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Zehntes Kapitel.
Auf dem Orinoco

Peter bekam seine Takelung fertig. Unter der Fock- und Marsrahe hingen Segel, die gesetzt werden konnten, wenn die Maschine versagte. Die Arbeit war sogar merkwürdig leicht und schnell von statten gegangen.

Jeff und Joe zeigten sich erstaunlich arbeitswillig nach ihrem Zusammenstoß mit den beiden Jungen, und ganz unbegreiflich bescheiden in ihrem Auftreten, denn Neger sind durchschnittlich ebenso feige wie träge; sie haben einen von der Sklavenzeit ererbten Respekt vor dem weißen Mann – ein Gefühl, das nur hin und wieder mal aufgefrischt werden muß.

Don Pedro sorgte dafür, daß dieser Respekt noch mehr gefestigt wurde.

Am Tage nach seiner Unterredung mit Peter wurden die Knaben in die Kajüte gerufen.

»Ich will Euch lieber zeigen, wo das Arsenal ist,« sagte der Kapitän, »und Ihr sollt auch lernen mit Schießwaffen umzugehen, – später, auf dem Fluß kann es vielleicht von Nutzen sein.«

Er ging zum Hintergrund der Kajüte. Dieselbe bestand anscheinend nur aus einer gewöhnlichen Eichenholzwand. Don Carlos aber drückte oben und unten auf einen Knopf, da ging die Wand in der Mitte auseinander, jede Hälfte öffnete sich, indem sie sich wie die Türen eines mächtigen Schrankes in Angeln drehte.

Hinter den Türen standen auf langen Borten blitzende Reihen von Schießwaffen, kurzen Büchsen, doppeltläufigen Hagelgewehren. Da waren Revolver und schwere, einläufige Pistolen, Säbel in Stahlscheiden, spitze, feine Degen, Hirschfänger, Messer und Dolche. Auf dem untersten Bort standen viele kleine Kisten, die Patronen für die verschiedenen Gewehre und Revolver enthielten, Schrotkartuschen und Kugelzangen.

Eine solche Waffensammlung hatten Peter und Fritz noch nie gesehen, sie standen stumm vor Bewunderung.

»Man muß auf alles hier im Leben vorbereitet sein, – Pampina und ich haben schon manches erlebt.

Wir können, wenn es nötig ist, eine kleine Belagerung in dieser Kajüte aushalten, – dazu ist sie eingerichtet. Ihr habt die schweren, eisenbeschlagenen Türen gesehen; hier unterm Sofa liegen Schotte mit Schießlöchern, die vor die Fenster geschraubt werden können, und unterm Tisch ist eine Klappe, die zu meiner eigenen privaten Vorratskammer führt, wo Wasser und Proviant für ungefähr einen Monat liegen.

Na, aber jetzt wollen wir mal die Gewehre näher in Augenschein nehmen. Hier auf dem obersten Bort stehen meine eigenen Schießwaffen, und daneben liegt Pampinas Revolver und ihre kleine Büchse. Mit derselben erschoß sie vor fünf Jahren zwei malayische Diebe bei Borneo, die im Begriff waren mit einer Rolle funkelnagelneuem Manilatau und Pampinas Hund auf und davonzurudern – als sie sich weigerten umzukehren, schoß sie ihnen eine Kugel durch den Kopf, erst dem einen, dann dem anderen. Sie kann schießen, Dios mio!«

Don Pedro musterte seine Waffen und putzte, rieb, streichelte jede einzelne. Zuletzt wählte er zwei leichte Hinterladekarabiner und ein Paar amerikanische, fünfläufige Revolver.

»Hier, diese habe ich für Euch ausgesucht – die können bequem ihre hundert Yards schießen, Ihr müßt nur lernen sie zu gebrauchen. Das sind jetzt Eure eigenen Waffen – das heißt, solange Ihr an Bord des »Don Carlos« seid,« fügte er vorsichtig hinzu, denn der Kapitän war nun einmal ein alter Geizkragen. Selbst Peter gegenüber, den er doch in sein Herz geschlossen und dem er unbedingt vertraute, konnte er sich nicht freigebig zeigen.

Daran aber dachten die Knaben keinen Augenblick, sie waren entzückt über die Büchsen, über die Revolver, über die kleinen Messingpatronen, und baten um die Erlaubnis gleich mit den Schießübungen zu beginnen.

Zum Entsetzen der Neger zeigten Fritz und Peter sich kurz darauf auf Deck, jeder mit einem Karabiner über der Schulter und einem Patronengürtel um den Leib. Und sie waren von Wichtigkeit geschwellt.

Oben auf dem Roofdeck, achtern, sollten die Schießübungen stattfinden, und sowohl Don Pedro wie Pampina waren dabei. Eine kleine leere Wassertonne wurde an der langen Lotleine hinausgefiert – einige hundert Fuß vom Achterende des Schiffes entfernt – das war die Scheibe.

Der alte Kapitän war in seinen jungen Jahren ein glänzender Schütze gewesen, aber er behauptete steif und fest, daß seine Schwester ihm noch überlegen sei. Wenn auch die alten Augen jetzt matt, die Hände nicht mehr sicher waren, konnte so leicht niemand es den beiden alten Geschwistern gleichtun. Jeder von ihnen nahm einen der Knaben in die Lehre – es ist wohl überflüssig zu bemerken, daß Fritz Pampinas Schüler wurde. Zwei Stunden dauerten die Schießübungen; erst mit den Karabinern, bis die Schultern der Jungen von dem Zurückprall der Gewehre ganz wehtaten. Hier feierte Pampina einen Triumph, denn Fritz erwies sich unbedingt als der beste Schütze, das eine Mal nach dem anderen traf er dicht neben die Wassertonne, und bei jedem guten Schuß klatschte die Donna ihre Hände auf die dicken Beine und rief »good boy,« »good Fritz.«

Die zweite Stunde wurde dem Revolverschießen gewidmet. Ein viereckiges Stück Holz, auf dem mit Kreide ein Zentrum gezeichnet war und das an der Flaggenleine unter dem Gaffelbaum achtern aufgehängt wurde, diente als Scheibe.

Beim Revolverschießen zeigte Peter seine Ueberlegenheit: sein Arm war stark, seine Hand sicher, und Don Pedro rief aus: »Dios mio, dieser Junge wird noch mal ein Meisterschütze.«

Zuletzt luden Pampina und der Kapitän selbst die Revolver und feuerten jeder fünf Schüsse auf die Scheibe ab, da war aber nichts mehr von dem Kreidezentrum in der Mitte übrig, nur ein großes Loch war in der Mitte zu sehen.

Der Uebung dieses Tages folgten andere. Peter und Fritz wurden tüchtige Schützen, mit Karabinern, Büchsen und Revolvern. Auch die Hagelbüchsen durften sie probieren, und bald konnten sie eine Flasche treffen, die an einer Leine hin und herschwang.

Pampina aber tat diesem Sport bald Einhalt: es gingen zu viel leere Flaschen dabei drauf. Flaschen kosten Geld.

Die Jungen mußten ihre Schießwaffen selbst rein machen und lernten es, die verschiedenen Teile auseinander zu nehmen und einzufetten. Sie lernten Patronen zu füllen und Kugeln zu gießen. Und Don Pedro hatte Freude an seinen lernbegierigen Schülern.

Nelson, Joe und Jeff aber liebten diese Schießerei nicht, sie schielten ängstlich nach den Waffen, und brachten ihrem Feind und Plagegeist, dem Steuermann Peter Most, einen überraschenden Gehorsam entgegen.

* * *

Zweiundzwanzig Tage hatte die Fahrt gedauert; der Dampfer konnte jetzt nicht mehr weit von der Mündung des Orinoco entfernt sein. Die alte Seeuhr des Kapitäns gehörten nicht zu den zuverlässigsten, und er selbst hatte nur wenig Zutrauen zu seinen »Längenmessungen.« Peters »Breiten« zur Mittagszeit waren dagegen tadellos, und mit ihnen konnte der Dampfer den Weg zur Flußmündung finden.

Die Maschine hatte über alle Erwartung gut gearbeitet, und dank des guten Wetters hatte das Schiff seit Cadiz ungefähr fünf und einen halben Knoten in der Stunde machen können.

Von der »unterirdischen« Besatzung hatten Peter und Fritz nicht viel zu sehen bekommen. Ab und zu tauchte eine lange, dunkle Gestalt vorn auf Deck neben einer Balje Salzwasser auf und spülte sich rein. Nach und nach verschwand die schwarze Farbe, die gelbe kam zum Vorschein. Der lange Zopf, der sonst am Hinterkopf in einem Knoten aufgesteckt war, hing lang über den Rücken – und schließlich stand da ein verhältnismäßig reiner Chinese, mit schiefen, melancholischen Augen und hervortretenden Backenknochen. Wenn die Reinigung beendigt war, zog der Mann eine kleine Opiumpfeife hervor, setzte sich in die Hucke und rauchte, langsam und schweigsam, mit geschlossenen Augen.

Eine halbe Stunde später war er wieder vom Deck verschwunden – später tauchte der andere Heizer auf. Sie sprachen mit keinem Menschen, hatten ihren eigenen Proviant: Reis und gesalzenen Fisch, die sie selbst im Feuerraum zubereiteten. Sie arbeiteten getreulich und still, Tag um Tag und Nacht um Nacht, geduldig und zäh, wie Chinesen – die besten Arbeiter der Welt – es zu tun pflegen.

Der schottische Maschinenmeister, Mac Kenty, führte ein noch unbemerkteres Dasein. Er aß, trank und schlief in seiner schwülen Kajüte, die an die Maschine stieß; der Koch Nelson brachte ihm das Essen, aber er nahm nicht viel feste Speise zu sich; Mac Kenty lebte fast ausschließlich von Spiritus – hauptsächlich Whisky.

Er war immer betrunken. Des morgens, wenn er aus seiner Koje taumelte, war er noch leicht berauscht vom vorhergehenden Abend; mitten am Tage wurde sein Zustand »normal«, das heißt, er hatte seine erste Flasche Whisky geleert, war angenehm betrunken und sah das Leben im rosigen Licht. Zu dieser Zeit – zwischen zwölf und vier Uhr – konnte er seiner Beschäftigung nachgehen. Er kroch unten im Maschinenraum herum, goß Oel in die Schmierlöcher, regulierte den Wasserstand in den Kesseln, pumpte den Lastraum lenz; und so geübt war er im Betrunkensein, daß er sich niemals in den Hähnen und Ventilen irrte, selten das Gleichgewicht verlor und niemals zu Schaden kam, wenn der Dampfer auch noch so sehr rollte.

Wenn der Tag zur Neige ging, und Flasche Nummer zwei geleert war, wurde Mac Kenty müde. Dann streckte er sich auf seine Koje, sang einige traurige, schottische Weisen, trank seine dritte Flasche und versank in einen bleischweren Schlaf, der zehn Stunden dauerte; und während dieser Zeit lag es in keines Menschen Macht ihn zu wecken.

Die Chinesen aber besorgten Maschine und Kessel, die Schraube arbeitete unentwegt und ruhig weiter.

Es war, wie gesagt, am zweiundzwanzigsten Tag um die Mittagszeit. Da bot sich ein ungewohnter Anblick: Mac Kenty kam die Maschinentreppe heraufgestolpert und stand auf Deck.

Er war in einer schlimmen Verfassung: seine ganze Bekleidung bestand aus einem schmutzigen, baumwollenen Schlafanzug, seine nackten Füße steckten in kohlengeschwärzten Strohpantoffeln, sein Kopf war unbedeckt, und rötliche, schmierige Haarsträhne hingen ihm über die Stirn. Die blassen, aufgeschwemmten Züge waren von Bartstoppeln bedeckt, die schielenden Augen flackerten bei dem ungewohnten Licht unruhig hin und her.

Mac Kenty war sehr betrunken, er hielt sich am Geländer fest und wußte offenbar nicht, wohin er sich wenden sollte.

Peter aber, der in der Nähe der Maschinentreppe stand, dachte gleich, daß da etwas nicht in Ordnung sei und trat an den Schotten heran.

»Es steht schle – echt mit den Ko – ohlen, Ka – apitän,« lallte der betrunkene Mann.

»Wenden Sie sich lieber direkt an Don Pedro,« schlug Peter vor.

»Is' mir glei – eich, mit we – em ich spreche, wenn nur Ko – ohlen im Ka – asten wären.«

Peter eilte zu Don Pedro: »Der Maschinenmeister steht draußen und sagt, daß keine Kohlen mehr da sind,« lautete sein Rapport, und der Alte kam Hals über Kopf aus der Kajüte heraus.

»Was sagen Sie, Mac Kenty, die Kohlenkasten sind leer?«

»Jawo – ohl, sind lee – er – Sie können ja selbst nachsehen, denn – denn ich ge – eh jetzt wieder ru – unter.«

Damit stolperte er wieder die Treppe hinunter zu seiner Höhle.

Der Kapitän und sein Steuermann sahen sich bestürzt an.

»Keine Kohlen – wie ist das möglich, Steuermann.«

Dieser zuckte die Achseln, die Kohlenkasten waren nicht seine Sache.

Einer der Chinesen hockte vorn und rauchte aus seiner kleinen Opiumpfeife. Er blieb ruhig sitzen, als Don Pedro sich mit einer Frage wegen des Kohlenbestandes an ihn wandte. Der Gelbe streckte drei Finger in die Höhe und deutete auf die Sonne.

»Noch für drei Tage?« fragte der Kapitän.

Der Chinese nickte müde und schloß die Augen.

»Du mußt selbst nach unten und nachsehen, Peter, ich muß wissen, wie das zusammenhängt. Ich habe für dreißig Tage Kohlen eingekauft – das ist ja nicht viel, aber auf dem Fluß können wir Holz bekommen, das ist billiger.«

Peter ärgerte sich über den Geiz des Alten und ließ sich durch eines der Decklöcher in die Kohlenbehälter hinabfieren.

Der Steuerbordkasten war ganz leer, aber im Backbordkasten lagen noch einige Tonnen; das waren schlimme Aussichten. Die Segel taten jetzt gute Dienste, denn der Passatwind war frisch, und Mac Kenty erhielt Befehl nur unter dem einen Kessel zu feuern. Die Fahrt ging schnell auf vier Knoten herunter – es war die reine Schneckenfahrt, aber auf diese Weise konnten die Kohlen doppelt solange aushalten.

Mit dem Proviant fing es auch an knapp zu werden, selbst die genügsamen Chinesen waren bald zu Ende mit ihrem Reis.

Es wurde nach Land ausgespäht. Fritz enterte mit seinem Fernglas zu dem Topp des Fockmastes hinauf und starrte nach Westen, aber länger als eine Stunde konnte er es dort oben nicht aushalten, die Sonne brannte zu sehr, und die fürsorgliche Pampina beorderte ihn herunter.

Als aber der Kapitän demjenigen, der zuerst Land entdeckte, eine Flasche Rum versprach, da konnten die Knaben sich jede weitere Mühe sparen, denn Joe und Jeff balgten sich fast darum, wer in die Höhe entern wollte, und auf ihrer schwarzen Haut konnte die Sonne brennen, soviel sie wollte, das machte ihnen nichts aus.

Am Nachmittag des nächsten Tages schien es Peter, als ob die Farbe des Meeres etwas heller würde, aber es verlor sich wieder. Gegen Abend wiederholte es sich. Es war, als ob der Dampfer durch breite Streifen gelblich gefärbten Wassers schnitte, und kaum hatte Don Pedro diese sonderbare Erscheinung bemerkt, als er dem Maschinenmeister Ordre gab, die Fahrtgeschwindigkeit zu erhöhen – jetzt wußte er, wo er war.

Um seiner Sache ganz sicher zu sein, machte er einen »Wurf mit dem Lot,« der nur zwanzig Faden Wasser zeigte.

»Morgen passieren wir die Barre, Steuermann, der helle Streifen, den Du gesehen hast, war das Wasser des Orinoco, das fast hundert Viertelmeilen weit im Meer zu sehen ist. Wenn Deine Breitenmessungen richtig sind, so ist alles in schönster Ordnung.« der alte Kapitän rieb sich die Hände; seine Angst war dahin, es waren noch für anderthalb Tage Kohlen da, und wenn der Dampfer erst die Barre passiert hatte – die Sandbank von Schlick und Flußschlamm, die sich quer vor jeder Flußmündung erstreckt – dann war das Schlimmste überstanden.

Am nächsten Morgen bei der Tagwache glich das Meer Milchkaffee, ganz gelbbraun war es gefärbt, und als die Sonne am Himmel stand, tauchte vorn ein dunkler Streifen auf, der immer deutlicher wurde. Das war der Urwald an der Mündung des Flusses, oder richtiger die urwaldbekleideten Inseln, zwischen denen der Orinoco seine gelben, schlammigen Wassermassen in das reine, blaue Atlantische Meer ergießt.

Peters Messungen waren offenbar vortrefflich gewesen, denn es zeigte sich, daß der Dampfer geradeswegs auf den kleinen, weißen Leuchtturm lossteuerte, der auf einer der hervorstehendsten Inseln in der Mündung liegt. Fritz hißte die spanische Flagge achtern unter der Gaffel, und bald darauf wehten die Farben von Venezuela von der Spitze des Leuchtturmes.

* * *

Die Mündung des mächtigen Flusses ist ein Delta; große und kleine Inseln liegen wohl zu Tausenden nebeneinander.

Die Größe der Inseln aber hängt von dem Wasserstand des Flusses ab, bald wachsen sie, bald wird ihr Umfang geringer; und ebenso der Fluß. Im Sommer ist er zur Flutzeit, dicht bei der Mündung, über ein und eine halbe Meile breit, während er bei Ebbe zu einem Drittel der Breite zusammenschrumpft.

Tief drinnen in Venezuela, dort, wo die mächtige Parima Bergkette die Grenzscheide gegen Brasilien bildet, entspringt der Orinoco; sein vielgewundener Lauf ist über vierhundert Meilen lang. Von einem schmalen und brausenden Bergstrom entwickelt er sich in seinem langen Lauf zu einem mächtigen Strom, der ungeheure und fruchtbare Talstrecken bewässert. Von fernen Berghalden fließen zahllose Bäche und schäumende Wasserfälle in das Tal des Orinoco; große Flüsse, die in meilenweiter Entfernung geboren werden, strömen in dasselbe tiefe Flußbett, und vergrößern die Wassermassen und die unbezwingliche, reißende Kraft des Orinoco.

Doch ungeteilt erreicht der Fluß das Meer nicht; während der Hauptstrom östlich geradeswegs auf das Atlantische Meer zusteuert, schlägt ein gewaltiger Flußarm eine nördliche Richtung ein und ergießt sich in das karibische Meer, westlich von der Insel Trinidad.

* * *

Der »Don Carlos« dampfte flußaufwärts, und bald lag der Leuchtturm weit hinter ihnen. Aus leicht erklärlichen Gründen vermied der spanische Kapitän es mit den venezuelanischen Zollbeamten in Berührung zu kommen, und er war heilfroh, daß das kleine Kanonenboot, daß in der Flußmündung Wache zu halten und Zollaufsicht zu führen pflegte, sich nicht blicken ließ.

Don Pedro stand selbst auf der Brücke, er kannte den Lauf und das Bett des Flusses genau, jedenfalls im Mündungsdelta.

Man konnte nicht merken, daß der Dampfer sich einen Riesenfluß hinauf bewegte, denn es wimmelte von Inseln, die überall das Fahrwasser und die Aussicht versperrten – obgleich es die Jahreszeit war, wo der Fluß am wasserreichsten zu sein pflegte. Land und Inseln waren mit Wäldern bestanden, die sich wie eine dichte Mauer ganz bis ans Wasser schoben.

Nur geübte Lotsen und Männer mit scharfem Ortssinn wie Don Pedro, die den Orinoco häufig befahren haben, können ein Schiff durch dieses Labyrinth von Wasserarmen steuern. Der alte Kapitän aber irrte sich nicht in der Richtung oder Landkennung. Vier Stunden fuhr der »Don Carlos« mit voller Dampfkraft gegen den heftigen Strom an, und als die letzte Tonne Kohlen von dem Kohlenkasten in den Feuerraum gefegt worden war, wurde alles zum Ankerwerfen klar gemacht. Der Dampfer steuerte in eine kleine Bucht, die gegen den starken Strom geschützt lag, und der Anker fiel.

Fritz empfand es als eine ungeheure Erleichterung wieder Land zu sehen und die lange Reise auf dem Atlantischen Meer hinter sich zu haben; daß dieses Land tausend Meilen und mehr von seiner Heimat entfernt lag, darüber dachte er im Augenblick nicht nach, denn alles, was er auf dem merkwürdigen Fluß sah, erfüllte ihn mit größtem Interesse.

Schon der mächtige, gelbbraune Strom war etwas Neues fürs Auge. Bald strich sein Wasser bedächtig zwischen dunklen Ufern zum Meer, bald wurde er brodelnd und kochend um eine vorspringende Landzunge gewirbelt, bildete Strudel und Wasserwirbel, in denen sich Aeste und Büsche, ja, ganze Bäume herumdrehten.

Oft glitt der Dampfer ganz nah an dichte Inselwälder heran. Kaum einen Steinwurf entfernt standen hundertjährige Baumstämme, schlank und hoch wie blankgescheuerte Mastbäume; hoch oben hatten sie eine Laubkrone und sonst wuchs kein Blatt am ganzen Stamm; oder es waren breite und knorrige alte Riesen, mit Hunderten von Armen, die sich nach allen Seiten reckten.

Mächtige Blattpflanzen, bambusähnliche Rohrbüsche und ungeheure Farmengruppen bedeckten das Untere der Bäume, Schlingpflanzen, mit langen, dornigen Stengeln schlängelten sich an den Stämmen hinauf und machten den Wald zu einer undurchdringlichen Wildnis. Oft wurde das dunkle Laub- und Pflanzennetz von prachtvollen, bunten Blumen unterbrochen, roten, blauen und weißen; in großen Büschen hingen sie von den Stengeln herab oder lagen wie prangende Buketts auf den halbverfaulten, braunrindigen Zweigen uralter Waldriesen.

Längs der Ufer standen, von Schilf und Rohr und vermoderten Baumstümpfen halb verborgen, Reiher, weiß und grau, mit Kopffedern und langen, krummen Schnäbeln. Sie reckten die Hälse, machten mit den hohen, schwarzen Beinen einen Anlauf, breiteten die Flügel aus und flogen mit schweren Flügelschlägen vor dem Dampfer, quer über den Fluß.

Sonnenglanz lag über der weiten Flußlandschaft, strahlend und warm, er schimmerte auf den milchblanken Wellen des Flusses und strich funkelnd längs der schuppigen Blätter der Palmen zu dem Pflanzengewimmel des Urwaldes und dem buntblumigen Waldboden herab.

Nie hatte Fritz eine so wundersame Natur gesehen! Bald stand er über die Reling gebeugt, bald stürzte er zum Steven, um besser sehen zu können, dann auf die Brücke hinauf, um sich dies oder jenes erklären zu lassen, und bevor er die Erklärung bekommen hatte, war er schon wieder achtern. Und immer mit dem Brummerschen Fernglas in der Hand, während das halb verdorbene Futteral ihm auf dem Rücken tanzte und Donna Pampinas Strohhut ihm im Nacken hing. Das größte Erlebnis an diesem Tage aber war, daß er ein Krokodil erblickte. Zuerst hielt er es für einen alten Baumstamm, der auf dem schrägen, lehmigen Uferrand, unter einem riesigen, überhängenden Baum lag; durch das Fernglas aber erkannte er deutlich das große, gewiß drei Meter lange Flußungeheuer; mit aufgerissenem Maul und geschlossenen Augen lag es ganz still wie in Stein gehauen da. Der Rücken war dunkel wie der Schlamm des Flusses, der Bauch unten zwischen den Vorderbeinen aber schimmerte schmutziggelb.

Der brodelnde Lärm der Dampfmaschine weckte das Krokodil; es öffnete die kleinen tückischen Augen, schloß das Maul mit einem Ruck und machte einige erschrockene Schläge mit dem gewaltigen, zusammengedrückten Schwanz, so daß Schilf und Blätter davonstoben. Einige zickzackartige Bewegungen – und das riesenhafte Reptil war in der Tiefe des Flusses verschwunden.

Atemlos vor Spannung war Fritz den Bewegungen des Tieres gefolgt. Nein, daß er wirklich ein lebendiges Krokodil im Freien gesehen hatte! Das war fast wie ein Traum.

Peter aber stand voller Gemütsruhe auf der Brücke und half Joe beim Steuer – zwei Mann mußten an diesem Tage am Ruder sein, denn es wurde unablässig von der einen nach der anderen Seite gedreht, solch knappe Wendungen machte der Dampfer.

* * *

Der Anker war in der kleinen Bucht gefallen, nicht hundert Meter von den nächsten Bäumen entfernt; Don Pedro ließ die Dampfpfeife ertönen, drei lange, gellende Pfiffe, und verließ darauf die Brücke.

»Häng die Leiter aus und laß die Chinesen das Feuer unter den Kesseln löschen,« lautete sein Befehl an Steuermann Peter, »wir bleiben hier einige Tage liegen, um Brennholz an Bord zu nehmen.«

Rings um die Bucht herum stand dichter Urwald; soweit das Auge reichte, war kein Haus, kein Anzeichen von menschlichem Dasein zu erblicken. Peter und Fritz standen just beisammen und überlegten, wie das Brennholz wohl herbeigeschafft werden solle. Fritz meinte, daß die Mannschaft es selbst im Wald fällen solle. Peter aber war anderer Ansicht. Frisch gefälltes Holz sei viel zu feucht, um unterm Kessel zu brennen. Im übrigen sei er überzeugt, daß die Dampfflöte nicht umsonst erklungen wäre, sie sei sicher ein Signal für jemanden an Land.

Wie sie noch so zusammen sprachen, zeigte sich zwischen den dunklen Baumstämmen der Schnabel eines hellen, leichtgebauten Kanoes; es bewegte sich stoßweise vorwärts, bis das ganze Boot sichtbar wurde; in der Mitte des Kanoes saß eine Gestalt unter einem großen, weißen Sonnenschirm, und achtern stand ein Junge, der mit einem kurzen, breitblättrigen Ruder pagaite.

»Dios mio!« erklang da die Stimme des Kapitäns hinter den beiden Knaben, »da haben wir ja schon den Caballero. – Pampina, Pampina!« rief er.

Die alte Dame zeigte sich in der Kajütentür, ein prächtiger Anblick für diejenigen, die sie nur in ihrem Seemannskostüm kannten. Pampina hatte zum erstenmal während der Reise Toilette gemacht; ein faltenreiches, leichtes Gewand aus bunter, indischer Seide umhüllte ihren Körper; ein breiter, ziselierter Silbergürtel umschloß ihre Taille und das ergraute Haar war unter einem funkelnagelneuen Strohhut zierlich frisiert.

Die alte Dame weidete sich offenbar an dem bewundernden Staunen der beiden Jungen, während sie holdselig lächelnd zu ihrem Bruder trat.

»Der Caballero, der gute alte Freund?« rief sie auf spanisch aus, als sie des Mannes im Boot ansichtig wurde; sie zog ihr Taschentuch heraus und winkte eifrig, während der Sonnenschirm in der Ferne sich grüßend bewegte.

Bald lag das Kanoe neben dem Dampfer und der »Caballero« stand auf dem Deck.

Der Fremde war eine merkwürdige Erscheinung mitten im Urwald; er hätte mit seiner hohen, aufrechten, elegant gekleideten Gestalt, seinem weißen Spitzbart, dem aufgewirbelten Schnurrbart und den feingeschnittenen Gesichtszügen, besser zu dem Rücken eines Vollblutpferdes auf einem schönen, spanischen Herrensitz oder an die Spitze eines Regiments Soldaten gepaßt; nun stand er aber auf dem schmutzigen Deck des »Don Carlos« und küßte Donna Pampina mit dem angeborenen Anstand eines spanischen Kavaliers die Hand.

Fritz verstand kein Wort von der lebhaften Unterhaltung, aber es war klar, daß der Fremde und Don Pedro alte Bekannte waren, und außerdem ging aus dem Mienenspiel der Sprechenden hervor, daß der »Caballero« Neuigkeiten brachte, die dem Kapitän nicht behagten. Bald verschwanden alle drei in der Kajüte.

»Das war ein merkwürdiger Herr,« meinte Peter, »er trug einen Diamantring am kleinen Finger – und was er für'n feinen, weißen Anzug anhatte. Wie so einer es hier zwischen Affen und Krokodilen aushalten kann.

Fritz aber hörte ihn nicht, er war viel zu sehr von dem Boot, das neben dem Dampfer lag und dem Jungen, der am Achterende hockte, in Anspruch genommen.

Die ganze Bekleidung des Jungen bestand aus einem rotgeblümten, baumwollenen Lappen, der ihm wie ein kurzer Rock um den Leib hing, und außerdem aus dem Rand eines Strohhutes, der ihm in die Stirn gedrückt war. Der Hut hatte keinen Kopf, nur das blauschwarze Haar des Burschen, das so grob war wie eine Pferdemähne und ihm den Rücken hinabhing, gewährte Schutz gegen die Sonnenstrahlen. Dennoch wirkte er gar nicht nackt, weil seine Haut solch warme, braune Farbe hatte, wie ganz helle Schokolade.

»Das ist ein Indianer,« flüsterte Fritz mit großen, runden Augen, so überwältigt war er von dem Anblick, »eine richtige Rothaut.« Dabei dachte er an »die große Schlange« und das »Falkenauge,« seine Lieblingshelden aus Coopers Romanen.

»Das ist wohl so 'ne Art Nigger, nur etwas heller,« meinte der nüchterne Peter; er hatte nie Indianergeschichten gelesen.

»Nein, nein, das ist was ganz anderes; Rothäute sind stolz – und furchtbar mutig,« erklärte Fritz und nickte dem Knaben im Kanoe zu; dieser lächelte Fritz zu und ließ dabei zwei Reihen starker Zähne in breiten Kiefern sehen.

Peter und Fritz beschlossen, sich ins Boot hinunterzuwagen; da saßen sie nun und betrachteten den Indianer, und er sie.

Peter zog seine alte Zinndose hervor und biß ein Stück Kautabak ab, die »Rothaut« gab zu verstehen, daß sie auch ein Stück abhaben wolle, worauf der freigebige Steuermann ihr die Dose reichte. Der Indianer nahm sie, befühlte und betrachtete das merkwürdige Erbstück von allen Ecken und Enden, grinste vergnügt und steckte Peters teure Dose unter seinen Rock. Das aber ging Steuermann Most zu weit. Mit einer blitzschnellen Bewegung griff er unter den Rock und nahm seinen Schatz wieder an sich. Darauf riß er einen guten Bissen Kautabak ab und reichte ihn statt dessen dem Indianer.

Da steckte Don Pedro seinen Kopf über die Reling und rief zu Peter herunter, daß er die Jolle ins Wasser fieren und klar machen solle.

Die Jolle war dasselbe kleine, schwarzgemalte Boot, in dem die Knaben sich nach dem Schiffbruch gerettet und in dem sie in Flensburg Dorsche gepilkt hatten. Peter hatte demselben während der letzten Tage der Reise sein besonderes Interesse zugewandt, hatte es gestrichen und geputzt; und mit schönen Buchstaben »Don Carlos« draufgemalt; jetzt wurde es mit Hilfe der Neger über die Schiffsseite gehißt und ins Wasser gefiert; wieder lag es in seinem Element, mit Riemen und Gaffeln wohlversehen. Die beiden Knaben liebten das alte Boot, obgleich sie einräumen mußten, daß es neben dem eleganten und schlanken Kanoe des Caballeros sowohl häßlich wie klotzig aussah, – aber es war ja das Letzte, was von der »Anne-Marie« übriggeblieben war.

Die Erinnerungen an die Brigg und an Deutschland, Heimweh und Sehnsucht stürmten auf die Knaben ein, während sie in der schwarzen Jolle auf dem schmutziggelben Wasser des Orinoco saßen und die Riemen auslegten.

Fritz schluchzte und trocknete sich die Augen mit seinen kleinen, sonnenverbrannten Händen: »Wenn die Alten doch nur wüßten, daß wir am Leben sind! Ach, wenn wir doch bald nach Hause könnten.«

»Meine arme Mutter,« seufzte Peter, »sie glaubt gewiß, daß ich ertrunken bin. Aber wir kommen wohl bald zu einer Stadt und von dort können wir dann schreiben oder telegraphieren.«

»Können wir nicht gleich von dort nach Hause reisen, Peter?«

»Don Pedro und Donna Pampina im Stich lassen? Wir haben den Alten doch versprochen ihnen zu helfen, und unser Wort müssen wir halten, so wahr ich Peter Most heiße.« sagte Peter mit großer Bestimmtheit. »Sie haben uns gerettet und gekleidet – und außerdem gibt's dabei ja Geld zu verdienen. Dann kann ich mein Steuermannexamen machen und Du kannst Seekadett werden, Fritz. Also Kopf oben behalten und frisch voran!«

Worauf Peter die Leiter hinaufenterte und dem Kapitän meldete, daß die Jolle klar sei.


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