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Das große Mittagessen in Nummer 500 am Fürstenthore war vorüber. Die letzte seidene Schleppe war die Treppenstufen hinabgerauscht, der letzte Wagen davongefahren, und ein gelangweilt aussehender junger Mann, der laut aufgähnend die Glieder reckte, schlenderte langsam dem Bibliothekzimmer zu, wo sich der Herr des Hauses bereits befand. Dieser, eine sorgfältig gekleidete, kleine Persönlichkeit, hatte sich vor dem leeren Kamin -- es war im Monat Juni -- aufgepflanzt und beschäftigte sich eingehend mit seinem Zahnstocher.
Der Mann war, nach seiner Umgebung zu urteilen, reich; aber es lag nichts Vornehmes in seiner Erscheinung, im Gegenteil war er, von der Spitze seiner Patentlederschuhe bis zu dem kahlen Schädel hinauf, das Urbild eines Plebejers, und es schien kaum glaublich, daß er der Oheim des aristokratisch aussehenden jungen Herrn sein sollte, der soeben das Zimmer betreten hatte und sich nun lässig in einen Armstuhl fallen ließ. Was an Mark Jervis, so hieß der junge Mann, zuerst auffiel, war gerade das, was man als Merkmale der »Rasse« bezeichnet. Daß er auch ein sehr schöner Mensch war, erkannte man erst viel später, wie man auch erst sehr viel später dahinter kam, daß er nicht neunzehn Jahre alt war, wie man ihn nach seinen braunen, sonnigen Augen und seinem bartlosen Gesicht zu schätzen pflegte, sondern fünfundzwanzig.
»Na, Gott sei Dank, Mark, das wäre vorüber!« rief der alte Herr. »Ich hasse diese großen Mittagessen; aber deine Tante besteht darauf; sie meint, wir wären uns das schuldig, und es ist wenigstens gut ausgefallen. Der neue Koch scheint eine wirklich schätzbare Errungenschaft. Hast du die Boucheée à la financière oder die kalte Zwischenspeise gekostet?«
»Nein, Onkel Dan,« lautete die von einem neuen Gähnen halb erstickte Antwort.
»Aha, du warst zu sehr mit Lady Boadicea beschäftigt, du schlauer Hund. Sie gilt für eine Schönheit. Wie findest du sie?«
»Wachspuppe!«
»Und die junge Amerikanerin an deiner andern Seite, war die nach deinem Geschmack? Ein Prachtmädel, nicht wahr?«
»Die überfütterte mich mit ihrem Gelde so, daß ich nichts andres mehr essen konnte.«
»Hättest du ihr doch den Mund mit einer gehörigen Portion von meinem Gelde gestopft. Aber sage mir, mein Junge,« fuhr der alte Herr fort, indem er dem Neffen die Hand auf die Schulter legte, »bist du nicht ein bißchen blasiert? Außer mit dem jungen Torrens habe ich dich mit keinem Menschen sprechen sehen. Was hatte er dir denn so eifrig zu erzählen? Du schienst ganz Ohr.«
»Er teilte mir seine Reisepläne mit. Er und sein Bruder gehen nächste Woche nach Amerika und von da nach Japan, Australien und Indien. Onkel,« setzte der junge Mann, sich plötzlich stramm aufrichtend, hinzu: »Onkel, ich wünschte, du ließest mich auch ein paar Jahre reisen. Ich möchte mir auch die Welt ein wenig ansehen.«
Der Oheim schwieg eine Minute, dann brauste er auf: »Also solch dummes Zeug hat dir der junge Esel von Torrens in den Kopf gesetzt? Die Welt sehen! Du siehst hier genug von der Welt. Was ist denn die Welt? England ist die Welt, und hier hast du alles vom Besten: die schönsten Weiber, die schönsten Pferde, das beste Essen und Trinken, das beste ...« Hier stockte der alte Herr, und der junge Mann fuhr, sein Bein zärtlich streichelnd, fort: »Das beste Klima!«
»Ach was Klima, was geht mich das Klima an! Ihr jungen Leute wißt das Gute, das euch geboten wird, nie recht zu schätzen. Reisen ... die Welt sehen ...! Narrheit und kein Ende!«
»Ich weiß, Onkel, daß es mir durch deine Güte sehr wohl geht und daß ich's gut habe. Ich besitze die schönsten Pferde, eine prächtige Meute, bin reichlich mit Geld versehen; aber man kann doch nicht immer reiten, jagen und sich zeitlebens damit begnügen, Bälle und Theater zu besuchen. Wenigstens entspricht dies nicht meinem Ideale vom Leben,« entgegnete der junge Mann ruhig. »Ich habe nichts zu thun, habe keinen Beruf, du willst ja nichts davon hören, daß ich Soldat werde ...«
»Nein, ich hasse den Militärdienst. Welche Aussicht eröffnet er denn den jungen Thoren, die sich in das Joch spannen lassen? Sie leben als Vagabunden und sterben als Bettler!«
»Zum Eintritt in die diplomatische Carriere bin ich nicht gescheit genug.«
»Larifari! Du brauchst keinen Beruf, brauchst andern Leuten nicht das Brot vom Munde zu nehmen. Du bist mein Erbe, das ist dein Beruf. Und was die Gescheitheit anbetrifft, na, davon haben wir nur zu viel bei uns und anderswo. Die Welt wäre leichter zu regieren, wenn wir von der Ware etwas weniger hätten. Außerdem bist du klug genug, bist in Oxford recht gut durchgekommen.«
»Ich weiß, daß ich ein sehr glücklicher Mensch bin, Onkel, und daß Tausende von jungen Männern wer weiß was darum geben würden, in meinen Schuhen zu stehen.«
»Clarence zum Beispiel,« unterbrach ihn der Onkel.
»Aber ich bin der ewigen Tretmühle des Londoner Lebens herzlich müde. Es ist immer dasselbe, immer dieselben Menschen, immer --!«
»Nach solchen Reden sollte man dich nicht für fünfundzwanzig, sondern für einen Fünfundachtzigjährigen halten, mein Junge! Aber es ist ja jetzt Mode, blasiert zu sein und das Leben für nicht lebenswert zu erklären, und du machst die Mode mit.«
»Vielleicht hast du recht, Onkel Dan. Offen gestanden glaube ich, es wäre besser für mich, wenn ich als armer Schlucker geboren und gezwungen wäre, mir meinen Weg durch eigene Kraft und harte Arbeit zu bahnen. Ich fühle, daß ich's könnte. Auch du, Onkel, hast dich Schritt für Schritt heraufgearbeitet; der Kampf hat dir Freude gemacht, und,« setzte der junge Mann hinzu, indem er aufstand und dem alten Herrn die Hand mit herzlicher Gebärde auf die Schultern legte: »ich möchte gern auch was thun, damit du stolz auf mich sein könntest.«
»Ich bin ja schon stolz auf dich. Du, mein eigen Fleisch und Blut, bist ein schöner Mensch, ein vorzüglicher Reiter, ein feiner Herr und hast, bis auf deine Vorliebe für die schmutzige Beschäftigung mit der Oelmalerei und die kleine Beimischung von Träumer und Don Quixote in deinem Wesen, meinen ganzen Beifall. Aber --«
In diesem Augenblicke öffnete sich langsam die Thür und eine lange, stark gebogene Nase erschien im Zimmer. Ihr folgte eine lange, hagere ältliche Dame mit blassem, wenig hübschem, aber vornehmem Gesicht, die ein schweres Kleid von nebelgrauer Seide und prächtig blitzende Diamanten trug.
»So hier seid ihr!« sagte sie freundlich.
»Ja, und ich bin eben dabei, Mark den Kopf zu waschen. Denke dir, was er im Sinne hat, Selina! Er wünscht, einige Jahre zu reisen, um die Welt kennen zu lernen.«
Mark beeilte sich, einen Stuhl für seine Tante herbeizuschieben, und während sie sich langsam niederließ, sah sie ihn mit zusammengekniffenen Augen prüfend an.
»Die Idee mißfällt mir gar nicht,« begann sie nach kurzem Schweigen, »ganz und gar nicht. Es muß ja etwas Peinliches für einen jungen Mann haben, seine ganze Jugend im Klub, am Spieltische oder bei Wettrennen zu verbringen. Das Reisen hingegen erweitert den Gesichtskreis und festigt den Charakter.« In diesem Momente belehrte das zornige Gesicht des Gatten die kluge Frau indessen, daß ihre Beweisgründe falsch gewählt waren, und sie beeilte sich, hinzuzufügen: »Außerdem gehört das Reisen, besonders nach Indien, jetzt zum guten Tone. Nur Leute zweiten und dritten Ranges bleiben daheim; alle vornehmen Leute reisen.«
Die vornehmen Leute waren für Dan Pollitt, wie seine andre Hälfte sehr gut wußte, das Salz der Erde, und sein eben noch so zorniges Gesicht verwandelte sich nun in das eines aufmerksamen Zuhörers.
»Indien, na, gegen Indien hätte ich vielleicht noch am wenigsten einzuwenden,« gab er nach kurzem Schweigen zu. »Mark ist dort geboren und könnte sich mal nach seinem Vater umsehen. Er würde dort einige Tiger schießen, neue Bekanntschaften machen, Gesellschaft finden.«
»O, was das anbetrifft -- Mark könnte doch nicht allein reisen; er müßte natürlich einen angenehmen und erfahrenen Begleiter haben.«
»So eine Art Bärenführer, meinst du!« warf hier der alte Pollitt ein.
»Aber liebster Daniel, du kannst dir doch denken, daß es überaus langweilig für Mark sein müßte, so ganz allein im Lande herumzustreifen, und Clarence ...« hier stockte sie.
»Na, und Clarence? Was wolltest du sagen?« fragte Mr. Pollitt scharf.
»Ich glaube, Clarence, der acht Jahr in Indien gestanden hat, die Landessprache fließend spricht, drüben noch eine Menge Freunde hat, den die indischen Fürsten mit so viel Jagdeinladungen beehrten, daß er gar nicht allen folgen konnte, würde ein vorzüglicher Begleiter für Mark sein.«
»Hm, das scheint mir doch nicht so ganz sicher!« versetzte der alte Herr mit kurzem Auflachen.
»Aber, liebster Dan, er ist jetzt ein ganz solider Mensch, ist fünfunddreißig Jahre alt, hat sich die Hörner abgelaufen, und ...«
»Aber Indien ist für Mark doch kein unbekanntes Land,« fiel Dan ein.
»Und Clarence würde so gern nach Indien gehen,« fuhr die Sprecherin unbeirrt fort. »Doch, da haben wir ja Mark selbst. Kommen Sie, Mark, und sprechen Sie sich ganz offen aus: würde Clarence nicht einen prächtigen Reisegefährten abgeben?«
Was blieb dem jungen Manne übrig, als eine bejahende Antwort?
»Natürlich! Gewiß!«
»Und jedenfalls hätte er hier nichts zu versäumen,« setzte Pollitt trocken hinzu.
»Du wirst also Marks Wunsch erfüllen, liebster Dan,« sagte seine Frau, während sie sich erhob und ihn liebkosend mit dem Fächer auf die Schulter klopfte.
»Gut, gut, ich werde mir die Sache überlegen. Es kommt nicht häufig vor, daß ihr, du und Mark, an demselben Strange zieht; wenn ihr euch aber zusammenthut, seid ihr mir über.«
Frau Pollitt warf Mark einen schnellen, bedeutungsvollen Blick zu, der ihm sagte, daß seine Sache gewonnen und nur noch über das wie und wann der Ausführung zu beraten sei.