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14.

Mitten in der Stille der Nacht erwachte ich wieder. Wolkengestalten zogen über den Himmel, und der Mond schaute auf das verödete Dorf, die umgestürzten Kanonen und die aufgehäuften Leichen herab, wie er seit Anbeginn der Welt auf das plätschernde Wasser, das sprossende Gras und im Herbst auf die fallenden Blätter herabschaut. Die Menschen sind nichts im Vergleich zur unvergänglichen Natur – das begreifen die Sterbenden besser als Andere.

Ich konnte mich nicht rühren und empfand heftige Schmerzen. Nur mein rechter Arm war beweglich. Dennoch gelang es mir, mich auf dem Ellbogen aufzurichten, und ich sah nun bis tief in die Straße hinein die aufgehäuften Leichen. Der Mond goß sein bleiches Licht auf sie herab; sie waren weiß wie Schnee. Einige hatten Mund und Augen weit offen stehen, andere lagen, die Patrontasche und den Tornister auf dem Rücken, die Hand fest an das Gewehr geklammert, mit dem Gesicht auf der Erde. Ich sah das in fürchterlicher Deutlichkeit, und die Zähne klapperten mir vor Grausen und Entsetzen.

Ich wollte Hilfe rufen, vernahm aber nur einen schwachen Laut wie den Ruf eines schluchzenden Kindes und sank verzweifelnd wieder zusammen. Aber der schwache Schrei, den ich in der Stille ausgestoßen hatte, rief nach und nach andere hervor, und das verbreitete sich nach allen Seiten: alle Verwundeten glaubten Hilfe kommen zu hören, und wer noch klagen konnte, rief. Dies Geschrei dauerte einige Minuten lang, dann wurde Alles wieder still, und ich hörte nur noch das langsame Schnauben eines Pferdes, das in meiner Nähe hinter der Hecke lag. Es wollte sich aufrichten, und ich sah, wie es den Kopf an dem langen Halse emporhob, dann fiel es wieder zurück.

Infolge der Anstrengung, die ich gemacht hatte, hatte meine Wunde sich wieder geöffnet, und ich fühlte von Neuem das Blut unter meinem Arm hervorrieseln. Ich schloß nun die Augen, um zu sterben, und alle längst vergangenen Begebenheiten aus den Tagen meiner ersten Kindheit – die Gegenstände im Dorfe, als meine arme Mutter mich noch in ihren Armen schaukelte und mich mit Wiegenliedern einschläferte, die kleine Stube, der alte Alkoven, unser Hund Pommer, der mit mir spielte und mich auf der Erde hin und her rollte, der Vater, der Abends mit der Axt auf der Schulter heiter nach Hause kam und mich in seine breiten Hände nahm und mich küßte – all dieser Dinge erinnerte ich mich wie eines Traums.

»O arme Mutter ... armer Vater!« ... dachte ich, »wenn ihr gewußt hättet, daß ihr euer Kind mit so viel Liebe und Mühe erzogt, nur, damit es eines Tages elend umkomme, allein, fern von aller Hilfe! ... wie würdet ihr trostlos gewesen sein, wie würdet ihr denen geflucht haben, die es in diesen Zustand versetzten! ... Ach! wenn ihr nur da wäret! ... wenn ich euch nur um Verzeihung bitten könnte für die Noth und die Mühe, die ich euch verursacht habe!«

Und bei diesem Gedanken flossen Thränen über mein Gesicht, und Wehmuth schwellte meine Brust – lange schluchzte ich leise in mich hinein.

Auch Katherine, Tante Gredel und der gute Herr Goulden kamen mir bald in den Sinn, und das war entsetzlich! meine Vorstellungen glichen einem Schauspiel, das sich unter euren Augen zuträgt: ich sah ihr Staunen und ihre Befürchtungen, indem sie die Nachricht von der großen Schlacht vernahmen, sah, wie Tante Gredel täglich die Heerstraße entlang ging, um zur Post zu eilen, während Katherine sie betend erwartete, sah, wie Herr Goulden allein in seinem Zimmer saß und in der Zeitung las, daß das dritte Armeecorps mehr gelitten habe als die übrigen, wie er mit gesenktem Kopfe in der Stube auf und ab ging und sich spät und nachdenklich an den Werktisch setzte. Meine Seele war bei ihnen in der Heimat: sie wartete gewissermaßen mit Tante Gredel vor der Post, sie kehrte niedergeschlagen mit ihr in das Dorf zurück, sie sah Katherine in ihrer Verzweiflung.

Dann ging eines Morgens der Briefbote Rödig mit seiner Blouse und seinem kleinen Lederränzel nach Vier-Winden. Er öffnete die Thür der Hausflur und reichte Tante Gredel, die ganz bestürzt war, ein großes Papier. Katherine stand hinter ihr, blaß wie eine Leiche – es war mein Todtenschein, der da eben angekommen war. Ich hörte das herzzerreißende Schluchzen Katherinens, die auf die Erde niedergesunken war, und die Verwünschungen Tante Gredels, deren graues Haar sich aufgelöst hatte, wie sie schrie, daß es keine Gerechtigkeit mehr gebe ... daß es für die braven Leute besser wäre, gar nicht auf Erden zu sein, da Gott sie verlasse! ... Der gute Vater Goulden kam, um sie zu trösten. Aber als er hereintrat, begann er wie sie zu schluchzen, und Alle weinten in unbeschreiblicher Betrübniß und riefen:

»O armer Joseph! armer Joseph!«

Das zerriß mir das Herz.

Dann fiel mir ein, daß dreißig- oder vierzigtausend Familien in Frankreich, Rußland und Deutschland dieselbe Nachricht empfangen würden, und daß sie da zuweilen noch schrecklicher sein müßte, da eine große Anzahl von den Unglücklichen, die hier auf dem Schlachtfeld ausgestreckt lagen, noch Vater und Mutter hatte. Ich stellte mir das wie einen Fluch vor, einen ungeheuren Verzweiflungsschrei des Menschengeschlechts, der zum Himmel aufsteigt.

Da erinnerte ich mich auch jener armen Pfalzburger Frauen, die bei dem großen Rückzug aus Rußland in der Kirche beteten, und begriff jetzt, was damals in ihren Seelen vorging! ... Ich dachte daran, daß auch Katherine bald dorthin eilen, und daß sie jahrelang beten und meiner gedenken würde ... Ja, das war mein Gedanke, denn ich wußte, daß wir einander seit unserer Kindheit liebten, und daß sie mich nie würde vergessen können. Meine Rührung war so groß, daß mir unaufhörlich die Thränen über die Backen flossen. Und doch that es mir wohl, solches Vertrauen zu ihr im Herzen zu haben, und überzeugt zu sein, daß sie ihre Liebe bis ins Greisenalter bewahren, mich immer vor Augen haben und keinen Andern zum Manne nehmen würde.

Gegen Morgen begann der Thau zu fallen. Dies laute, eintönige Geräusch auf den Dächern, im Garten und auf der Gasse belebte die Stille. Ich dachte an Gott, der seit Anbeginn der Zeiten immer dasselbe thut, dessen Macht ohne Grenzen ist, und der die Sünden vergiebt, weil er allgütig ist, und ich hoffte, er würde auch mir vergeben in Anbetracht meiner Leiden.

Da der Thau stark war, füllte er schließlich die kleine Wasserrinne an. Von Zeit zu Zeit hörte man im Dorfe eine Mauer einstürzen, ein Dach zusammenbrechen. Die Thiere, welche der Schlachtlärm scheu gemacht hatte, schöpften wieder Vertrauen und kamen beim Grauen des Tages hervor. In dem benachbarten Stalle meckerte eine Ziege, und ein großer Schäferhund schlich mit hängendem Schweife umher und musterte die Todten. Das Pferd begann bei seinem Anblick fürchterlich zu schnauben: vielleicht hielt es ihn für einen Wolf, und der Hund entfloh.

Ich erinnere mich aller dieser Einzelheiten, weil man im Augenblick des Sterbens Alles sieht, Alles hört. Man sagt sich gewissermaßen: »Sieh und höre ... denn bald siehst und hörst du nichts mehr in dieser Welt!«

Noch weit besser aber ist mir das im Gedächtniß geblieben – und ich könnte es nie vergessen, wenn ich auch hundert Jahr alt würde! – als ich in der Ferne ein Geräusch von Stimmen zu vernehmen glaubte. O wie munter wurde ich da! wie lauschte ich! ... wie richtete ich mich auf dem Ellbogen auf, um »Hilfe!« zu rufen ... Es war noch Nacht, doch schon erhellte ein bleicher Tagesschimmer den Himmel. In weiter Ferne schwankte im Regen, der die Luft durchkreuzte, ein Licht durch die Felder, hier und dort Halt machend, und dann sah ich schwarze Gestalten sich bewegen und sich niederbeugen. Es waren nur formlose Schatten, aber auch Andere sahen das Licht, denn von allen Seiten stiegen jetzt Seufzer auf, Klagerufe, Laute, die so schwach waren, das man sie hätte für das Schluchzen kleiner Kinder halten können, die nach ihren Müttern rufen.

Mein Gott, was ist das Leben? Woraus besteht es, daß man einen so großen Werth darauf legt? Warum fürchten wir denn mehr als Alles in der Welt den Verlust dieses elenden Odems, der uns doch so viel Thränen und Leiden verursacht? Was ist uns denn vorbehalten, daß bei dem geringsten Anlaß zur Todesfurcht Alles in uns schaudert und bebt?

Wer weiß es? Seit Jahrtausenden streiten sich die Menschen darüber, Alle denken darüber nach, und Niemand kann es sagen.

Ich in meiner Lebensgier betrachtete das Licht, wie der Ertrinkende das Ufer betrachtet ... krampfhaft hielt ich mich aufrecht, um es mit dem Blick zu verfolgen, und mein Herz bebte vor Hoffnung. Ich wollte rufen – kein Laut kam über meine Lippen: das Rauschen der fallenden Tropfen in den Bäumen und auf den Dächern verschlang jeden Ton. Und trotzdem sagte ich zu mir: »Sie hören dich ... sie kommen!« ... Es schien mir, als sähe ich die Laterne den Fußsteig im Garten heraufkommen und das Licht bei jedem Schritte größer werden. Aber nachdem es einige Minuten auf dem Schlachtfelde umhergeirrt war, stieg es allmählich in eine Terrainsenkung hinunter und verschwand.

Besinnungslos fiel ich wieder zu Boden.


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