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Sechs Tage hatte Schiffer Tönjachsen zugebracht, um zu löschen und neue Ladung einzunehmen. Große Fässer mit Wein lagen längs des »Kielschweines« auf dem Boden der Brigg von vorn nach achtern, mit schweren Salzsäcken verstaut. Loses Salz war über die Tonnen gestreut und verdeckte sie ganz. Wenn man durch die Luken hinuntersah, konnte man glauben, daß die »Anne-Marie« mit schmutzigem, grauem Schnee geladen sei.
Am siebten Tage war die Brigg segelfertig.
Konsul Hermanns kam an Bord, um von Tönjachsen und den beiden Knaben Abschied zu nehmen. Er brachte Geschenke: für den Kapitän eine Kiste mit zwölf Flaschen Wein, für Fritz einen grünen Papagei, der in einem Bambuskäfig saß; Peter aber bekam ein großes spanisches Taschenmesser, das mit einer Stahlkette an einem breiten, soliden Ledergürtel befestigt war.
Konsul Hermanns hatte die beiden Knaben lieb gewonnen, sie waren seit dem Stiergefecht in Santa Maria fast täglich bei ihm gewesen, und er hatte durch seine Güte die Erinnerung an die sechs Tage in Cadiz unauslöschlich in den beiden Knabenseelen befestigt. Es waren bereits Briefe nach Villa Thule unterwegs, Briefe, in denen glühende Schilderungen vom Stierkampf und dem merkwürdigen Land, mit begeisterten Lobreden über den deutschen Konsul abwechselten.
Als die Briefe Flensburg erreichten, schwamm die Brigg bereits viele Meilen draußen im Atlantischen Meer. Der Kurs war westlich, auf die Südspitze von Portugal zugehalten.
Jetzt galt es so schnell wie möglich nach Flensburg zurückzukommen. Jedes Segel, das ziehen konnte, wurde gesetzt, der Wind aber spottete der Wünsche des Seemanns, er flaute ab; bald kam eine leichte Brise aus Osten, die das Schiff ein kleines Stück vorwärts brachte, bald wehte es aus Nordwest, und die Segel klapperten gegen den Mast. Im Laufe des Nachmittags wurde es ganz windstill, das Meer lag träge und blank wie Oel, mit runden, weichen Dünungen da.
Es war so warm, daß einem das Atmen ordentlich schwer fiel. Die Planken brannten unter den nackten Füßen, und das Mutterlamm bekam den Befehl, Wasser über das erhitzte Deck zu gießen.
Die Jolle wurde ins Wasser gefiert und Peter und Fritz sprangen mit Teereimer und Besen hinein, um der Schiffsseite einen frischen Anstrich zu geben; der Löschprahm in Cadiz hatte die Backbordseite tüchtig verschrammt. Die Jolle blieb im Wasser, nachdem die Arbeit beendigt war, sie schleppte achtern an der Fangleine hinterdrein.
Jetzt saßen die Jungen im Schatten des Deckhauses, mit dem Papagei Lora zwischen sich und sprachen von Cadiz. Peter putzte sein Messer und rieb einen Fleck von seinem Gürtel; noch nie hatte ihn etwas so beglückt, wie dieses Messer. Fritz aber spielte mit dem zahmen Vogel, der auf dem Dach des Käfigs herumkroch. Fritz wollte ihn sprechen lehren, und er wußte nur noch nicht was: »Guten Morgen, Tante Minchen« oder »Vivat Zummarro,« wie er die Spanier beim Stierkampf hatte jauchzen hören.
Er entschloß sich zu letzterem; denn wie Peter weise bemerkte: ein spanischer Papagei würde doch leichter seine eigene Sprache lernen als Deutsch.
Bei Sonnenuntergang wurde alles von einem undurchdringlichen Nebel eingehüllt, es war nicht möglich von vorn nach achtern zu sehen, und je mehr das Tageslicht schwand, desto schlimmer wurde der Nebel.
Gegen zehn Uhr war es so dunkel wie in einem Schornstein, die Laternen wirkten nur wie farbige Kleckse, selbst wenn man dicht dabei stand. Der Nebel hing wie ein Staubregen über das Schiff, das Wasser troff von Wanten und Stag.
Der alte Tönjachsen war mit schweren, klatschenden Schritten auf dem nassen Deck auf und abgetrabt, und jetzt war er wieder in seiner Kajüte.
Vorn stand Klaus Döse und blies in ein Nebelhorn. Es klang heiser und krächzend, und war gewiß nicht weit zu hören, wie Fritz meinte. Er und Peter krochen beim Ruder unter einen Oelmantel; ab und zu versuchte Fritz mit Hilfe von Onkel Brummers Fernglas die Dunkelheit zu durchdringen, aber er mußte es immer wieder aufgeben, die Gläser wurden von der Feuchtigkeit beschlagen, er steckte das Fernglas wieder ins Futteral, das ihm wie gewöhnlich über der Schulter hing. Fritz und das Fernglas waren ebenso unzertrennlich wie Peter und das spanische Messer.
Fritz war tief betrübt und das Herz war ihm schwer. Doch war es nicht der unheimliche Nebel der stockfinsteren Nacht, der ihn quälte, sondern Loras Schicksal.
Sein geliebter Papagei war fortgeflogen. Fritz hatte ihn frei herumspazieren lassen, erst auf dem Deck, dann auf dem Deckhaus, aber während er zu Abend aß und just bestimmt hatte, daß er den Vogel für die Nacht in den Käfig setzen wollte, hörte er ihn oben vom Top des Großmastes aus laut lachen: Ho, ho, ho! Lora! Lora! schrie der Papagei und guckte, den Kopf auf die Seite gelegt, zu Fritz herunter, der ratlos auf Deck stand.
»Wenn Du nach oben enterst, fliegt er über Bord und ertrinkt. Laß ihn nur oben; wenn Lora Hunger kriegt, wird sie schon wieder runterkommen.«
So lautete Klaus Döses weiser Rat, und jetzt saß der geliebte Papagei in der dunklen, feuchten Nacht dort oben, wahrscheinlich bis auf die Haut durchnäßt. Oh, er würde es sicher nicht überleben!
Fritz saßen die Tränen im Auge und er sprach am Ruder mit flüsternder Stimme zu Peter von Loras traurigem Schicksal. Grabesdunkel brütete über ihnen, hin und wieder ertönte das Tuten des Nebelhornes.
Plötzlich fuhr Peter in die Höhe:
»Laternen am Backbord,« schrie er, »Steuermann, Steuermann, Laternen am Backbord.«
Fritz zuckte zusammen und blickte sich durch den nassen, schwarzen Nebel um, er hörte Klaus Döses gellende Stimme »Dampfer am Backbord« und ein Tuten des Nebelhornes – das Heulen einer Dampfpfeife schnitt durch die Nacht, und Fritz sah ein feuerrotes Licht, wie ein großes, böses Auge dicht neben dem Schiff. Er hörte, wie die Kajütentür aufgerissen wurde – und im selben Augenblick tauchte vom Meer her ein schwarzes, ungeheures Phantom auf, das sich auf die Brigg wälzte.
Fritz fühlte einen Stoß, daß er gegen die Schiffsseite taumelte, er hörte ein Krachen und Knacken, als stürze ein ungeheurer Haufe Brennholz zusammen, ein Lärm von Holz, das zersplittert wurde, Stimmen, die schrien, das Gellen einer Dampfpfeife. Eine Sekunde später fühlte er sich ins Wasser geworfen, stieß mit dem Kopf gegen etwas Hartes, und wurde über eine scharfe Kante gezogen. Dann verlor er das Bewußtsein.
Als Fritz wieder die Augen aufschlug, sah er geradewegs in blitzende Sterne hinein, sein Kopf ruhte weich, aber sein Körper war müde und schmerzte. Er schloß die Augen wieder, aber ihn fror, er zitterte vor Kälte; durchnäßtes Zeug klebte ihm am Körper, und Wasser rieselte ihm über die Hände.
Fritz richtete sich auf. Er saß in der kleinen Jolle, achtern kauerte Peter, in dessen Schoß sein Kopf geruht hatte.
Der Nebel hatte sich gelichtet und die Nacht war klar. Es fing an zu dämmern. Die Jolle rollte hierhin und dorthin, von den Dünungen geschaukelt. Lange saßen die Knaben schweigend im Dunkeln beisammen.
»Peter, was ist geschehen, und wo ist die Brigg?«
»Untergegangen,« lautete die traurige Antwort, »mit Mann und Maus untergegangen. – Der Dampfer hat uns mitten durchgeschnitten, die »Anne-Marie« liegt auf dem Meeresgrunde, so wahr ich Peter Most heiße.«
»Aber was ist aus den anderen geworden – aus dem Kapitän, Klaus Döse und – und Plumps-August und allen?«
»Klaus kann sich an Bord des Dampfers gerettet haben, denn er war ja auf Deck, und der Kapitän übrigens auch. Die anderen aber lagen in ihren Kojen, und der Dampfer rannte gerade in's Deckhaus hinein. – Ich hörte sie drinnen schreien – –«
Ein Strom von Gedanken drang auf Fritz ein, lange saß er schweigend da. Die Zähne begannen ihm im Munde zusammenzuschlagen, so fror ihn.
»Wo ist denn der Dampfer geblieben, Peter? Ist der auch gesunken?«
»Der hat wohl keinen Schaden genommen; er paffte sich von der »Anne-Marie« los, weiter hab ich nichts von ihm gesehen. – Friert Dich, Fritz?«
»Ja, schrecklich.«
»Mich auch.«
Es dämmerte mehr und mehr; Peter spähte nach allen Seiten über die graubleiche Meeresfläche, ob er nicht irgendwo ein Schiff entdecken konnte, aber es war keines zu sehen; dann sank er in seine frühere Stellung zurück, indem er die Beine unter sich hochzog.
»Peter,« begann Fritz wieder, »wie bin ich eigentlich in die Jolle gekommen?«
»Als der Dampfer uns anrannte, erinnerte ich mich, daß die Jolle achtern schleppte, mit den Riemen drin, noch vom Teeren her, weißt Du nicht? Du hingst über der Reling und da schubste ich Dich über Bord – denn man muß sich eilen, ein sinkendes Schiff zu verlassen, sonst zieht es einen mit herunter – –
Als ich Dich über Bord warf, hatte ich das Boot schon losgemacht, und sprang dann selbst hinterher. Es war eine mörderliche Arbeit, mich selbst und Dich an Bord zu kriegen. Du warst wie ein toter Klumpen. – Ich legte die Riemen aus und ruderte, was ich konnte, von der Brigg fort. Das Ganze hatte kaum einige Minuten gedauert. Na, 'ne kurze Zeit vergeht ja immer, bevor 'n Schiff sinkt, und ich brachte uns noch zur rechten Zeit in Sicherheit. Ich begreife nur nicht, daß wir nicht von der Takelung erschlagen wurden, denn ich hörte sie ins Wasser platschen – ich glaub, der Großmast ging über Bord.«
Die Sonne ging auf, strahlend und warm, die schreckliche Nacht war zu Ende. Das Tageslicht aber brachte keinen Trost, im Gegenteil, es enthüllte nur Gefahren, die der Schleier der Nacht verdeckt hatte: in einer kleinen, gebrechlichen Jolle, zwölf Fuß lang, schwammen die beiden Knaben auf dem Atlantischen Meer viele Meilen von dem nächsten Strand entfernt, ohne Wasser, ohne Nahrung, vor Kälte zitternd, triefendnaß.
Das Meer war ruhig, nur die Dünungen rollten, der Wind strich sachte über's Wasser; wenn aber das Meer sich erheben, ein Wind aufkommen würde, dann mußten die Knaben ertrinken, Rettung war unmöglich.
Peter war der erste, der sich zu einer Handlung aufraffte.
»Wir müssen uns ganz ausziehen, Fritz, und unser Zeug trocknen.«
Viel Kleidungsstücke gab's da nicht: zwei Paar Hosen, zwei Hemden, Fritz' Jacke und Peters Mütze. Die beiden Riemen wurden quer übers Bord gelegt und die Kleider darübergebreitet. Peter trug noch sein Messer am Gurt um den Leib, und unter der mittleren Ruderbank lag das Fernglas in einer Wasserpfütze. Fritz ging es wie ein Freudenstich durchs Herz, als er sein teures Fernglas sah; es war patschnaß und das Futteral fast aufgeweicht, aber das konnte ja alles wieder trocknen; das Glas war da, das war die Hauptsache.
Peter und Fritz saßen jetzt nackt in dem schlingernden Boot und überlegten, was zu tun sei. Zuerst mußte die Jolle lenz geschöpft werden. Das Oesfaß war nicht da, Peters Mütze aber tat gute Dienste; sie östen abwechselnd das Wasser aus, und die Arbeit hielt sie warm.
Dann wurde das Boot gründlich untersucht; viel fanden sie nicht: die Fangleine schleppte vorn, dort lag auch eine leere Flasche. Aber in dem Loch unter der Ruderbank achtern, wo sie in Flensburg Pilkschnüre und ihren Frühstücksproviant aufzubewahren pflegten, zeigten sich schon bessere Dinge: ein Paar Segeltuchschuhe, die Peter gehörten, ein großes, schmutziges, rotkarriertes Taschentuch, das aus dem Besitz des Mutterlamms stammte, außerdem vier Apfelsinen und ein großes Stück Weißbrot, das jedoch von Salzwasser durchweicht war.
Das war alles – vier Apfelsinen und etwas Brot, aber keinen Tropfen Wasser. Sollten sie vor Hunger und Durst sterben? Peter fühlte, wie die Angst ihm das Herz zusammenpreßte und in den Schläfen klopfte. Er erhob sich in der schlingernden Jolle und sah sich um. Kein Schiff war zu sehen, kein Rauch von einem Dampfer zu entdecken. Weit hinten am Horizont, gerade unter der Sonne, meinte er ein Segel zu erkennen; aber das war so weit, weit fort, und es war windstill.
»Peter, ich bin so schrecklich durstig.«
»Ja, siehst Du, Fritz, diese vier Dinger sind alles, was wir zu essen und zu trinken haben, denn das Brot taugt nichts. Mehr bekommen wir nicht, bevor ein Schiff kommt, aber das kann wohl nicht mehr lange dauern. Jetzt teilen wir die erste Apfelsine – das ist unser Morgenbrot,« fügte er mit einem verzweifelten Versuch, zu scherzen, hinzu.
Dann schnitt er die gelbe Frucht durch, und gab Fritz das größte Stück. Sie saugten den Saft aus, vorsichtig, damit auch nicht ein Tropfen verloren ginge, dann aßen sie das Fleisch und schließlich auch noch die Schale; nicht ein Kern blieb übrig.
Die Kleider waren jetzt fast trocken und die Knaben zogen sie an. Das karrierte Tuch des Mutterlammes tat gute Dienste, Peter machte vier Knoten hinein und gebrauchte es als Mütze – seine eigene Mütze nötigte er Fritz auf; und es war gut, daß sie beide etwas hatten, womit sie ihren Kopf schützen konnten, denn die Sonne brannte bereits stark.
Die beiden Jungen saßen nun in dem schaukelnden Boot, von der Sonne geplagt, von einem furchtbaren Durst gequält, während der Hunger in ihren Därmen schrie. Bereits lange bevor die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel erreicht hatte, waren alle Apfelsinen verzehrt und das nasse, salzige Brot ebenfalls. Aber kein Schiff ließ sich blicken.
Es fing wieder an Abend zu werden. Peter saß achtern und starrte vor sich hin. Er wackelte mit dem Oberkörper hin und her, als ob er schlimme Schmerzen habe. Fritz lag auf dem Boden des Bootes und hatte seinen Kopf in die Arme vergraben. Ab und zu hob er den Kopf: »Siehst Du etwas, Peter?« aber er verbarg sein Gesicht wieder, Peter hatte den Kopf geschüttelt.
Die Zeit schlich langsam hin, es war nichts zu machen, nichts konnten sie sich vornehmen; sie mußten warten und hoffen – warten, daß ein Schiff vorbeikäme, hoffen, daß sie gesehen würden.
Der Hunger war schlimm, aber der Durst noch schlimmer. Peter fühlte, wie etwas ihn im Hals schmerzte, das war der salzige Geschmack des Brotes, – und nichts, womit sie ihn herunterspülen konnten. Die Zunge wurde dick, sie klebte am Gaumen. Da richtete Fritz sich langsam auf, sein Gesicht war weiß, seine Augen wild und blutunterlaufen.
»Peter, ich kann nicht mehr! Ich glaub, ich sterbe,« lallte er und hielt sich die Augen zu. »Ich sterbe, ich ersticke – oh, Peter, hilf mir!«
Peter zog ihn zu sich heran, richtete ihn auf, bettete seinen Kopf zwischen seine Knie und strich ihm liebkosend über die Wangen.
»Soo, soo, halt nur noch eine kleine Weile aus, lieber, kleiner Fritz, wir werden sicher gerettet. – Lieber, kleiner Fritz, lieber, kleiner Fritz.« Und die Tränen liefen ihm die Backen hinab.
Fritz saß ganz still, dann fing er an zu murmeln:
»Vater unser, der du bist im Himmel – – oh, ich sterbe, ich sterbe – – Vater unser – Vater unser –.« Weiter kam er nicht, dann sank sein Kopf hintenüber, bewußtlos lag er in Peters Armen.
Die Wogen rollten, das Boot schlingerte hierhin und dorthin, langsam glitt die Sonnenscheibe ins Meer hinab – kein Schiff war zu sehen – Rettung schien unmöglich.