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Sechzehntes Kapitel.
Das Wiedersehen

Es war Markttag in Flensburg. Auf dem Marktplatz hielten in langen Reihen Bauernwagen mit Gemüse und Obst. Die Bauern standen mit der Pfeife im Mund und handelten mit den Bürgern der Stadt; sie ließen sich gute Zeit, denn der Tag war lang und es galt, die Preise in die Höhe zu schrauben.

Madam Most trabte vom Markt nach Hause. Sie zog die Beine so merkwürdig nach, als ob sie müde sei, und die früher so rundliche Erscheinung hatte an Umfang abgenommen. Ihr Korb war mit Gemüse und Früchten gefüllt.

An der Ecke der Straße blieb sie stehen und blickte über den Hafen und die Förde, wo Schiffe bei einer steifen Brise heraus- und hereinstrichen; sie sah nach Glücksburg hinüber, wo leichte, weiße Wolken über grünen Baumwipfeln trieben.

Madam Most seufzte und ging weiter, den Kopf voll von traurigen Gedanken.

Der Zug fuhr in die Station ein und die Passagiere wälzten sich heraus. Darunter war auch Reeder Brummer; er war am Tage vorher in Geschäften verreist gewesen und kam jetzt mit dem ersten Morgenzug zurück. Er eilte in sein Kontor, während er mit den zahlreichen Bekannten, denen er begegnete, Grüße austauschte, kurz und mürrisch, wie es seine Art war.

In dem großen Kontor saßen viele Kontoristen und schrieben. Sie standen von ihren Pulten auf, als Brummer hereinkam.

»Morgen, meine Herren, na was gibts heute – da liegt ja ein ordentlicher Haufen Briefe.« Der Alte setzte sich an seinen Arbeitstisch, öffnete und las, was die Post ihm gebracht hatte. Der junge Kröger stand neben ihm, um seine Order entgegenzunehmen.

Plötzlich sprang Brummer in die Höhe.

»Potztausend,« wann ist dies Telegramm gekommen?« – Gestern Abend – was, was steht da – – Himmel und alle Heiligen, wie ist es nur möglich – –«

Und Brummer raste ans Telephon.

Klinglingling – Klinglingling – – – – »Diese Frauenzimmer passen doch auch nie auf – he, – ist da jemand – ich möchte mit dem Zollkontor sprechen –, und 'n bißchen plötzlich – – – Gott, was das dauert! – Hier Brummer, ich möchte den Herrn Zollkontrolleur sprechen – was – schon nach Haus gegangen! –

»Ja, dann muß ich sofort nach Villa Thule, Kröger!« Brummer griff nach seinen Hut und polterte aus der Tür.

Kröger nahm das Telegramm vom Tisch und las:

Sind nach Hamburg gekommen mit Dampfer »Rhenania«,
Beide wohl, morgen in Flensburg. Vorbereite Thule.

Fritz Klenow. Peter Most.

»Kinder,« rief Kröger aus, »habt Ihr schon gehört? Fritz Klenow ist nach Hause gekommen zusammen mit Madam Mosts Sohn,« und alle Federhalter fielen auf die Pulte, daß die Tinte nur so herumspritzte. Das war eine Neuigkeit!

* * *

In Villa Thules Eßzimmer stand der Tisch gedeckt. Fräulein Minchen ging umher und ordnete dies und das; ab und zu brachte Madam Most aus der Küche allerlei Frühstücksgerichte herein; Eier, Bücklinge, Radieschen und Koteletts; endlich sah man den Zollkontrolleur durch den Garten auf das Haus zukommen.

Er sah blaß und betrübt aus, und seine Haltung war nicht mehr so aufrecht, wie vor drei Monaten, seit er die Gewißheit von dem Tode des Sohnes erhalten hatte.

Klenow und seine Schwester saßen sich gegenüber und aßen:

»Du siehst heute wieder blaß aus, Minna, hast Du schlecht geschlafen heut Nacht?«

Die alte Dame sah mit rotgeränderten, verweinten Augen hinter der Brille zu ihrem Bruder auf.

»Ach, die Nächte sind das Schlimmste – heut Nacht hat mir wieder von ihm geträumt; der geliebte Junge stand leibhaftig mitten im Garten und streckte die Arme nach mir aus – lächelnd und rotwangig – ach, August, ich überlebe es nicht.« Fräulein Minna legte die Brille auf den Tisch, zog ihr Taschentuch aus der Tasche und weinte bitterlich.

Klenow beugte den Kopf auf den Teller herab und seufzte.

»Der Wille des Herrn geschehe, Minna, aber es ist ein harter Schlag für uns beide.«

»Ja, weshalb mußten wir so hart getroffen werden,« fuhr das alte Fräulein fort und trocknete sich die Augen, »wie konnte der liebe Gott nur so unbarmherzig sein und unsern Jungen ertrinken lassen. Der Steuermann ist doch gerettet worden – daß er nicht auch Fritz mit sich in den Dampfer hinaufziehen konnte – aber solche Leute denken eben nur an sich selbst,« fügte sie mit Bitterkeit hinzu.

»Ich glaube, Du tust Klaus Döse Unrecht, er hielt viel von Fritz – – aber die Nacht war dunkel und neblig und das ganze ging ja so – – – – Aber was ist denn das, wer reißt denn so an der Hausglocke – –«

Draußen im Entree klingelte die Glocke, als wenn das Haus zusammenstürzen sollte, und Madam Most öffnete schleunigst.

Vom Frühstückstisch konnte man Brummers tiefen Baß hören.

»Ist der Herr zu Hause, Madam Most, ich muß ihn sofort sprechen.«

»Wollen Sie nicht hereinkommen, Herr Brummer?« erklang Madam Mosts erstaunte Stimme.

»Nein, er muß sofort herauskommen.«

Klenow kam mit der Serviette in der Hand heraus.

»Guten Tag, lieber Brummer, – – –«

»Komm mit in Dein Rauchzimmer, Klenow. Ich habe Dir etwas Wichtiges mitzuteilen.« Der Reeder sah ganz verstört aus.

»Willst Du nicht lieber mit ins Eßzimmer kommen? Wir sind gerade beim Frühstück.«

»Zum Teufel mit dem Frühstück, komm nur – –« Und die beiden Alten gingen in Klenows Rauchzimmer.

»Was ist denn los?«

»Sei gefaßt, Klenow, sei gefaßt – – Gott, wie soll ich nur anfangen – – ich glaube, alles ist in schönster Ordnung!« platzte Brummer heraus.

»Was ist in schönster Ordnung?« Klenow betrachtete seinen erregten Freund voller Bestürzung. Er glaubte, er hätte einen Sonnenstich bekommen.

»Alles ist in schönster Ordnung mit dem Jungen, Fritz natürlich – –«

»Was sagst Du, hast Du Nachricht bekommen?« Klenow wurde so weiß wie sein Vorhemd und schnappte nach Luft.

Da hörten sie einen lauten, gellenden Schrei aus dem Eßzimmer, einen Angstruf, so daß Klenow und Brummer hinausstürzten.

Im Eßzimmer, dessen Tür auf die Veranda ging, stand Fräulein Klenow mit hocherhobenen Armen, das Gesicht von Entsetzen geprägt. Sie schrie: Fritz! Fritz! und fiel ohnmächtig nieder. Brummer kam gerade zur rechten Zeit, um sie in seinen Arm aufzufangen und sie aufs Sofa zu legen. Dann drehte er sich um und blickte hinaus.

Draußen im Garten, vom hellen Sonnenschein beschienen, standen mitten auf dem grünen Rasen zwei Knaben mit Strohhüten über sonnenverbrannten Gesichtern, weiße Anzüge hatten sie an und die Freude leuchtete ihnen aus den Augen.

Der kleinste von ihnen streckte die Arme aus: »Vater! Guten Tag, Vater!« rief er und sprang auf die Veranda zu. Bei der Treppe erreichte er seinen Vater und fiel ihm um den Hals. Festumschlungen saßen sie auf der Treppe und weinten und lachten zu gleicher Zeit: »Fritz, mein geliebter Junge!« »Lieber, lieber Vater!«

Die andere Gestalt auf dem Grasplatz aber war nicht mehr zu erblicken. Dagegen sah man Madam Mosts breiten Rücken, die mit ihren Armen etwas umschlang – ihren lieben Peter.

Onkel Brummer stand im Eßzimmer, räusperte sich und trocknete sich die Augen unter den buschigen Brauen; dann schob er ein Kissen unter den Kopf des ohnmächtigen, alten Fräuleins und schlich sich leise hinaus.

* * *

Lange dauerte es nicht, bis Tante Minchen zu sich kam. Sie zitterte vor Schreck über den Anblick der beiden Geister, die sie im Garten zu sehen haben meinte; aber da lag Fritz leibhaftig neben dem Sofa auf den Knien und streichelte und küßte seine alte Tante.

Das war ein Freudenfest, das viele schwere und kummervolle Tage aufwog. Am liebsten hätten die Bewohner der Villa sich eingeschlossen, um sich recht über das Wiedersehen zu freuen. Aber das ging nicht an. Die Neuigkeit von der Heimkehr der Knaben, war wie ein Lauffeuer durch Flensburg geeilt, von Brummers Kontor verbreitete sie sich durchs Telephon in alle Windrichtungen; außerdem hatte man Fritz am Bahnhof erkannt, die Gepäckträger hatten sich darum gerissen sein Gepäck zu tragen, und Marie, die Bäckermamsell, war ganz bis auf die Straße hinausgelaufen.

Im Garten der Villa Thule wehte die Flagge, und den ganzen Tag strömten Freunde und Bekannte herein, um zu gratulieren und die beiden Schiffbrüchigen und geretteten Knaben mit eigenen Augen zu sehen.

Der erste, der kam, war Klaus Döse. Er war gerade im Begriff gewesen, eine Brigg unten am Hafen zu takeln; doch als er die große Neuigkeit hörte, ließ er alles im Stich und rannte barhäuptig und in seiner roten Arbeitsbluse zur Villa. Als Fritz die wohlbekannte, klangvolle Stimme im Hof hörte, sprang er ans Fenster und sah Klaus, der Peter mit einem stürmischen Freudenausbruch herumschwenkte. Fritz raste in den Hof und flog Klaus an den Hals. Da stand nun das dreiblättrige Kleeblatt freudestrahlend – die einzigen Geretteten von der »Anne-Marie.« – Frage und Antwort stolperten übereinander. Klaus hob Fritz in seinen Armen hoch und tanzte mit ihm herum, während Peter etliche Purzelbäume schlug.

Hinterm Küchenfenster sah man Madam Mosts rotwangiges, strahlendes Gesicht und in einem andern Fenster stand Klenow Arm in Arm mit seiner Schwester, Freudentränen rannen ihnen die Wangen hinab.

Das Mittagessen wurde ein Fest. Die Türen wurden jetzt unbarmherzig vor allen Unbefugten geschlossen. Um den Tisch herum aber saß die Familie Klenow, Onkel Brummer und Peter. Madam Most aber wartete auf und selten ging sie an Peter oder Fritz vorbei, ohne ihnen auf die Schulter zu klopfen. Sie war stolz auf ihren Sohn und noch stolzer wurde sie, als der Champagner in den Gläsern schäumte und Klenow sich erhob: »Willkommen Fritz, willkommen Peter! Beinah könnt ich sagen, willkommen aus dem Reich der Toten, denn wir haben Euch betrauert, wie zwei liebe tote Jungen. Gott aber ist gnädig gewesen. Er hat Euch aus Gefahren errettet, über die Ihr uns noch ausführlich berichten müßt, hat Euer Leben viele Male geschont – seine Gnade sei gepriesen!

Aber außer dem Dank, den ich für Deine Errettung an Gott zu entrichten habe, habe ich einen anderen Dank in meinem Herzen, einen Dank an Dich, Peter, für alles, was Du meinem Sohn gewesen bist. Soviel weiß ich schon, daß Du ihn nicht einmal, sondern viele Male aus Tod und Gefahren errettet hast – ohne Deine Hilfe säße er jetzt nicht hier bei seiner Tante und mir – ich werde es Dir nie vergessen, Peter, und Du sollst mich in Zukunft nicht nur als Fritz' Vater, sondern auch als Deinen eigenen betrachten. Ein Hoch für Peter, den mutigen und forschen Jungen!«

Die Gläser klangen gegeneinander, Madam Most verschüttete Champagner vor lauter Rührung, sie weinte vor Freude und Stolz. Kein Auge blieb trocken.

Brummer räusperte sich:

»Gott sei Dank, daß wir Euch wieder haben – das war eine furchtbare Zeit; ich kam mir wie ein Mörder vor und habe seit zwei Monaten Fräulein Minna nicht in die Augen zu sehen gewagt. – Aber jetzt sind wir wohl wieder gute Freunde, nicht wahr, liebes Fräulein? Jetzt verzeihen Sie doch mir altem Sünder? – Aber das will ich Dir sagen, Klenow, Peter darfst Du nicht für Dich allein kapern. Wenn Du sein Vater sein willst, dann bekommt er zwei mit einem Schlag, denn ich will meiner Treu auch für den Burschen sorgen. – Es soll Dir nicht an Mitteln zum Steuermannsexamen fehlen, denk daran, Peter; Prost mein Junge.«

Peter sah sehr glücklich aus über das Lob, das ihm zuteil wurde, Fritz aber sagte: »Du mußt nicht glauben, Onkel Brummer, daß Peter so arm ist, wie bei seiner Abreise; er ist mörderlich wohlhabend, nicht Peter?«

Peters sommersprossige Hände wühlten in dem roten Haar: »Na, so mörderlich wohlhabend doch wohl nicht –«

»Wovon sprecht Ihr da?« fragte Klenow – er hatte von Don Pedros Geld und Pampinas Schmucksachen noch gar nichts gehört. Dazu waren sie vor all dem andern noch nicht gekommen.

»Heute abend wollen wir Dir alles ausführlich erzählen, Vater,« sagte Fritz. »Ich sage Dir, Du hast zwei wohlhabende Söhne bekommen.«

Als sie mit Pfeife und Grog beim Schein der Lampe um den runden Tisch im Wohnzimmer saßen, bekamen die alten Herren und Tante Minchen einen ausführlichen Bericht über die Erlebnisse, und mancher Bewunderungsruf unterbrach den eifrigen Fritz in seiner Erzählung; er sparte nicht an Peters Lob; er war der Held von Anfang bis zu Ende.

Als Fritz schließlich Don Pedros alte Brieftasche von seiner Brust nahm, wo sie noch hing, und Pampinas Schachteln aus dem Koffer holte und ihren Inhalt auf der Tischdecke ausbreitete, da erreichte das Staunen seinen Höhepunkt.

»Donnerwetter, das lasse ich mir gefallen,« rief Brummer aus, während er die Schmucksachen untersuchte, ich glaube, meiner Treu, die sind ihre zwanzigtausend Mark und mehr wert.«

»Wenn Ihr nur ein gesetzmäßiges Anrecht auf diese Geschenke habt,« bemerkte Klenow mit bedenklicher Miene, »es wäre unangenehm, wenn man mit den Erben aneinander geriete.«

* * *

Es zeigte sich, daß alles in schönster Ordnung war. Fräulein Stahl, die Vorsteherin der höheren Töchterschule in Flensburg, konnte Spanisch und übersetzte die Aktenstücke aus der Brieftasche. Das erste war ein Schenkbrief an Peter und Fritz, in dem stand, daß sie alles flüssige Geld und alle Schmucksachen haben sollten. Er war an Bord des Dampfers »Don Carlos« geschrieben und von dem alten Kapitän und Donna Pampina unterzeichnet worden.

Der Goldschmied Bronst tarierte die Schmucksachen, die Perlen und die großen Steine, auf mindestens 30 000 Mark. Sie wurden in Hamburg verkauft, jeder der Knaben aber behielt einen Diamantring zur Erinnerung an die liebe, alte Donna. Dem Rechtsanwalt in Barcelona wurde die Brieftasche zugeschickt. Das besorgte Konsul Hermanns in Cadiz.

Das Geld wurde zwischen den Knaben verteilt, wie sie es in der Jolle bestimmt hatten, als sie nach Calle Portugese ruderten, und Fritz war äußerst erstaunt und froh, als es sich zeigte, daß Pampinas Geschenk dreimal so viel wert war als Don Pedros.

Madam Most dient nicht mehr bei Klenows. Ihr jahrelanger Wunsch ist in Erfüllung gegangen: Sie hat ihr eigenes Heim in Flensburg. In einem kleinen Laden verkauft sie Würste und Käse und leckere, eigenhändig geräucherte Bücklinge, während Peter – der Urheber all dieser Herrlichkeiten – sich fleißig auf sein Steuermannsexamen vorbereitet.

Fritz geht wieder zur Schule. Es ist vorbei mit dem freien Leben.

Manchen Abend aber, wenn er seine Schulaufgaben gemacht hat, und die Zeit ihm lang wird, kneift er aus und besucht Peter.

Dann sitzen die beiden Knaben in Peters gemütlichem Zimmer beisammen und schwatzen von dem entschwundenen Abenteuer, von dem Leben in den Urwäldern von Venezuela.

Und ein sehnsuchtsvoller Seufzer entschlüpft ihnen, Sehnsucht nach neuen Gefahren, neuen Abenteuern – –

 

Ende.

 


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