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Viertes Kapitel

Es hatte seine Richtigkeit: Frau Gordon und ihre Töchter lebten in einem langweiligen, weltvergessenen Winkel Englands, in Hoyle. Sie lebten hier, erstens weil der Ort billig war. und zweitens weil Mrs. Gordon sich so an Hoyle gewöhnt hatte, daß nur das Abbrennen des kleinen Nestes oder ein Erdbeben sie zum Verlassen desselben hätten bewegen können.

Hoyle liegt im südlichen Teile Englands, einen Steinwurf von dem steinigen Meeresstrand, und gewährt einen weiten Ausblick auf die weiße Küste von Frankreich. Es ist ein altmodischer, in allem um fünfzig Jahre hinter der Zeit zurückgebliebener Weiler, wo noch zum Auslöschen des Feuers und des Lichtes geläutet wird, der Anblick eines Telegramms immer die Bedeutung eines Todesfalles hat, und nur ein- oder zweimal am Tage ein an dem einsamen Strande hinkriechender Bummelzug bei der etwa eine halbe Stunde vom Orte entfernten Station anhält. Die Einwohner des Ortes stehen im Geruche, ihren Wohlstand einem schwunghaft betriebenen Schmuggelhandel zu verdanken, für den Hoyle, bei der Nähe der französischen Küste, wie geschaffen scheint. Man erzählte sich von vielen mit diesem gefährlichen Gewerbe verbundenen Abenteuern, die sich hier zugetragen haben sollten, und die weitläufigen Kellerräume eines außerhalb des Ortes liegenden Gasthofes sollten seit Menschengedenken von ungeheuren Massen hier versteckter Cognacfäßchen und Seidenwarenballen zu berichten wissen.

Zwischen diesem Gasthofe und dem Dorfe lag ein altes rotes, solid gebautes Häuschen mit kleinem Vorgarten, durch den man auf einem gepflasterten Wege die schmale, grün angestrichene Hausthür erreichte. Die Fenster des Häuschens waren klein, die unregelmäßigen Zimmer zwar warm und geräumig, aber niedrig, der geringe Mietspreis entsprach diesen Verhältnissen, und alles dies paßte den jetzigen Bewohnern, als wäre es für sie gemacht. Die kleine Besitzung war früher ein beliebter ländlicher Vergnügungsort mit Kaffeegarten gewesen und führte von jener Zeit her noch den Namen: »Zur Erheiterung«, wurde aber seit nunmehr fünfzehn Jahren, das heißt seit dem Tode des Obersten Gordon, von dessen Witwe und ihren drei Töchtern bewohnt.

Der Oberst hatte einige Zeit vor seinem Ableben den Abschied genommen, hatte sich, um sein schmales Einkommen zu verbessern, an einem industriellen Unternehmen beteiligt, und da dies mißglückte, dabei sein ganzes Vermögen verloren. Diesem Schlage nicht gewachsen, war er, wie man sagte, an gebrochenem Herzen gestorben und hatte es seiner Witwe und seinen drei kleinen Töchtern überlassen, sich mit der Zukunft abzufinden, so gut sie konnten.

Die Verwandten Gordons waren wegen des Verlustes seines Vermögens so zornig auf ihn gewesen, daß sie sich entschieden geweigert hatten, seiner Witwe zu Hilfe zu kommen, und so hatte diese die Trümmer des häuslichen Schiffbruches zusammengesucht und sich mit ihren Kindern und einer alten Dienerin nach Hoyle zurückgezogen. Hoyle war der Geburtsort der letzteren, und sie hatte ihn ihrer Herrin dringend empfohlen, weil sie hier billig und friedlich leben und in Ruhe überlegen könne, wie sie sich künftig einrichten wolle. Frau Gordon hatte die »Erheiterung«, die zum Teil möbliert war, auf drei Monate gemietet und wohnte nun seit fünfzehn Jahren hier. Sie war über ihre Zukunftspläne noch immer nicht im klaren und sprach zwar häufig vom Ausziehen, kam aber über dieses Stadium niemals hinweg. Gelegentlich sagte sie wohl: »Ja, Kinder, beim nächsten Quartalwechsel kündige ich bestimmt. Wir müssen fort, müssen uns zu irgend etwas entschließen. Ich werde an ein Wohnungsnachweisbureau schreiben. Du brauchst im Garten nichts zu säen, Honor, und die Küche braucht auch nicht frisch getüncht zu werden.« Wenn dann aber die Kündigungszeit heranrückte, waren diese Vorsätze längst wieder verflogen, im Garten wurde gepflanzt und gesäet und die Küche wurde getüncht wie immer.

Frau Gordon versank von Jahr zu Jahr tiefer in eine gewisse geistige und körperliche Stumpfheit, und ihre Unentschlossenheit nahm einen beinahe krankhaften Charakter an. Endlich überließ sie ihrer ältesten Tochter das ganze hauswirtschaftliche Regiment und beschränkte sich auf ein freundliches, aber apathisches Interesse am Garten, am Wetter, an der Zeitung und den dort angekündigten Patentmedikamenten; aber sie war noch immer eine bemerkenswert schöne Frau und von einer Liebenswürdigkeit, die alle, die mit ihr in Berührung kamen, vom Fleischerjungen bis zum Eigentümer des Hauses, bezauberte. Zur Verbesserung ihrer Lage unternahm sie nicht den kleinsten Versuch, sondern begnügte sich damit, in ihrem behaglichen Lehnstuhle zu sitzen, liebenswürdige Bemerkungen zu machen und hübsch, vornehm und müde auszusehen.

Das Leben in der »Erheiterung« verlief sehr einförmig, und die Ankunft der Zeitung bildete häufig das einzige Ereignis des Tages. Dennoch wurden die drei Mädchen nicht müde, auf das Eintreffen einer wichtigen Neuigkeit, eines aufregenden Briefes, auf etwas ganz Unerwartetes zu hoffen, das ihnen die Post bringen sollte, und befanden sich in so steter Erwartung einer bedeutungsvollen Wendung ihres Schicksals, eines überraschenden Zufalles, als ob sie inmitten eines breiten, bewegten Lebens gestanden hätten.

Jessie, die älteste der drei Schwestern, war sechsundzwanzig Jahre alt und von eigentümlicher Häßlichkeit. Sie hatte bei dunkler Hautfarbe helle Augen und eine lächerlich große, mißgestaltete Nase, war aber klug, von starker Willenskraft, sehr praktisch und regierte Haus und Familie, die alte Dienerin Susanne inbegriffen, mit bewunderungswürdigem Geschick.

Jessie Gordon hatte ihren Namen durch mehrere hübsche, in verschiedenen »Zeitschriften für die Jugend« veröffentlichte Erzählungen vorteilhaft bekannt gemacht. Ihre schriftstellerische Thätigkeit trug ihr jährlich etwa hundert Pfund ein, die gewöhnlich unverkürzt in die gemeinschaftliche Kasse flossen, und Bekannte und Freunde betrachteten sie infolge dieser Thätigkeit mit einem gewissen Stolze, in dem sich indessen nicht selten eine leichte Beimischung von Unbehagen fühlbar machte: denn wie leicht konnte sie nicht den einen oder andern Bekannten in ihren Geschichten anbringen! Deshalb aber versäumte man nicht, die Hefte, welche Beiträge von ihr enthielten, zu kaufen und damit zu ihren Erfolgen beizutragen.

Die ihr im Alter zunächst stehende Schwester war Fee, deren eigentlicher Name Flora lautete. Sie war etwa zweiundzwanzig Jahre alt und, was das Gesicht anbetraf, von tadelloser Schönheit, einer Schönheit, wie sie Poeten und Künstler begeistert. Feingeschnittene, regelmäßige Züge, überstrahlt von einem Paar ausdrucksvoller, blauer Augen, die zarteste Hautfarbe und eine Fülle glänzenden, goldbraunen Haares bildeten ein bezauberndes Ganzes. Saß sie bei einem Gartenfeste oder in einem Ballsaale, so drängte sich sofort die gesamte Männerwelt herbei, um sich ihr vorstellen zu lassen, aber, o Schrecken, wenn dies geschehen war und sie aufstand, um einer Aufforderung zum Tanz zu folgen! Sie war ein Zwerg, ein armseliges, kleines Geschöpf von nur vier Fuß vier Zoll Höhe, mit schriller, rauher Stimme. Ihre Gestalt war wie auf Täuschung berechnet, der Oberkörper viel zu lang, die Beine lächerlich kurz.

Ob sie wohl je die Bestürzung in den Gesichtern ihrer Tänzer gelesen hatte? Es schien nicht so; denn Fee war nicht im stande, von irgend einer Lustbarkeit fern zu bleiben, ja, sie besuchte selbst Schulfeste und Kinderbälle mir Leidenschaft. Im Hause galt es als Gesetz, daß sie in allen Dingen und bei jeder Gelegenheit zuerst berücksichtigt werden mußte, daß ein jeder sie zu verziehen, ihr Angenehmes zu erweisen und hinter ihr zurückzutreten hatte, und wer auf dies ungeschriebene Gesetz am meisten hielt, das war sie selbst. Sie war sich ihrer Schönheit voll bewußt, sprach ihren nächsten Freunden gegenüber ohne Scheu davon, erwähnte ihre kleine Gestalt aber niemals, und wenn ihre Schwestern unter vier Augen davon sprachen, geschah es mit leiser Stimme. Die Nachbarn waren an Fee gewöhnt und betrachteten sie als ein liebenswürdiges, verzogenes Kind, das nicht herangewachsen war. Was Fee aber mit den Feen wirklich gemein hatte, das waren ihre geschickten Hände. Sie hatte Feenhände, stickte wundervoll und verdiente mit Kirchenstickereien ziemlich viel Geld, das sie indessen ausschließlich für sich und auf den Ausputz ihrer eigenen kleinen Person verwendete. Auch eine vorzügliche Schneiderin und Putzmacherin war sie, fand aber keinen Geschmack an Musik, Litteratur oder an den sich täglich wiederholenden häuslichen Beschäftigungen, die sie ruhig ihren Schwestern überließ.

Honor, die jüngste Gordon, war zwanzig Jahre alt, von schlanker, graziöser, hoher, vielleicht etwas zu hoher Figur, denn sie hätte ihrer kleinen Schwester gut und gern die dieser fehlenden Zolle abgeben können, ohne darunter zu leiden. Sie hatte ein ovales Gesicht, dunkelgraue Augen, dunkles Haar und ein bezauberndes Lächeln, wie denn überhaupt ihre größte Schönheit im Ausdrucke lag. Dabei war sie das nützlichste Mitglied der Familie. Jessie war nicht im stande, einen Blumenstrauß zu binden, ein Kleid zuzuschneiden oder, und wenn ihr Leben auf dem Spiele gestanden hätte, einen Kuchen zu backen. Honor konnte das alles. Sie hatte für diese und andre Dinge eine »glückliche Hand«. Alles, was sie unternahm, von der Anfertigung eines Staatshuts bis zu der eines Apfelpuddings, sah hübsch und appetitlich aus. Ihre unverwüstlich heitere Laune stimmte zu ihren lustig blitzenden Augen, und von ihr ging das eigentliche Leben im Hause aus. Sie spielte vortrefflich Violine, zwar nicht so, daß sie besonders schwierige Stücke zu bemeistern vermocht hätte, aber sie und ihr Instrument schienen eins und ihr Spiel hatte eine Art von intimem Reiz, der sich nicht erklären ließ, dem aber niemand widerstand.

Auch diese jüngste Schwester hatte ihre Fehler, und die schlimmsten waren: rücksichtslose Offenheit, große Unvorsichtigkeit im Reden, eine verblüffende Art und Weise, laut zu denken, und eine fatale Manier, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, mochte diese in ihrer nackten Gestalt noch so unwillkommen sein. Honors Freunde, die sehr zahlreich waren, behaupteten indessen, sie werde diese Fehler mit den Jahren auswachsen, und jedenfalls war sie die beliebteste der drei Schwestern.

An einem stürmischen Märzmorgen, wo die See in hochgebäumten, mit gelblichen Schaumkämmen gekrönten Wellen heranbrauste und der Regen klatschend gegen die Scheiben schlug, stand Jessie an einem Fenster des Erdgeschosses und wartete auf das Kochen des Theewassers und das Erscheinen des Postboten. Endlich erschien der Mann in seinem glänzenden Gummirocke an der Thür, klopfte, warf die für das Haus bestimmten Sendungen in den Kasten und ging davon.

»Die Zeitung, eine Kohlenrechnung und ein Brief aus Indien,« sagte Jessie zu Fee, die, in ein warmes Tuch gewickelt, am Feuer saß. »Ich werde die Sachen zu Mama hinauftragen. Du achtest wohl inzwischen auf den Kessel.«

Frau Gordon frühstückte, wie sie sagte, »um Mühe zu sparen« -- wem sie die Mühe sparen wollte, wußte freilich niemand -- stets im Bette und drehte jetzt die Postsendungen langsam in den Händen um.

»Ein Brief aus Indien von Sara Brande!« rief sie. »Es geschehen doch immer noch Wunder! Was kann sie denn von uns wollen? Schicke mir doch sogleich den Thee herauf. Wenn ich Saras Epistel gelesen habe, bekommt ihr sie hinunter. Die Zeitung kannst du gleich für Fee mitnehmen.«

Jessie ging hinab, um den Thee vollends fertig zu machen (sie und Honor führten wochenweise abwechselnd die Wirtschaft); aber noch hatten sie kaum angefangen zu frühstücken, als die alte Susanne, was selten geschah, ins Zimmer stürzte.

»Miß Jessie, die gnädige Frau reißt fast die Klingelschnur ab. Ich dachte, wir hätten Feuer im Hause. Sie sollen gleich die Minute hinaufkommen.«

Jessie blieb eine gute Viertelstunde aus, und als sie, mit einem Briefe in der Hand, wieder erschien, sah sie so strahlend und so aufgeregt aus, daß ihre Schwestern, noch ehe sie die Lippen öffnete, wußten, daß endlich das lange erwartete Ereignis eingetreten war.


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