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Fünftes Kapitel

»Große, große Neuigkeiten, ihr Mädchen!« rief Jessie, das Papier über dem Kopfe schwingend. »Tante Sally hat geschrieben und wünscht, daß eine von uns zu ihr hinüber kommen soll. Und sie scheint ganz sicher, daß die Einladung angenommen wird, denn sie hat gleich einen Check für Ausrüstung und Ueberfahrt beigelegt. Aber die Zeit ist kurz gemessen: denn wer von uns Lust hat, Indien zu sehen, muß schon in vierzehn Tagen abreisen.«

Honor und Fee blickten einander ungläubig an. Fee wurde abwechselnd blaß und rot.

»Ich will euch den Brief vorlesen,« fuhr Jessie fort: »die Handschrift ist höchst wunderlich, und einige Worte sind viermal unterstrichen. Also hört!

 

›Rookwood, Shirani.

Liebe Schwägerin!

Es kommt nicht oft vor, daß ich die Feder ergreife; aber ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Ich bin nicht mehr so jung, als ich war, und empfinde das Bedürfnis nach jemand, der mir Gesellschaft leistet. Pelham ist oft abwesend, und ich bin dann mit Ben allein, der zwar das herzigste Geschöpf auf der Welt ist und jedes Wort versteht, der aber doch nicht sprechen, mir nicht im Haushalt beistehen und weder zu Ball, noch in die Kirche mit mir gehen kann, dieweil er nur ein Hund ist. Wie wäre es, wenn Sie mir eine Ihrer Töchter schickten? Sie haben drei und können gewiß eine entbehren. Drei unverheiratete Töchter müssen ja eine schreckliche Last für jede Mutter sein. Wir gedenken, etwa in Jahresfrist nach England heimzukehren, und so könnten Sie im schlimmsten Falle Ihre Tochter in zwölf Monaten wiedersehen. Welche Sie mir aber auch schicken, Sie können versichert sein, daß ich sie halten werde, als wäre ich ihre leibliche Mutter. Ebenso Pelham. Sie soll, was Kleider und Geselligkeit betrifft, das Beste haben, was es hier gibt, soll die berühmtesten Beaux kennen lernen, und das wird ihr gewiß Vergnügen machen. Da demnächst die heiße Jahreszeit eintritt und es nach April schon gefährlich wird, zu reisen, sowohl zu Wasser als zu Lande, so wäre es gut, wenn Sie mir das Mädchen so bald als möglich schickten. Sie müßte also spätestens vierzehn Tage nach Empfang dieses Briefes abreisen, sonst ginge das erst wieder im Oktober, und sechs Monate hier wären doch eine zu kurze Zeit für die weite Reise. Pel legt einen Check für das Ueberfahrtsbillet und vierunddreißig Pfund für Koffer, Handschuhe, Unterröcke u. s. w. bei. Die Kleider werde ich selbst wählen, denn sie sollen hübsch sein. Sie, liebe Schwägerin, sind doch wohl nicht in der Lage, das Neueste zu sehen, und man kleidet sich hier sehr elegant. Käme Ihre Tochter Mitte April in Bombay an, so würde ich sie aus Allahabad abholen; denn ich mag es nicht leiden, daß junge Mädchen allein reisen. Pel hofft mit mir, daß Sie unsre Einladung nicht ausschlagen werden. Sie wissen, er ist ein Mann von großem Einfluß, und Ihre Töchter sind seine nächsten Verwandten. Sie verstehen mich wohl ohne weitere Erklärung. Uebrigens ist Shirani während der Saison ein sehr angenehmer Ort; wir haben hier Tamashas Tamashas = Vergnügungen (hindostanisch). (Anmerk. d. Uebers.) die schwere Menge, und was das Klima anbetrifft, so brauchen Sie sich nicht zu ängstigen. Auch Schlangen gibt es hier nicht.

›Wir haben gewöhnlich einen ganzen Schwarm junger Männer in Shirani, und viele davon verkehren bei uns. Ihre Tochter soll auch ein hübsches, ruhiges Pony, sowie einen neuen Rickshaw haben, und so erwarten wir sie mit aller Bestimmtheit. Viel Liebes für Ihre Töchter und besonders für die, welche zu uns kommt.

Ihre herzlich grüßende
Sarabella Brande‹«

 

»Na, was denkt ihr von der Geschichte?« fragte Jessie, abwechselnd die beiden Schwestern ansehend.

»Ich denke, daß du dir einen Spaß mit uns machst,« rief Honor, nach dem Briefe haschend.

»So lies selbst und besieh die Postmarke,« entgegnete Jessie, den Brief auf den Tisch werfend.

Ja, da war kein Zweifel mehr möglich, der Brief war wirklich aus Indien! Nachdem ihn Honor mit den Augen überflogen, fragte sie lachend: »Aber hast du denn das gelesen? Die Nachschrift ist ja das Schönste an der ganzen Geschichte!«

Beide Schwestern beugten sich neugierig über das Schriftstück, das auf der letzten unbeschriebenen Seite die flüchtig hingekritzelten Worte trug:

»P. S. Schicken Sie mir aber ja die Hübscheste von Ihren Töchtern.«

»Das muß eine originelle Person sein,« rief Honor mit blitzenden Augen. »Und was, ums Himmels willen, ist wohl ein Tamasha?«

»Da fragst du mich umsonst!« entgegnete Jessie.

»Und was sagt Mama zu dieser Einladung?«

»Danach brauchst du gar nicht zu fragen,« fiel Fee ein, die mit sichtlicher Ungeduld dem Gespräche gefolgt war. »Bei uns heißt es: was sagt Jessie dazu? Nun, also, was sagst du, Jessie?«

»Ich sage, daß man etwas Gutes nie ausschlagen darf. Es ist nur auf ein Jahr; natürlich muß eine von uns hinüber.«

»Willst du gehen?« fragte Fee mit etwas emporgezogenen Brauen weiter.

»Weil ich die Hübscheste bin, nicht wahr?« versetzte Jessie sarkastisch. »Mich schickte Tante Sara gewiß mit dem nächsten Dampfer zurück.«

»Daran hatte ich nicht gleich gedacht,« entgegnete die Schwester nachdenklich. »Die Hübscheste unter uns dreien bin ich -- daran ist doch kein Zweifel?«

»Nicht der geringste,« sagte Jessie, während sie einen verstohlenen Blick mit Honor wechselte.

Fee versank für einige Minuten in tiefes Nachdenken, währenddessen sie mit der Gabel das Muster des Tischtuches nachzeichnete. Dann erhob sie die Augen wieder.

»Und es ist, wie du ganz richtig bemerkst, liebe Jessie, nur auf ein Jahr,« sagte sie, indem sie beide Ellbogen auf den Tisch stützte. »Wie schnell gehen aber nicht zwölf Monate ins Land! Etwas Gutes darf man nicht ausschlagen, und ein Pony, ein Rickshaw, was für ein Ding das auch immer sein mag, neue elegante Kleider, die beste Gesellschaft, die »schönsten Beaux« sind doch gewiß etwas Gutes! Wißt ihr, Kinder, ich glaube, ich entschließe mich zu der Herrlichkeit!« setzte sie mit lautem, schrillem Auflachen hinzu.

Die Schwestern schwiegen bestürzt.

»Ja,« fuhr Fee mit steigender Lebhaftigkeit fort, »die Sache gefällt mir. Was nützt einem ein hübsches Gesicht, wenn niemand es sieht. Und auf diese Weise käme man doch 'mal heraus und fort von hier. Was schrieb Tante Sara? Fünfunddreißig Pfund zur Aussteuer. Damit kann ich sehr weit kommen, denn ich brauche nicht zu allem so viel Stoff, wie ihr beiden Riesinnen. Ich will gleich hinauf zu Ma, um die Sache mit ihr zu besprechen.« Dabei schob sie den Stuhl zurück und wirbelte aus dem Zimmer.

Jessie und Honor blickten einander in tödlichem, aber beredtem Schweigen über den Tisch hinüber an. Endlich rief Jessie in verzweifeltem Tone: »Ich wünschte, wir hätten diesen dummen Brief nie bekommen! Anfangs war ich so erfreut; ich dachte, du solltest auf das Anerbieten eingehen.«

»Ich? Und warum gerade ich?«

»Weil du jung, hübsch, heiter und beliebt bist. Du hast großes Talent, dir Freunde zu erwerben. Den Leuten hier und in der Umgegend ist dein kleiner Finger lieber als unsre ganze Person. Du gewinnst leicht die Herzen, und deshalb hielt ich dich für die richtige Person, nach Indien zu den reichen Verwandten zu gehen und ihre Gunst zu erwerben.«

»Du verschwendest deine schönen Komplimente ganz unnötig, Jeß.«

»Das weiß ich wohl; denn wenn Fee sich einmal vorgenommen hat, zu gehen, so wird sie sich durch nichts zurückhalten lassen. Wahrscheinlich hat sie sich schon den Dampfer ausgesucht und sich über ihr Reisekleid entschieden. Aber was werden Onkel und Tante sagen, die noch gar nicht wissen, daß Fee so klein ist?« setzte sie mit angstvollen Augen und über und über errötend hinzu.

In der That, was würde »Mutter Brande«, die sich schon überall mit ihrer aus England erwarteten Nichte brüstete und mit lauten Trompetenstößen die Schönheit und Liebenswürdigkeit des jungen Mädchens verkündigte, beim Anblick Fee's sagen? Wie würde ihr zu Mute sein, wenn die Leute herbeieilten, um die Ankommende zu begrüßen, und einen solchen Zwerg fanden?

»Fee darf nicht gehen,« murmelte Honor. »Wir müssen es zu verhindern suchen.«

»Hast du schon je erlebt, daß Fee, wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hat, davon abzubringen wäre?« bemerkte Jessie im Tone völliger Hoffnungslosigkeit.

Die Schwester schwieg eine Weile, dann stand sie auf.

»Laß uns hinaufgehen und hören, was Ma dazu sagt,« schlug sie vor.

Frau Gordon saß mit fieberhaft geröteten Wangen und ängstlichen Augen aufrecht im Bette und horchte auf die begeisterte Schilderung, die Fee von ihrer künftigen Laufbahn und ihrem Leben in Indien entwarf.

Mit beiden Ellbogen auf den Bettrand gestützt, zählte das junge Mädchen bereits alle ihre neuen Kleider auf, berechnete, wann sie die ganze Ausrüstung fertig haben könnte, erklärte, sie würde wahre Wunder verrichten, wenn die Mutter ihr nur gleich auf der Stelle zwanzig Pfund vorschießen wollte, und sprudelte das alles mit solcher Schnelligkeit und so ganz ohne Pause heraus, daß weder Mutter noch Schwestern das kleinste Wort einzuschieben vermochten.

»Ich werde keine vierzehn Tage brauchen, um mich fertigzumachen, aber ich muß gleich morgen nach Hastings,« schloß Fee endlich atemlos und mit hochroten Wangen.

»Aber, Kind, der Brief ist vor nicht ganz einer Stunde angekommen, und die Sache will doch überlegt sein. Ma kann sich unmöglich so schnell entschließen; man muß doch erst bedenken, welche von uns sie entbehren kann, und --« wagte jetzt die ältere Schwester einzuwerfen.

»Ach was, die Sache ist abgemacht,« versetzte Fee in ihrem schärfsten Tone; denn Jessie war nicht ihre Lieblingsschwester. »Du möchtest freilich am liebsten alles regieren und dich in alles einmischen. Tante Sara verlangt, wie du ja schwarz auf weiß hast, Ma solle die Hübscheste von uns schicken, und Ma sagt auch, daß ich mir schmeicheln darf, das zu sein. Nicht wahr, Ma, das hast du gesagt?«

Frau Gordon senkte die Augen vor dem vorwurfsvollen Blicke ihrer ältesten Tochter, seufzte aber dessen ungeachtet ein tapferes: »Ja, Fee, ich bin der Meinung.«

»Da habt ihr's!« rief Fee triumphierend. »Ihr hört, Mama hat entschieden und ich auch. Ich bin nicht wie andre Leute, die Wochen brauchen, um zu einem Entschlusse zu kommen, auch wenn jeder Augenblick kostbar ist. Ich muß bis zum Abgange der nächsten Post noch eine ganze Menge Briefe schreiben. Honor, weißt du noch den Namen der Schneiderin, die für die Frau Travers arbeitet? Und glaubst du, daß ich mir ein Reitkleid und Reitstiefel machen lassen muß?«


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