen. »Da schlägt es gerade zwölf Uhr. Mutter Gredel und Katherine, setzt euch dorthin.«

Sie setzten sich, und wir aßen. Ich dachte über Herrn Gouldens Worte nach, die mir wohlbegründet und richtig schienen. Tante Gredel kniff die Lippen zusammen und blickte mich von Zeit zu Zeit an, nm meine Gedanken zu erforschen. Endlich sagte sie:

»Ich für mein Theil kümmere mich den Teufel um ein Land, wo man die Familienväter aushebt, nachdem man die jungen Burschen fortgeführt hat. Wenn ich in Josephs Stelle wäre, würde ich sofort davongehen.«

»Hören Sie, Tante Gredel,« erwiderte ich ihr, »Sie wissen, daß ich nichts so sehr liebe als Frieden und Ruhe, aber ich möchte nicht als Geächteter in andere Länder fliehen. Trotzdem aber werde ich thun, was Katherine will: befiehlt sie mir, nach der Schweiz zu gehen, so werde ich gehen!« ...

Da ließ Katherine den Kopf sinken, um ihre Thränen zu verbergen, und sagte ganz leise: »Ich will nicht, daß man dich Deserteur nennen könnte.«

»Gut denn, so mache ich es wie die Andern,« rief ich. »Da die Pfalzburger und Dagsburger in den Krieg ziehen, ziehe ich mit ihnen.«

Herr Goulden machte keine Bemerkung.

»Jeder ist frei.« sagte er, »doch freut es mich, daß Joseph gerade so denkt wie ich.«

Dann wurde es wieder still, und gegen zwei Uhr stand Tante Gredel auf und nahm ihren Korb. Sie schien niedergeschlagen und sagte:

»Joseph, du willst nicht auf mich hören, aber das ist gleich: mit Gottes Hilfe wird Alles das vorübergehen. Wenn Gott will, wirst du wiederkommen, und Katherine wird auf dich warten.«

Katherine warf sich an meine Brust und begann zu weinen, und ich noch mehr als sie, so daß selbst Herr Goulden Thränen vergießen mußte.

Endlich stiegen Katherine und ihre Mutter die Treppe hinunter, und die Tante rief mir von unten noch zu:

»Besuche uns ja noch zwei oder drei Mal, Joseph.«

»Ja, ja,« erwiderte ich, indem ich die Thür schloß.

Ich hielt mich nicht mehr auf den Beinen. Noch nie hatte ich mich so unglücklich gefühlt, und noch heute dreht sich mir das Herz im Leib herum, wenn ich daran denke.


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