Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Als die Sonne am Horizonte verschwunden war, stand der Mond bereits am Himmel und beleuchtete den gewundenen, an den unregelmäßigen Ufern eines Bergsees hinführenden, von blühenden Kirschbäumen bestandenen Pfad, den die Reisenden jetzt zu verfolgen hatten, bis plötzlich, bei einer Biegung des Weges, Tante Sara in vergnügtem Tone ausrief: »Sieh, Honor, da vor uns endlich die Lichter des Posthauses! Du wirst dich gewiß ebenso freuen, was zu essen zu bekommen, wie ich!«

Auch die beiden Männer, die in der Veranda des Posthauses saßen, würden für die Aussicht auf eine ordentliche Mahlzeit sehr dankbar gewesen sein; aber eine solche Aussicht schien leider nicht vorhanden, denn das Haus war mit Soldaten und Soldatenweibern überfüllt und die Küche war durch den Ehrfurcht gebietenden Koch einer Burra mem Sahib Burra mem Sahib -- eine mächtige, gebietende Frau, Europäerin. (Anmerk. d. Uebers.), deren Ankunft man jeden Augenblick erwartete, in Beschlag genommen. Der Hunger einiger gleichgültiger Reisenden kam dagegen nicht in Betracht.

Diese Reisenden waren allerdings Hauptmann Waring und Mark Jervis, der von dem ersteren stets als »mein Cousin« vorgestellt und bezeichnet wurde, obgleich Mark sich anfänglich gegen diese nahe Verwandtschaft aufgelehnt hatte.

»Ich bin beinahe toll vor Hunger,« brummte Waring. »Habe seit zehn Stunden nichts gegessen, als ein hartgesottenes Ei.«

»Ich rate Ihnen, es zu machen, wie die Inder, wenn sie Hunger und nichts zu essen haben, nämlich zu rauchen,« entgegnete der andre ohne ein Zeichen von Mitgefühl. »Im übrigen können Sie ja Ihren Leibgurt etwas fester schnallen. Ein bißchen Hungern wird Ihnen aber auch gar nicht schaden. Sie werden zu fett.«

»Ich möchte wissen, ob die erwartete gute Dame uns etwas zu essen gäbe, wenn ich mich auf die Treppenstufen setzte und mir eine Tafel mit der Inschrift: ›Ich sterbe Hungers‹ um den Hals hinge,« fuhr Waring fort. »Hunger ist schon an und für sich eine schlimme Sache; aber der köstliche Duft ihres Hammelbratens vermehrt noch die Pein.«

»Ich glaube, Sie brauchen sich ihr nur zu zeigen, um sofort zu Tische geladen zu werden, denn ich höre, die Dame ist die Gastfreundschaft selbst und hält den besten Koch hier im Gebirge.«

»Und woher haben Sie diese schätzbaren Nachrichten?«

»Von dem jungen Windbeutel, der heute nachmittag hier vorüberkam. Ich habe nur vergessen, mir den Namen der Dame sagen zu lassen.«

»Aber da kommt sie ja schon in eigener Person!« rief Waring, Mark unterbrechend. »Die ganze Dienerschaft gerät ja in Aufregung. Sie muß wirklich eine wichtige Person sein und hat bereits meine ganze Hochachtung. Wenn sie mich zu Tische bittet, werde ich in Liebe für sie entbrennen. Wie steht es mit Ihnen, Mark?«

»Ich an Ihrer Stelle würde es viel leichter finden, mich in die junge Dame zu verlieben!«

»Wie können Sie denn aus dieser Entfernung und bei dieser Beleuchtung sehen, daß eine junge Dame dabei ist? Dazu gehören Katzenaugen.«

»Katzenaugen habe ich nicht, aber gute Ohren. Ich hörte vorhin, wie der Koch dem Khitmatgar (Diener) sagte, daß das eine Gedeck für die Miß Sahib sei.«

»Es geht nichts über einen guten Beobachter!« rief Waring. »Und da sind sie ja!« fuhr er leiser fort, als die Träger Mutter Brande eben mit lautem Aufatmen niedersetzten.

Die Dame stieg mit langsamen, gewichtigen Schritten die Treppe zur Veranda herauf, streifte das verhungerte Paar mit einem flüchtigen Blicke und begab sich in ihr Zimmer, wo ein zierlich gedeckter, mit blühenden Kirschzweigen geschmückter Tisch sie erwartete.

»Lege noch zwei Gedecke auf!« lautete der erste Befehl, den sie dem sich tief verbeugenden Khirmatgar gab. Dann wandte sie sich an ihre Nichte: »Ich werde die beiden Herren zu Tisch laden,« sagte sie.

»Aber du kennst sie ja gar nicht, Tante Sara!« wendete Honor mit schüchterner Stimme ein.

»Aber ich habe von ihnen gehört, und das genügt für hier. Man ist in Indien nicht so steifleinen, wie in England, und macht nicht so viele Umstände. Ich bin überzeugt, Hauptmann Waring wird, wenn er kein geborener Trottel ist, die Einladung mit großem Danke annehmen. Hier im Hause ist nichts zu haben als Lichte und eingesottene Früchte, ich kenne das von früher her, und wir haben Hammelkeule und Champagner.«

Nachdem die alte Dame dann ihren Anzug geordnet, ihre schönsten Diamantringe angesteckt und einen blauen Hut aufgesetzt hatte -- blau war von jeher ihre Lieblingsfarbe gewesen -- segelte sie hinaus auf die Veranda und direkt auf die beiden Fremden zu.

»Es würde mich sehr freuen, wenn die beiden Herren mit mir speisen wollten,« begann sie ohne alle Umstände.

»Sie sind allzu gütig!« gab Waring von seinem Stuhle aufspringend und mit einer etwas übertrieben tiefen Verbeugung zur Antwort: »Wir werden die Einladung mit großem Vergnügen annehmen, denn es scheint, daß wir sonst keine Aussicht haben, etwas zu essen zu bekommen.«

»Wir speisen in fünf Minuten,« versicherte die Gastgeberin beruhigend, während sie den Herren auf dem Wege nach ihrem Zimmer voranschritt. »Dies ist meine Nichte, Fräulein Gordon, die eben aus England kommt,« setzte sie dann mit einer auf Honor deutenden Handbewegung hinzu. »Ich bin Frau Brande. Mein Mann ist Königlicher Oberverwaltungsrat des Bezirks.«

»Wir haben schon das Vergnügen gehabt, Fräulein Gordon zu begegnen, es ist nicht das erste Mal, daß wir an demselben Tische sitzen,« sagte Waring mit einem bedeutungsvollen Blick auf das junge Mädchen.

»Ja,« stotterte Honor errötend, während sie mit Mark einen Händedruck wechselte. »Dies ist der Herr, der mich rettete, als ich allein im Zuge zurückgeblieben war. Ich habe dir davon erzählt, Tante Sara.«

»Natürlich, und ich bin dem Herrn sehr zu Dank verpflichtet,« versetzte die Tante, indem sie sich setzte und ihre Serviette entfaltete. Heimlich wünschte sie, es wäre der andre, der reiche Cousin, gewesen, mit dem Honor sich bei der Gelegenheit angefreundet hatte.

»Gestatten Sie mir, Ihnen diesen jungen Mann vorzustellen, gnädige Frau,« sagte Waring in seiner humoristischen Weise. »Sein Name ist Jervis; er ist jung, unverheiratet und ohne Beschäftigung. Ich heiße Waring und stand früher beim Regiment Rutland, habe aber vor einiger Zeit den Dienst quittiert.«

»So, jetzt wissen wir, wer wir sind,« entgegnete Frau Brande, »und nun lassen Sie uns ans Essen denken. Ich glaube, wir sind alle halb verhungert.«

Das Mahl, das unter anderm aus Lachs, den der See geliefert hatte, aus wildem Geflügel und Hammelkeule bestand, erwies sich als vorzüglich, und erst nachdem die hungrigen Tischgenossen ihm die genügende Ehre angethan hatten, begannen sie, sich behaglich und gemütlich zu unterhalten.

Während die beiden Männer mit Honor sprachen, stellte »Mutter Brande« ihre Beobachtungen an. Hauptmann Waring war ein Mann von etwa fünf- oder sechsunddreißig Jahren, dessen ganze Haltung den ehemaligen Militär verriet. Er hatte dunkles, krauses Haar, kecke, lustige Augen und war, obgleich von der Sonne tief gebräunt und trotz einiger scharf eingegrabener Stirnfalten, ein schöner Mann zu nennen, der seine vorzüglich sitzenden Kleider wie ein vollendeter Gentleman trug. Seine Uhr und seine Wäsche waren von feinster Art, und dabei wußte er ein gutes Mittagessen zu schätzen und schien das Beste für sich als selbstverständlich zu betrachten.

Sein Gesellschafter, wie Sara Brande ihn bei sich nannte, war ein jüngerer, kaum zweiundzwanzigjähriger Mann von guter Figur, guter Haltung und einem entschlossenen Zug um Mund und Kinn. Er trug einen Flanellanzug, eine silberne Uhr mit lederner Kette und sah genau aus wie das, was er war, ein armer, abhängiger Verwandter.

Frau Brande überließ es ihm, sich mit Honor zu unterhalten, und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit seinem reichen Cousin zu, während ihre Nichte, die diese Vernachlässigung bemerkte und empfand, nur um so liebenswürdiger gegen Mark wurde. Sie hatte eine Art kameradschaftlichen Gefühls für ihn. Waren sie doch beide in abhängiger Lage, beide arme Verwandte.

»Sie sind also gekommen, um Shirani einmal wieder zu sehen?« fragte die alte Dame in ihrer liebenswürdigsten Weise.

»Ja, ich wollte mir wieder einmal alte liebe Zeiten ins Gedächtnis rufen und einen hübschen, müßigen Sommer in den Bergen verleben.«

»Sind also wohl schon den ganzen Winter in Indien.«

»Ja, wir kamen im Oktober hier an, jagten ein wenig in Travancore und blieben einige Monate in Kalkutta.«

»Dann haben Sie vielleicht dort ein Fräulein Paske kennen gelernt?«

»Ja, natürlich kennen wir Fräulein Paske; nicht wahr, Mark? Sie bewegte sich in der besten Gesellschaft und wurde von allen jungen Leuten angebetet. Ein kleines Geschöpfchen mit luftigem, duftigem, goldblondem Haare und einem Stulpnäschen.«

»Sie ist jetzt in Shirani.«

»Was Sie sagen! Aber es freut mich sehr, das zu hören; sie ist wirklich ein allerliebster Käfer.«

Das Gesicht der Zuhörerin verdüsterte sich. Einige Sekunden saß sie, ihr Brot zerkrümelnd, schweigend da, dann fragte sie plötzlich: »Haben Sie unterwegs auch die vielen Affen gesehen?«

»Ja, ganze Schwärme der alten grauen Burschen mit den schwarzen Gesichtern. Ich glaube, sie haben einen Klub in Shirani, vielleicht einen Spielklub! Apropos: wird in Shirani noch so viel und hoch gespielt?«

»Ich fürchte ja! Der abscheuliche alte Oberst Sladen soll der schlimmste von allen sein.«

»Wie, ist der noch immer da? Er war ein vortrefflicher Whistspieler.«

»Ist's wohl noch immer. Ich glaube, er spielt eigentlich Tag und Nacht, und seine arme kleine Frau ...«

»Ach, ist die auch wieder hier?«

»Auch wieder hier? Sie ist noch gar nicht fortgewesen!« rief Mutter Brande zornig und begann nun, die Leiden und Entbehrungen der Freundin im einzelnen aufzuzählen, während die Augen Warings immer länger auf Mark und Honor Gordon hafteten.

Sie war wirklich ein ungewöhnlich hübsches, ja geradezu bezauberndes Mädchen und erschien ihm jetzt so ganz anders als bei der ersten Begegnung. Sie hatte ein so strahlendes Lächeln, so ausdrucksvolle Augen, diese Augen allein machten sie zu einer Schönheit, und sie sah so vornehm aus! Es war kaum glaublich, daß sie mit der in ihrem ganzen Auftreten so gewöhnlichen alten Frau verwandt sein sollte!

Nach dem Essen begab sich die kleine Gesellschaft ins Freie, um noch einen Spaziergang im Mondschein zu unternehmen, und Waring machte dabei verschiedentliche Versuche, die Damen zu wechseln, ohne daß ihm dies gelang, und ärgerlich brummte er, als er einmal seine Cigarre an der Marks anzündete, diesem unter dem Schnurrbarte zu: »Das nenne ich unredliches Spiel. Ich habe die alte Person während der ganzen Zeit auf dem Halse gehabt, und Sie haben den Nutzen davon gezogen.«


 << zurück weiter >>