Alexander Dumas
Die drei Musketiere
Alexander Dumas

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Die Flucht

Wie es Lord Winter gedacht hatte, so war Myladys Wunde nicht gefährlich; als sie mit der Frau allein war, die der Baron gerufen hatte und die sie entkleidete, öffnete sie die Augen wieder. Indes mußte man Schwachheit und Schmerz heucheln; und das war für eine Schauspielerin wie Mylady keine Schwierigkeit. Auch ward die arme Frau von der Gefangenen in der Art betört, daß sie ungeachtet aller Gegenvorstellungen darauf beharrte, die ganze Nacht bei ihr zu wachen. Aber die Anwesenheit dieser Frau störte Mylady in ihren Gedanken nicht. Es gab keinen Zweifel mehr, Felton war überzeugt, Felton gehörte ihr. Gegen vier Uhr traf der Arzt ein, allein in der Zwischenzeit hatte sich Myladys Wunde wieder geschlossen; somit konnte der Arzt weder ihre Richtung, noch ihre Tiefe ermessen. Er fühlte nur an dem Pulse der Kranken, daß der Fall nicht von Bedeutung war. Am Morgen entließ Mylady die Frau, die bei ihr wachte, unter dem Vorwand, sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen, und habe jetzt Ruhe nötig. Sie gab der Hoffnung Raum, daß Felton beim Frühmahl erscheine, allein er kam nicht. Waren ihre Besorgnisse in Erfüllung gegangen? Sollte ihr Felton, von dem Baron in Verdacht gezogen, in diesem Moment fehlen? Sie hatte nur noch einen Tag. Lord Winter verkündete ihr die Einschiffung auf den dreiundzwanzigsten und man war bereits am Morgen des zweiundzwanzigsten. Nichtsdestoweniger wartete sie noch duldsam bis zur Mittagsstunde. Wiewohl sie am Morgen nichts genossen hatte, wurde doch das Mittagmahl zur gewöhnlichen Stunde aufgetragen. Mylady bemerkte mit Schrecken, daß sich die Uniform der wachhabenden Soldaten verändert habe. Jetzt wagte sie es zu fragen, was mit Felton geschehen sei. Man gab ihr zur Antwort: »Felton habe sich vor einer Stunde zu Pferde gesetzt und sei fortgeritten.« Sie erkundigte sich, ob der Baron noch immer im Schlosse sei. Der Soldat bejahte diese Frage mit dem Bemerken, er habe den Auftrag erhalten, es ihm zu melden, wenn die Gefangene mit ihm sprechen wollte. Mylady erwiderte, für den Augenblick wäre sie zu schwach und möchte gern allein bleiben. Felton war fort, die Seesoldaten abgelöst; also mißtraute man Felton. Das war der letzte Schlag für die Gefangene. Um sechs Uhr kam Lord Winter, bis an die Zähne bewaffnet. Dieser Mann, in dem Mylady vordem nur einen feinen, artigen Edelmann gesehen, war ein merkwürdiger Kerkermeister geworden. Er schien alles zu ahnen, alles zu erraten, allem zuvorzukommen. Ein einziger Blick, den er auf Mylady geworfen, sagte ihm, was in ihr vorging. »Wohlan,« sprach er, »doch heute werdet Ihr mich noch nicht töten; Ihr habt keine Waffen mehr, und außerdem bin ich auf meiner Hut. Ihr hattet bereits angefangen, meinen armen Felton zu umgarnen; er verspürte schon Euren höllischen Einfluß, allein ich will ihn retten, er wird Euch nicht mehr sehen. Alles ist vorüber. Bindet Eure Siebensachen zusammen, morgen reiset Ihr ab. Ich hatte die Abfahrt für den dreiundzwanzigsten festgesetzt, allein je näher die Sache gerückt wird, um so sicherer ist sie. Morgen mittag ist Euer Verhaftungsbefehl von Buckingham unterfertigt in meiner Hand. Redet Ihr ein einziges Wort zu irgend jemandem, ehe Ihr auf dem Schiffe seid, so jagt Euch laut Befehl mein Sergeant eine Kugel durch den Kopf. Redet Ihr ein einziges Wort auf dem Schiff, ehe es der Kapitän erlaubt, so läßt Euch dieser ins Meer hinausschleudern, das ist schon abgemacht. Auf Wiedersehen; das hatte ich Euch heute mitzuteilen, morgen sehe ich Euch wieder, um Euch mein Lebewohl zu sagen.«

Nach diesen Worten ging der Baron wieder fort. Mylady hörte diese ganze, bedrohliche Tirade an mit einem Lächeln auf den Lippen und mit Wut im Herzen. Man brachte das Abendbrot. Mylady fühlte, daß sie Kräfte nötig habe. Sie wußte nicht, was in dieser Nacht, die so drohend heranrückte, geschehen konnte; denn schwere Wolken jagten am Himmel, und ferne Blitze deuteten auf Sturm. Gegen zehn Uhr abends brach der Sturm auch wirklich los. Mylady fand darin einen Trost, daß die Natur die Zerrüttung ihres Herzens teilte. Der Donner dröhnte in der Luft, wie der Ingrimm in ihrer Seele. Es kam ihr vor, als ob der Wind über ihre Stirn hinbrauste, wie über die Bäume, deren Äste er beugte, und deren Blätter er fortriß: sie heulte wie der Orkan, und ihre Stimme verlor sich in der großen Stimme der Natur, die gleichfalls zu seufzen und zu verzweifeln schien. Sie betrachtete von Zeit zu Zeit einen Ring, den sie am Finger trug. Der Kasten dieses Ringes enthielt ein feines, heftiges Gift; das war ihre letzte Zuflucht. Auf einmal hörte sie an einer Fensterscheibe pochen, und bei dem Schein eines Blitzes bemerkte sie hinter dem Gitter ein männliches Gesicht. Sie eilte zum Fenster, machte es auf und rief: »Felton! ich bin gerettet!« »Ja,« sprach Felton, »doch stille, stille. Ich habe einige Zeit nötig, um diese Gitterstangen zu durchsägen. Haben Sie acht, daß man Sie nicht durch das Türgitter bemerke.« »O, Felton, das beweist, daß der Herr für uns ist,« sagte Mylady; »man hat das Gitter mit einem Brett vernagelt.« »So ist es recht,« versetzte Felton, »Gott hat sie der Sinne beraubt.« »Doch, was habe ich zu tun?« fragte Mylady. »Nichts, nichts! machen Sie nur dieses Fenster wieder zu. Gehen Sie schlafen, oder legen Sie sich wenigstens ganz angekleidet in das Bett. Wenn ich fertig bin, klopfe ich an die Scheibe. Können Sie mir aber folgen?« »O ja!« »Ihre Verwundung?« »Verursacht mir wohl Schmerz, hindert mich aber nicht am Gehen.« »Machen Sie sich also bereit auf den ersten Wink.« Mylady machte das Fenster zu, verlöschte die Lampe und streckte sich auf das Bett, wie es ihr Felton empfohlen hatte. Mitten unter dem Brausen des Sturmes vernahm sie das Scharren der Feile an der Stange, und bei dem Schein jedes Blitzes bemerkte sie hinter dem Schein Feltons Schatten. Sie brachte schweratmend eine Stunde zu, Schweiß auf der Stirn, das Herz von schrecklicher Angst beklommen bei jedem Geräusch im Korridor. Nach Verlauf einer Stunde pochte Felton aufs neue. Mylady sprang aus ihrem Bett und schloß auf; zwei durchsägte Spangen bildeten eine Öffnung, so daß ein Mensch hindurch konnte. »Sind Sie bereit?« fragte Felton. »Ja; habe ich etwas mit mir zu nehmen? Zum Glück ließ man mir das, was ich hatte.« »Um so besser, denn ich verwendete das meinige, um ein Schiff zu mieten.« »Nehmen Sie,« sagte Mylady und legte in Feltons Hände eine Börse voll Gold. Felton nahm die Börse und warf sie zum Fuß der Mauer. »Wollen Sie jetzt kommen?« fragte er. »Hier bin ich schon.« Mylady stieg auf einen Stuhl und schlüpfte mit dem ganzen Oberleib durch das Fenster. Sie sah, daß der junge Offizier über einem Abgrund auf einer Strickleiter stand. Sie ward durch eine Bewegung des Schreckens zum erstenmal daran erinnert, daß sie ein Weib sei. Es graute ihr vor der Tiefe des Abgrunds. »Das habe ich gedacht,« sprach Felton. »Es ist nichts,« versetzte Mylady, »ich will mit geschlossenen Augen hinabsteigen.« »Setzen Sie Vertrauen in mich?« fragte Felton. »Wie können Sie so fragen!« »Reichen Sie Ihre beiden Hände, kreuzen Sie dieselben; so ist's gut.« Felton band ihr mit seinem Sacktuch die zwei Faustgelenke zusammen, und wickelte darüber einen Strick. »Was tun Sie da?« fragte Mylady betroffen. »Schlingen Sie die Arme um meinen Hals und seien Sie ohne Angst.« »Doch Sie werden durch mich das Gleichgewicht verlieren und wir fallen beide in den Abgrund.« »Seien Sie ruhig, ich bin ein Seemann.« Es war keine Sekunde zu verlieren; Mylady schlang ihre Arme um Feltons Nacken und ließ sich aus dem Fenster gleiten. Felton stieg allgemach von Sprosse zu Sprosse hinab. Der Orkan schaukelte die zwei Körper ungeachtet ihrer Schwere in der Luft. Auf einmal hielt Felton an. »Was ist's?« fragte Mylady. »Still,« flüsterte Felton, »ich höre Tritte.« »Wir sind entdeckt!« Es ward wieder ein Weilchen stille. »Nein,« sagte Felton, »es ist nichts.« »Doch was für ein Geräusch ist denn das?« »Das ist die Patrouille auf ihrer Runde.« »Wo ist die Runde?« »Gerade unter uns.« »Sie wird uns entdecken.« »Wenn keine Blitze zucken, nicht.« »Sie wird unten an die Leiter stoßen.« »Zum Glück ist diese um sechs Fuß zu kurz.« »Mein Gott, da sind sie!« »Stille!« Beide blieben zwanzig Fuß über der Erde schweben, ohne Atem zu holen. Inzwischen gingen die Soldaten unter ihnen lachend und schwätzend weiter. Für die Flüchtlinge war das ein schreckenvoller Augenblick. Die Patrouille schritt vorüber; man vernahm, wie ihre Tritte stets entfernter verhallten und das Gemurmel ihrer Stimmen stets schwächer wurde. »Jetzt sind wir gerettet,« sagte Felton. Mylady stieß einen Seufzer aus und wurde ohnmächtig. Felton fing wieder an tiefer zu steigen. Als er unten an der Leiter ankam, und für seine Füße keine Stütze mehr fühlte, klammerte er sich mit den Händen an, und als er bei der letzten Sprosse anlangte, ließ er sich an dem Handgelenk herab, und kam so auf die Erde. Er bückte sich, hob die Geldbörse auf und faßte sie zwischen die Zähne. Hierauf faßte er Mylady unter die Arme und ging rasch fort in entgegengesetzter Richtung von jener, welche die Patrouille genommen hatte. Er verließ alsbald den Rundgang, kletterte zwischen den Felsen hinab und ließ einen scharfen Ton mit der Pfeife hören, als er ans Meeresufer kam. Ein ähnliches Signal gab Antwort, und fünf Minuten darauf sah er einen Mann auf einer Barke heranrudern. »Zur Schaluppe!« rief Felton, »und schnell vorwärts!« Die vier Männer fingen an zu arbeiten, allein die See ging zu hoch, als daß sie viel auszurichten vermocht hätten. Zum wenigsten entfernte man sich vom Schloß, und das war die Hauptsache. Die Nacht hüllte Wasser und Land in tiefe Dunkelheit, und schon konnte man von der Barke aus das Ufer nicht mehr wahrnehmen, wonach die Barke vom Ufer aus noch schwerer zu bemerken war. Ein schwarzer Punkt schwankte auf der See. Das war die Schaluppe. Indes die Barke unter dem kräftigen Ruderschlag der vier Männer vorwärtsrückte, band Felton den Strick und das Taschentuch los, welche Myladys Hände zusammenschnürte. Als er ihre Hände befreit hatte, schöpfte er Seewasser und spritzte ihr davon ins Angesicht. Mylady stieß einen Seufzer aus und rief dann: »Ha, wo bin ich?« »Gerettet!« antwortete der junge Offizier. »O, gerettet,« stammelte sie, »gerettet! Ja, hier ist der Himmel, hier ist das Meer! Die Luft, die ich atme, ist die Freiheit. Ha, Dank, Felton, tausend Dank!« Der junge Mann preßte sie an sein Herz. »Doch was habe ich denn an den Händen?« fragte Mylady; »es ist, als hätte man sie mir in einen Schraubenstock gepreßt.« Mylady erhob die Arme; die Handgelenke waren wirklich gequetscht. »Ach!« seufzte Felton, indem er die schönen Hände anblickte und schmerzvoll den Kopf hin und her wiegte. »O, es ist nichts,« sagte Mylady, »es ist nichts; jetzt erinnere ich mich wieder.« Sie ließ ihre Augen herumkreisen. »Er ist hier,« sagte Felton und stieß mit dem Fuß an den Säckel des Goldes. Man näherte sich der Schaluppe. Der Matrose von der Wache rief die Barke an. Die Barke gab Antwort. »Was für ein Schiff ist das?« fragte Mylady. »Das, welches ich für Sie gemietet habe.« »Wohin wird es mich führen?« »Wohin Sie wünschen, nur müssen Sie mich in Portsmouth ans Land setzen.« »Was wollen Sie tun in Portsmouth?« fragte Mylady. »Die Aufträge des Lord Winter vollziehen,« erwiderte Felton düster lächelnd. »Welche Aufträge?« »Sie erraten nicht?« »Nein, ich bitte, erklären Sie sich.« »Aus Mißtrauen gegen mich wollte er Sie selbst bewachen, und schickte mich fort, daß ich Ihren Deportationsbefehl von Buckingham unterfertigen lasse.« »Doch wenn er Ihnen mißtraute, wie konnte er Ihnen diesen Auftrag geben?« »Konnte er denn glauben, daß ich darum wisse, was ich trage, da er mir nichts davon sagte, und ich das Geheimnis bloß von Ihnen habe?« »Das ist wahr, und Sie gehen nach Portsmouth?« »Ich habe keine Zeit zu verlieren; morgen ist der Dreiundzwanzigste und Buckingham segelt morgen mit der Flotte ab.« »Er segelt morgen ab, und wohin?« »Nach La Rochelle.« »Er soll nicht absegeln,« rief Mylady und vergaß auf ihre gewöhnliche Geistesgegenwart. »Seien Sie unbekümmert,« sagte Felton, »er wird nicht absegeln.« Mylady zitterte vor Freude; sie las tief im Herzensgrund des jungen Mannes, der Tod Buckinghams stand mit allen Buchstaben darin geschrieben. »Felton,« sprach sie, »Sie sind groß wie Judas Makkabäus. Wenn Sie sterben, so sterbe ich mit Ihnen; das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.« »Still,« sagte Felton, »wir sind angelangt.« Man hatte wirklich die Schaluppe erreicht. Felton kletterte zuerst die Leiter hinan, und bot Mylady die Hand, indes sie die Matrosen unterstützten, denn die See ging noch hoch. Einen Augenblick danach waren sie auf dem Verdeck. »Kapitän!« fügte Felton, »das ist die Person, von der ich mit Ihnen gesprochen habe, und die Sie gesund und wohlbehalten nach Frankreich führen sollen. »Gegen tausend Pistolen,« versetzte der Kapitän. »Ich habe Ihnen bereits fünfhundert gegeben.« »Allerdings«, entgegnete der Kapitän. »Und hier sind die andern fünfhundert,« sagte Mylady und fuhr mit der Hand in den Goldsäckel. »Nein,« antwortete der Kapitän, »ich habe nur ein Wort, und dieses gab ich dem jungen Manne; die andern fünfhundert Gulden ist man mir erst schuldig, wenn wir in Boulogne landen.« »Und wir werden landen?« »Gesund und wohlbehalten,« versetzte der Kapitän, »so wahr ich Jack Buttler heiße.« »Gut,« sagte Mylady, »wenn Sie Ihr Wort erfüllen, will ich Ihnen nicht fünfhundert, sondern tausend Pistolen geben.« »Dann, Hurra, schöne Dame!« rief der Kapitän, »und Gott schicke mir häufige Kunden wie Ew. Herrlichkeit.« »Indes steuern Sie uns nach der kleinen Bucht von Chichester,« sprach Felton, »in der Nahe von Portsmouth; Sie wissen, wir sind dahin übereingekommen.« Der Kapitän antwortete damit, daß er Befehl zu dem notwendigen Manöver gab, und um sieben Uhr abends schon warf das kleine Fahrzeug in der benannten Bucht den Anker aus. Man kam überein, daß Mylady um zehn Uhr Felton erwarten sollte, kehrte er um zehn Uhr nicht zurück, so sollte sie fortsegeln. Für den Fall, daß er frei sei, sollte er mit ihr in Frankreich zusammenkommen, und zwar im Klöster der Karmeliterinnen zu Bethune.


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