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Drinnen in der Kajüte hatten Don Pedro, Pampina und der Fremde, der »Caballero« genannt wurde, in ernstem Gespräch um den Tisch gesessen und beratschlagt. Es stand deutlich auf ihren Gesichtern zu lesen, daß es keine angenehmen Sachen waren, die verhandelt wurden.
Wie bereits berichtet, war Peter Most schon zu Anfang der Fahrt von Don Pedro in den eigentlichen Zweck der Reise, nämlich in die Ausschiffung einer großen Waffenladung für die Aufständischen in Venezuela, eingeweiht worden, und er hatte später noch weitere Aufklärungen über die Verhältnisse des Landes erhalten, aus das der »Don Carlos« lossteuerte, so daß er recht gut über die Schwierigkeiten, die bevorstanden und die Gefahren, denen die Expedition auf ihrer Fahrt den mächtigen Fluß hinauf, ausgesetzt war, Bescheid wußte.
Es ist jetzt erforderlich – zum Verständnis der Geschehnisse, denen die beiden deutschen Knaben entgegengingen – eine kleine Schilderung der Verhältnisse des Landes zu geben, das Don Pedro als »das reichste der Welt, aber von Satan und allen bösen Teufeln besessen,« bezeichnet hatte.
Venezuela war ehemals – wie viele der südamerikanischen Republiken – eine spanische Kolonie gewesen, und als solche vom Mutterland ausgesaugt, gequält und schlecht regiert worden. Venezuela war die erste Kolonie, die sich von Spanien losriß, um ein eigenes, unabhängiges Leben zu führen, und sich als selbstständige Republik, mit dem großen Frankreich als Vorbild zu entwickeln.
Es dauerte viele Jahre und kostete unzählige Menschenleben bis es soweit war, und als Venezuela sich endlich, zu Anfang des vorigen Jahrhunderts seine Unabhängigkeit erkämpft und zu einer neuen Republik geordnet hatte, ging es genau wie in Frankreich: die Macht, die Präsidentenwürde, kam in die Hände von ehrgeizigen Personen, die die hübschen Regierungsprinzipien, denen die Republikaner huldigen, aber die im wirklichen Leben so unendlich schwer durchzuführen sind, ganz vergaßen. Sie konnten der Versuchung, ihre Machtstellung zum eigenen Vorteil auszunutzen, nicht widerstehen.
Die Präsidenten waren tüchtige Leute, mit großer Willenskraft, aber sie vergaßen nie ihren eigenen Vorteil; lieber sahen sie das Land unter den grausamsten Bürgerkriegen leiden, als daß sie die einmal errungene Gewalt aus den Händen gaben.
Paez, Monagos, Faleon und Guzman Blanco waren die ersten Inhaber der Präsidentenwürde in Venezuela, und unter dem tüchtigen, aber stahlharten Diktatorregiment des letzteren lebte das Land – wenn auch nur für kurze Zeit – unter ruhigen Verhältnissen. Guzman Blanco aber wurde verjagt, und so gut hatte er während seiner Regierungszeit seinen eigenen Vorteil zu wahren gewußt, daß er das Ende seiner Tage als Pariser Multimillionär verbringen konnte. Nach Guzman Blanco's Tod wurde das Vermögen, daß er seinem Vaterland geraubt hatte, auf zweihundert Millionen Franks geschätzt.
Ein hübsches Beispiel zur Nachahmung für seine Nachfolger.
Noch heutzutage ist Venezuela das reiche Land mit den großen Zukunftsmöglichkeiten; zu der Zeit aber, wo diese Geschichte gespielt, war es seinem Ruin nahe. Die Regierungspartei plünderte, und die Opposition im Lande bildete Verschwörungen, machte Aufruhr, versuchte die Macht an sich zu reißen, – um dann selbst nach Herzenslust plündern zu können.
Gerade jetzt gärte eine neue Verschwörung. Seit Jahr und Tag war sie vorbereitet: Geld wurde gesammelt, waffentüchtige Männer geworben und Schießwaffen aus Europa und Nordamerika verschrieben. Bald sollte es losgehen: die Garnisonen und Truppen der Regierung sollten überrumpelt, die Hauptstadt Caracas eingenommen, der Präsident abgesetzt und die siegreichen Generäle der Aufrührer, an der Spitze einer neuen Regierung eingesetzt werden. Was dieser Verschwörung mehr Schwung und Bedeutung gab als den früheren, war der Umstand, daß der Papst selbst seine Hand über die Aufständischen hielt.
Denn der heilige Vater in Rom hatte schon lange Grund zur Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in Venezuela gehabt. Frühere Präsidenten hatten alle Mönchsorden aufgehoben, Kirchen- und Klostergut eingezogen, der Macht des Papstes getrotzt und seine Bannbullen verhöhnt.
Viele venezuelanische Bürger aber waren gute Katholiken, und mit Begeisterung schlossen sie sich den Gegnern der Regierung an, die dem Papst blinde Unterwerfung versprachen. Von Rom wurden tüchtige, redegewandte Jesuitenmönche ausgesandt, die in Venezuela herumreisten und Aufruhr gegen die Obrigkeit des Landes predigten, und bedeutende Summen päpstlichen Goldes unterstützten die Aufruhrpartei bei ihren Vorbereitungen.
Aber auch die Regierungspartei war nicht untätig; sie war genau über die aufrührerische Gärung im Lande unter den fanatischen Katholiken und über die Agitationsarbeit der Verschworenen unterrichtet, und darum versuchten der Präsident und seine Anhänger neues Blutvergießen abzuwenden, indem sie die Teilnehmer des Komplottes überrumpelten und gefangen nahmen, und vor allen Dingen jede Waffeneinschmuggelung verhinderten.
Unter diesen schwierigen Verhältnissen war der »Don Carlos« in den Orinoco hineingedampft, mit »Kontrebande« – versteckten Waffen und Munition – geladen. Wie durch ein Wunder war der Dampfer der Untersuchung des in der Flußmündung patroullierenden Kanonenbootes entgangen – einer Gefahr, die jedoch noch lange nicht überstanden war, denn das Wachtschiff durchstreifte das Delta kreuz und quer, mit einem Eifer und einer Findigkeit, die dank der großen Summen, die die Regierung für Konfiskation von Waffensendungen und Auftreibung von Schmugglern ausgesetzt hatte, eine ungeahnte Höhe erreicht hatten.
Und in der Kajüte des Dampfers saß der »Caballero,« einer der Hauptführer der Verschwörung, kein Geringerer als der bekannte General Silvela selbst, der militärische Leiter des Aufrührerheeres, ein vogelfreier Mann, für dessen Ergreifung – tot oder lebendig – die Regierung in Venezuela zehntausend Dollars ausgesetzt hatte.
Der General war ein alter Bekannter von Don Pedro und Pampina aus der Zeit, als die Geschwister mit ihrem Dampfer zwischen der Hafenstadt von Caracas, La Guapra und anderen Plätzen am caribischen Meer fuhren. Damals war Silvelas Partei am Ruder, und er selbst der Freund und die beste Stütze des Präsidenten. Die Zeiten aber ändern sich – jetzt war er vogelfrei, und seine Freunde wagten nicht einmal ihn beim Namen zu nennen; »Caballero« nannten sie ihn.
Zwischen dem General und Don Pedro war der Kontrakt über die Waffenlieferung geschlossen worden, und Silvela selbst hatte das Kommen des Dampfers erwartet, um dem Kapitän mit Rat und Tat während der gefahrvollen Flußreise beizustehen.
* * *
»Ja, soweit wären wir gekommen, aber noch ist kein Ende abzusehen,« bemerkte der General und knipste die Asche von seiner Zigarre, so daß der Brillant an seinem kleinen Finger, in der halbdunklen Kajüte Blitze schoß. »Die Flußpolizei ist so eifrig wie eine Schar ausgehungerter Geier, die ein Aas riechen; außer den drei Kanonenbooten haben sie ein halbes Dutzend Dampfschiffe geschartert, die Tag und Nacht unterwegs sind. – Aus Caracas hat man nämlich bereits Nachricht erhalten, daß eine Waffensendung aus Spanien kommt – –«
»Heilige Madonna!« rief Pampina aus, »sind wir bereits verraten?«
»Es gibt überall Verräter, und die verfluchte Regierung bezahlt ihre Spione reichlich; aber wir werden ihnen schon ein Schnippchen schlagen. Die Offiziere des einen Kanonenbootes gehören unserer Partei an, und wir haben auch einige der Flußdampfer auf unserer Seite, aber dies hier ist gerade die gefährlichste Stelle. Es ist Kapitän Torlanos Revier, dieses Raubvogels, und der kennt den Fluß in und auswendig; man ist nirgends sicher vor seinem Kanonenboot – jedenfalls nicht die ersten hundert Meilen flußaufwärts.
»Sie haben uns aber selbst hierherbestellt, Caballero,« bemerkte Don Pedro, der düster und mißmutig auf seinem Stuhl saß und sich über die Flußkarte beugte, mit einem Zirkel in der Hand.
»Sehr wahr, mein lieber Kapitän, und Sie müßten mich genug kennen, um zu wissen, daß ich meine guten Gründe dafür hatte. Als ich Ihnen zuletzt schrieb, war nicht Tarlano, sondern unser guter Freund, der Italiener Cipio Cilicco, Chef des Wachtschiffes. Er wurde indessen verraten und gefangen genommen, als der »Don Carlos« bereits den Hafen von Cadiz verlassen hatte. Vor einer Woche wurde Cilicco erschossen – mögen die Raben seine Mörder fressen!«
»Nun, seine Seele ruhe in Frieden!« fuhr der Caballero fort, »das Wichtigste ist, daß der »Don Carlos« so schnell wie möglich von hier fortkommt – haben Sie Kohlen?«
»Keinen einzigen Eimer mehr.«
»Carambo! – Das ist ärgerlich. Dann müssen Sie Brennholz an Bord nehmen, davon gibt's genug im nächsten Dorf. Und wir müssen gleich damit anfangen. Haben Sie einen Boten, den Sie an Land schicken können?«
»Ihren Indianerjungen –« schlug der Kapitän vor.
»Nicht um alles in der Welt! Ich muß mir den Rückzug freihalten – gesetzt, Torlano zeigte sich mit dem Kanonenboot. – Schicken Sie den Steuermann mit einer Jolle.
Darum wurde die Jolle klar gemacht; der General kritzelte einige Worte in sein Taschenbuch und riß die Seite heraus. »Sagen Sie mal, Don Pedro, was haben Sie für Mannschaft an Bord, wohl wie gewöhnlich nicht die beste?«
Der Kapitän rieb entschuldigend seine spitze Geiernase: »Ehrlich gestanden, ich hab nie eine schlechtere gehabt – drei Neger, zwei Chinesen und einen versoffenen Maschinenmeister.«
»Du vergißt die Jungen, Pedro,« fiel Pampina ihm ins Wort, »zwei ausgezeichnete Knaben, Caballero, die wir mitten im Atlantischen Meer geborgen haben.« Und die Donna gab dem General eine begeisterte Schilderung von Peter und Fritz, – »und sie sind aus Deutschland, Caballero, aus diesem schönen, wohlgeordneten Land, wo man keine Verräter kennt.«
General Silvela war froh, daß es Seelen an Bord gab, denen man wichtige Aufträge anvertrauen konnte, wenn es auch nur Knaben waren, denn, wie er ausdrücklich sagte: wie Sie sich auch einrichten wollen, Don Pedro, soviel ist sicher, daß nicht ein einziger der übrigen Besatzung Zeuge von der Löschung der Waffen sein darf, nicht ein einziger. – Es könnte Ihnen sonst sowohl Leben wie Dampfer kosten.«
Der Kapitän seufzte und antwortete mutlos: »Ich fürchte, daß ich meinen Kopf in eine Schlinge gesteckt habe, wenn ich nur nicht baumeln muß,« und er machte eine Bewegung, als lege er eine Schnur um seinen Hals.
Der General aber schlug ihn ermunternd auf die Schulter und lachte.
»Ach was, Don Pedro, Sie pflegen ja immer heil aus Ihren Abenteuern hervorzugehen – allein der Umstand, daß sie mit dem alten, baufälligen »Don Carlos« lebendig über das Atlantische Meer gekommen sind, beweist deutlich, daß Ihnen gute Geister beistehen. – Selbst wenn der Tod sich diesmal nicht narren läßt, alter Freund, so sterben wir für eine gute Sache, für die heilige Kirche, und der Papst hat uns Absolution erteilt! – Aber wir werden uns schon durchhauen, mein Freund, und ein guter Verdienst ist Ihnen sicher. Wenn ich mich recht entsinne, so haben wir uns verpflichtet, Ihnen zwanzigtausend Dollars auszuzahlen, sobald der Dampfer im Fluß Anker geworfen hat, und den Rest des Betrages, wenn die Kisten an Land und in Sicherheit gebracht sind.«
»Sehr richtig, sehr richtig,« bekräftigte der Kapitän mit großem Eifer. Sowie die Geldfrage angeregt wurde, war sein Mißmut wie fortgeblasen. »Hier ist der Kontrakt – zwanzigtausend Dollars, oder hunderttausend Pesetas, zahlbar an einer europäischen Bank – in Gold, steht da ausdrücklich.«
Der General lächelte und zog seine Brieftasche hervor.
»Hier ist die Anweisung, mein braver Kapitän, sie lautet auf Ihren und Donna Pampinas Namen, ist für die Nationalbank in Barcelona ausgestellt und von mir und dem Erzbischof unterschrieben – wollen Sie die Güte haben mir eine Quittung dafür zu geben.«
Don Pedro und seine Schwester standen Kopf an Kopf über das kostbare Papier gebeugt, das vor ihnen auf dem Tisch lag; Geldgier leuchtete ihnen aus dem Gesicht. Pampinas Nase krümmte sich ganz über ihren Mund, und indem sie den Unterkiefer öffnete, sah es aus, als ob sie eine Schublade öffnete.
»Verwahren Sie diesen Zettel gut,« warnte der General, »denn in diesen Zeiten ist es leichter einen Mann an den Galgen zu bringen, als eine Geldanweisung mit diesen beiden Namen zu bekommen.«
Die beiden Geschwister zuckten zusammen; der Kapitän ließ seine knochige Hand schwer auf die Anweisung fallen, es klang wie ein Keulenschlag.
»Diese Anweisung soll mir nicht den Hals kosten,« murmelte er und schlich in seine Schlafkajüte. Der General hörte, wie Schlösser mit scharfem Stahlklang geöffnet wurden, hörte das Knarren von Türangeln und das Klappen eines Deckels oder einer Falltür. Dann kam der alte Geier zurück.
»Wir wollen jetzt den Steuermann nach Brennholz schicken,« sagte er und rief Peter.
* * *
Die Sonne war bereits hinter den Baumwipfeln des Urwaldes versunken, als Peter und Fritz quer über die kleine Bucht auf einen verdorrten Gummibaum zuruderten, dessen gelblicher, verwelkter Stamm zwischen dunklen Stämmen und grünem Laub leuchtete.
Hinter dem Gummibaum sandte der Fluß einen schmalen, gewundenen Lauf landeinwärts, kaum fünfzehn Meter breit, und dort hinein steuerten die Knaben die Jolle. Am Vordersteven hatten sie eine kurze Stange angebracht, einen Besenstiel, an dem ein Stück grünes Musselin wehte, das der Caballero ihnen gegeben hatte: »Verliert es nicht,« hatte Don Pedro gesagt, »denn sonst könnt Ihr leicht eine Kugel in den Leib bekommen. Denkt daran, daß Ihr überall von bewaffneten Leuten umgeben seid, man sieht sie nur nicht.«
Die Knaben ruderten ohne Zögern in den schmalen Kanal hinein.
Schilf und Rohr schossen längs der Ufer in die Höhe, so daß man die Bäume, deren Zweige übers Boot hingen, kaum sah; oft wurde der Lauf so eng, daß die Laubkronen von beiden Seiten zusammenstießen; es war fast dunkel in dem schweigenden Wald. Aber wunderliche Geräusche ließen sich hören, bald war es wie das Rascheln von Tieren, die durch Unterholz brachen, bald wie das flötende Rufen einer Eule, das von weither beantwortet wurde.
Schließlich kamen die Knaben zu einer Stelle im Flußlauf, wo ein weiteres Vordringen unmöglich schien: zwei dicke Baumstämme, einer von jeder Seite, ragten quer über den Kanal, es war ausgeschlossen, daß die Jolle hier passieren konnte. Als aber Peter und Fritz just die Riemen ruhen ließen und beratschlagten, was zu tun sei, sahen sie zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen, wie die Stämme sich langsam und mit einem knarrenden Laut fast lotrecht in die Höhe hoben und die Passage freigaben. Die beiden Jungen sahen sich unsicher an – sie fühlten sich nicht übertrieben wohl bei diesem Phänomen, Peter aber zuckte die Achseln und rief in breitem Holsteinisch: »Lat di man nich verblüffen!« Und damit ruderten sie weiter. – Es blieb nun nur noch eine Biegung des Kanals übrig, dann waren sie an ihrem Bestimmungsort, und alle Wetter! was gab es da für Fritz zu gucken!
Der schmale, gewundene Lauf mündete in einen kleinen See, an dessen Ufern Hütten und kleine Häuser lagen, ein ganzes Dorf.
Der See lag blank und still da, von dunklen Bäumen umkränzt. Die Hütten, aus Lehm und Holzwerk erbaut und mit verwelkten, gelben Palmenblättern gedeckt, spiegelten sich so klar in der Wasserfläche, als seien sie auf eine ungeheure Leinwand gemalt; wunderliche Gestalten, halbnackte Männer und Frauen in zerlumpten Kleidern standen zwischen den Hütten oder lagen am Ufer des Sees. Alle starrten unverwandt auf die Knaben im Boot. Diese fühlten sich von dem plötzlichen Anblick dieser wildaussehenden Waldmenschen und der ganzen bunten Szenerie im Urwald ganz unheimlich berührt; am liebsten wären sie umgekehrt, aber sie hatten ja den Brief des Caballeros, den sie abliefern mußten.
Ein paar Ruderschläge brachten sie in die Mitte des stillen Wassers, dort lagen sie wieder abwartend still und blickten sich um.
Der runde Waldsee mochte wohl eine Viertelmeile im Umkreis sein und schien ganz von Wald umgeben. Nur hier und dort sah man offene Plätze, wo Bäume gefällt waren, um Mais- und Reisfeldern Platz zu machen; rings um das Dorf waren zahlreiche Bananenbäume angepflanzt, und zwischen den Hütten lagen kleine Gärten, wo Yams und süße Kartoffeln in regelmäßigen Reihen ihre rotgelben Spitzen in die Höhe steckten.
Spitzschnäblige, schmale Kanoes und große, breite Boote und Leichter lagen längs des Ufers vertäut. Links vom Dorf erhob sich eine sträucherbewachsene Insel aus dem See; zwischen dieser und dem Land sah man undeutlich die Umrisse eines kleinen Dampfers, dessen weißgemalte Seiten nur einige Fuß hoch über die Wasserfläche ragten. Längs der Ufer lagen große Haufen Brennholz, lange Klafterhölzer, die in regelmäßig gebauten Pyramiden aufgestapelt waren.
Da fiel das Auge der Knaben auf ein solides Mauersteingebäude, rechts vom Dorf, das zwischen den Bäumen hervorlugte. Das Haus, das von roten Steinen erbaut war, glich fast einer kleinen Festung, denn es war an allen Seiten von Mauern umgeben, und um diese herum war eine Reihe zugespitzter Baumstämme in die Erde gerammt, die offenbar in unruhigen Zeiten als Palisaden dienten. Da wußten Peter und Fritz, wo sie den Brief des Caballero abliefern sollten.
Eine Allee von Kokospalmen führte von der Palissadenpforte geradeswegs zum See hinunter und wurde noch ein Stück im Wasser als solide Holzbrücke fortgesetzt. Dorthin ruderten die Knaben und sprangen an Land.
Peter trug den Brief in der Hand und Fritz hatte den Besenstiel mit dem grünen Musselin vom Steven mitgenommen; er hielt ihn wie eine Parlamentärflagge im erhobenen Arm, und so marschierten sie durch die Allee.
Es lagen Hütten zu beiden Seiten des Weges, zwischen denen kleine, gelbbraune, nackte Kinder herumliefen und spielten, sich aber schreiend versteckten, sobald sie der beiden weißen Knaben ansichtig wurden; knurrende, borstenhaarige, gelbe Hunde sprangen drohend in die Höhe und fletschten die Zähne, Fritz aber langte gewaltig mit der Fahne nach ihnen aus, worauf die bösartigen Tiere sich in gehörigem Abstand hielten.
Als sie aber mitten in der Kokusallee waren, blieb Peter plötzlich stehen und öffnete eiligst sein Taschenmesser, indem er geradeaus zeigte: ein mächtiger, schwarzer Panther lag keine fünf Meter von ihnen entfernt, im Schatten eines Tamarindenbusches; er hatte die Glieder unter seinen Bauch gezogen, genau wie eine ungeheure, schwarze Katze, die sich zum Sprung bereitet.
»Verflucht, da sind wir in 'ne schöne Patsche geraten,« rief Peter aus und faßte sein Messer mit einem festen Griff. Und Recht hatte er: ein großer Panther vor ihnen, bellende Hunde im Rücken und ein Haufe Indianer, der aussah, als hätte er Uebles im Sinn; das war eine Lage, die zwei Knaben wohl aus der Fassung bringen konnten.
Da aber ertönte ein scharfer Pfiff aus dem roten Haus, und zwischen der Palissadenreihe kam ein Mensch zum Vorschein, ein Mann, der Schiffer Tönjachsen in dem Maße glich, daß die Knaben einen Augenblick vor Entsetzen über die übernatürliche Erscheinung wie versteinert stehen blieben: es war dieselbe riesenhafte, etwas vornübergebeugte Gestalt, derselbe struppige, ergraute Bart, die buschigen Augenbrauen, der stampfende Gang. Indem er aber näherkam, wurde der Eindruck abgeschwächt, denn die Augen waren schwarz und funkelnd, und eine blutrote Narbe zog sich von der Nasenwurzel über die Stirn und verlor sich im Schatten des breiten Strohhutes.
Der Mann war wie ein Mönch gekleidet; eine weiße, faltenreiche Kutte hing lose um den starken Körper und wurde um den Leib mit einer groben Hanfschnur zusammengehalten.
Beim Laut des scharfen Pfiffes hatte der Panther den Kopf gedreht, die Hunde hatten aufgehört zu bellen, und als die weiße Gestalt in der Allee auftauchte, legte das große Raubtier sich auf die Seite und streckte die Glieder von sich, wie die friedlichste, einschmeichelndste Katze von der Welt.
Den Knaben kehrte der Mut zurück, Peter legte sein Messer zusammen und ging keck an dem Panther vorbei auf den Fremden zu, von Fritz auf den Hacken gefolgt.
Dies mußte Pater Dominico sein, wie die Aufschrift auf dem Kuvert lautete. Und so war es auch, denn der Mann mit der weißen Kutte und dem breiten Strohhut öffnete gleich das Kouvert und las den Inhalt des Briefes.
Kaum war der Pater fertig, als er zwei Finger in den Mund steckte und einige schrille Flötentöne hören ließ. Das hatte zur Folge, daß ein Teil zerlumpter Indianer angelaufen kam; bald war er von einem Haufen dunkelhäutiger Individuen umringt, die es sich scheinbar sehr angelegen sein ließen, die Befehle, die der ergraute Pater erteilte, auszuführen. Denn sie zerstreuten sich in eiligem Lauf zwischen den Hütten des Dorfes und die Boote am Ufer. Die ganze Bevölkerung schien wie durch einen elektrischen Schlag in die lebhafteste Bewegung versetzt worden zu sein.
In der Allee stand der große, bärtige Mann, er hatte die Hände hinter den Hanfstrick geschoben und blickte mit ruhigen, scharfen Augen über den stillen Waldsee. Der schwarze Panther strich knurrend und liebkosend um seine Beine.
Peter und Fritz standen hinter dem seltsamen, alten Mann und betrachteten ihn und das Tier, drehten sich aber um, als sie Gesang und Stimmen aus dem Hause hörten; dasselbe tat der Pater und richtete einige spanische Worte an Peter. Als dieser aber verständnislos den Kopf schüttelte, winkte er den Knaben und ging mit ihnen aufs Haus zu.
Der schwarze Panther blieb stehen und sah seinem Herrn mit funkelnden Augen nach, dann sprang er quer über den Weg in das Tamarindengebüsch und verschwand.
Der Weg führte durch die Palisaden zu der gezackten Mauer, und zwischen diesen beiden Befestigungen lag ein länglicher Platz, auf dem eine Reihe weißer Zelte, sechs an der Zahl, auf dem grünen Rasen standen. Eine Schar sonnenverbrannter, schwarzbärtiger Kerle, die eine Art Uniform aus brauner Leinwand trugen, lagen in Gruppen zwischen den Zelten, und vor der schweren Gitterpforte in der Mauer stand eine Schildwache, die sich auf ein Gewehr stützte.
Als krassen Gegensatz zu dieser kriegerischen Szene sah man hinter den Zelten eine kleine, gelbe Kapelle, aus deren Inneren Psalmengesang ertönte, und in dem schwindenden Tageslicht leuchteten die weißen Kreuze auf dem kleinen Kirchhof, der die Kapelle umgab.
Der Pater stieg mit den Knaben eine Steintreppe hinauf und führte sie zu der offenen Veranda des Hauses, von wo man eine weite Aussicht über den See und das Indianerdorf hatte.
Hier verweilte der Graubart eine Weile und ließ seinen Blick über die halbdunkle Landschaft schweifen; dann klopfte er den beiden Jungen die Schultern, nickte ihnen freundlich zu und führte sie zum Hintergrund der Veranda, wo er eine Tür öffnete. Blendendes Licht, lautes Sprechen, Geklirr von Glas und Porzellan schlug ihnen entgegen; sie standen in einem geräumigen Saal, und um den großen, stark beleuchteten Tisch in der Mitte saßen ungefähr zwanzig bärtige Männer, einige in Uniform, andere in weißen Leinenanzügen und taten sich gütlich an Speisen und Wein, die von jungen Indianerburschen herumgereicht wurden.
Das Lachen und der Lärm aber verstummten, als der Pater und die beiden Knaben sich zeigten, einige erhoben sich von ihren Stühlen, ängstliche Erwartung prägte sich auf allen Gesichtern.
Der Pater stand ruhig im Saal, eine Hand auf Peters Schulter gestützt und mit der anderen streckte er den Brief des Caballero in die Höhe. Mit tiefer, klangvoller Stimme sagte er einige Worte auf Spanisch – Fritz verstand nur den Namen »Don Carlos« – und darauf brach ein Jubel aus den zwanzig kräftigen Männerkehlen hervor, daß die Wände bebten. Alle sprangen auf, und auf südländische Art mit Armen und Händen gestikulierend, nahmen sie sich gegenseitig das Wort aus dem Mund. Einige klatschten in die Hände, andere tanzten umher; ein alter, grauhaariger Haudegen, mit einem halben Ohr und schneeweißen Schnurrbart, dessen Spitzen ihm bis in die Augen reichten, beugte sich zu Fritz herab und drückte ihm einen Schmatz mitten auf den Mund.
Schnell wurde am Tisch Platz geschafft, Stühle wurden zwischen die anderen geschoben, reine Teller hingesetzt – und Peter und Fritz saßen zwischen den bärtigen Kriegern, aßen und tranken nach Herzenslust.
In dem großen, hochlehnigen Stuhl am Ende der Tafel aber nahm der alte Pater Platz, breit und würdevoll, alle überragend. Wenn er sprach, schwieg die ganze Gesellschaft.
»Der Alte dort scheint sie ordentlich am Wickel zu haben,« flüsterte Peter Fritz zu. Sie saßen nebeneinander zwischen dem Mann mit dem halben Ohr und einem kleinen, blassen Menschen, mit einer langen Nase und zahllosen Ringen an den Fingern, und ließen sich ein Stück saftiges Fleisch schmecken, das Fritz für Hirschrücken hielt. »Er scheint mir übrigens auch der einzige anständige Mensch hier im Saal zu sein, die anderen sehen eher aus wie Banditen oder Wilddiebe oder so'n Pack.«
»Nimm Dich doch in acht, Peter – wenn einer von ihnen deutsch versteht!«
Peter hatte den Mund voll von Fleisch und gekochtem Reis und beantwortete Fritz' Bemerkung mit einem verächtlichen Grunzen.
»Ich will Dir sagen, mit wem wir es hier zu tun haben, Fritz – natürlich mit diesen Aufrührern, und sie freuten sich so mörderlich, weil der Pater ihnen erzählte, daß der Dampfer mit ihren Waffen gekommen ist. Sobald die Kisten an Land sind, soll die Hauerei wohl losgehen. – Gott sei Dank, daß sie so freundlich gegen uns sind, es ist sonst ein schönes Räubernest in das wir hier geraten sind.«
»Man sollte glauben, wir säßen in einer Kirche,« bemerkte Fritz nach einer Weile. Er hatte so unrecht nicht, denn an dem einen Ende des Saales erhob sich ein mächtiges Kruzifix über einem sammetbezogenen Altar, und an den Wänden hingen zwei große Malereien von Christus am Kreuz und von Johannes dem Täufer; die Fenster waren hoch und spitz, mit farbigem Glas, genau wie in einer Kirche. Aber gegen den Altar standen Gewehre und neben den Malereien hingen Säbel, Pistolen und eine große Trommel. Es war eine seltsame Mischung.
Erst später bekam Peter von Don Pedro eine Erklärung über den seltsamen Ort, an den ein launenhaftes Schicksal die beiden deutschen Knaben verschlagen hatte: das, was sie für eine Insel hielten, war in Wirklichkeit das südliche Ufer des Orinoco gewesen; von dem stillen Waldsee führte ein tiefer Flußarm weit ins Land hinein; das Indianerdorf, das rote Haus und der umliegende Wald gehörten zu einer der vielen katholischen Missionarkolonien, die über ganz Südamerika verstreut liegen, und Pater Dominico war der Vorsteher dieser Mission.
Wie überall in Urwäldern und zwischen halbwilden Stämmen war das Missionshaus zu gleicher Zeit als Wohnhaus, Schule, Kirche und – für den Notfall – als Festung eingerichtet. Denn Pater Dominico war nicht allein der fromme Mönch, der den Heiden Bekehrung predigte und kleine goldbraune Babys taufte, sondern er war einer der eifrigsten Führer der Verschwörung und nahm lebhaften Anteil an den Vorbereitungen zu dem bevorstehenden Aufstand.
Die engen Verbindungen des Paters in Rom machten ihn zu einer ungeheuer wichtigen Persönlichkeit in den Augen der katholischen Aufwiegler, denn er focht nur für die Sache des päpstlichen Stuhles, für die heilige, römische Kirche, und trug nicht wenig dazu bei, dem bevorstehenden Bürgerkrieg, den Anschein eines Kreuzzuges zu geben, der seine Anhänger zu dem wildesten, religiösen Fanatismus hinriß.
Pater Dominico fiel ein halbes Jahr später bei einem Straßenkampf in Caracas, von einer feindlichen Kugel ins Herz getroffen, als er an der Spitze einer Schar Soldaten vorwärts stürmte, ein Kruzifix in der Linken und einen blutigen Reitersäbel in der Rechten schwingend. Diese Begebenheiten aber haben nichts mit dieser Erzählung zu tun. Jetzt sitzt der Pater in einem hochlehnigen Stuhl, ein gastfreier, aber furchteinflößender Wirt für eine Versammlung vogelfreier Männer, deren einziger Wunsch es ist, einen blutigen Bürgerkrieg ins Werk zu setzen und Landsleute niederzuschießen.
Es war pechdunkle Nacht, als Peter und Fritz das Missionshaus verließen, um wieder zum Dampfer zurückzurudern. Pater Dominico gab ihnen selbst das Geleit zur Jolle, von einem Indianer mit einer qualmenden Fackel gefolgt. Aber obgleich die Nacht dunkel war und kein Mond am Himmel leuchtete, fiel es den Knaben doch nicht schwer, den Weg über den See in den engen Kanal hinein zu finden. Denn überall am Ufer flammten mächtige Feuer, und in dem rötlichen, flackernden Schein sahen sie dunkle Gestalten in emsiger Tätigkeit. Holzscheite wurden in die Leichter und auf Flöße gepackt und diese über den See und in den Kanal bugsiert und mit Stangen vorwärts gestoßen, während Fackeln am Steven Licht gaben. Das war das Brennholz, das zum Dampfer geschafft wurde. Die ganze Nacht wurde gearbeitet. Die Knaben aber schliefen süß Seite an Seite auf ihren Matratzen, auf dem Roofdeck achtern; weder das Geräusch der Holzstücke, die an Bord gehievt wurden, noch die Myriaden von Moskitos, die das Schiff umschwärmten, vermochten ihren Schlaf zu stören, so todmüde und vertummelt waren sie von den vielen und seltsamen Erlebnissen des vergangenen Tages.