Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Genau fünf Wochen, nachdem die Brigg den Anker in Flensburg gelichtet hatte, fiel er in der Bucht vor Cadiz. Aber es war Nacht, und nur das Blitzen der großen Hafenleuchte und der zahlreichen schwachschimmernden Lichter an Bord verrieten, daß sich eine Stadt in dem tiefen Dunkel der Nacht verbarg.
Am nächsten Morgen lag Cadiz in prachtvollem Sonnenschein und in blendend weißen und cremegelben Farben vor der Meeresbucht ausgebreitet. Die Farben flossen in dem leichten Dunst ineinander und die Kuppeln und Türme der Kirchen, die grauen Flächen der Festungswerke, die wagerechten Linien der Hafenmolen und Steinkais ahnte man in dem frühen Morgennebel mehr, als daß man sie sah.
Die Sonne aber ging hastig auf, und bald lag die helle, südländische Stadt mit scharfen Umrissen und Linien in der klaren, wärmezitternden Luft.
Es war recht lebhaft auf der großen Bucht. Dampfschiffe glitten, aus dem Hafen kommend, um den großen, weißen Leuchtturm herum; tiefgehend und schwerbeladen dampften sie davon mit ihrer Fracht für ferne Länder. Andere Dampfer kamen von weit her und steuerten auf die Stadt zu, stoppten, nahmen einen Lotsen an Bord und glitten an dem großen Leuchtturm vorbei, in den Hafen hinein.
Eine Unzahl von breitgebauten Fischerbooten arbeiteten sich mit Hilfe von Riemen aufs Meer hinaus, hißten große, spitze Segel und zerstreuten sich auf der Bucht zum Fischfang.
Die »Anne-Marie« hatte die Lotsenflagge gehißt, die Segel waren klar, der Anker auf, und so trieb sie sachte auf Cadiz zu; dann kam der Lotse an Bord, die Segel wurden gesetzt, und langsam, ganz langsam rundete die Brigg den Leuchtturm und ging mitten vor der Stadt, zwischen einem englischen Dampfer und einer schwedischen Bark vor Anker.
* * *
Auf der Spitze einer leichtgebogenen, sandigen Landzunge liegt Cadiz, und hinter der Landzunge breitet sich eine fast zirkelrunde Bucht, die gegen alle Winde und schwerrollende Wogen des Atlantischen Meeres geschützt ist, aus. Derjenige Teil der Bucht, der sich längs der Stadt erstreckt, ist Cadiz' berühmter Hafen, einer der geschütztesten und besten der Welt.
Vor dreitausend Jahren – zuzeiten des Königs Salomon – waren die Phönizier das tüchtigste See- und Handelsvolk der Erde. Von der syrischen Küste kamen sie längs der Küsten des Mittelländischen Meeres mit ihren hübsch gezimmerten Schiffen gerudert oder gesegelt, die schwer mit kostbaren Handelswaren geladen waren: schön gefärbten Woll- und Seidenstoffen, kunstreich geschmiedeten Waffen und prächtigem Hausgerät, feinen und zarten Glasgefäßen und Kruken, geschnitzten Elfenbeinsachen und Ringen, samt Perlen von mattgelbem Bernstein.
Sie fuhren an den Küsten entlang und über Buchten; in den Städten tauschten sie den Inhalt ihrer Fahrzeuge gegen fremde Waren ein. Gab man ihnen nicht gutwillig, was sie wünschten, dann raubten und stahlen sie, denn die Phönizier waren starke, wohlbewaffnete Männer, mit leichtem Sinn, die nach dem Besitz ihres Nächsten Verlangen trugen.
Sie begnügten sich aber nicht mit Handel und Raub. Von ihren starken Städten Sidon und Tyros zogen sie auf Eroberungsreisen aus, eine ganze Schar von Galejen zusammen; sie nahmen Städte ein und legten an der afrikanischen Küste, auf Sizilien, Sardinien und Korsika an.
Selbst nach Spanien kamen sie; sie segelten um die Klippen von Gibraltar herum, folgten der spanischen Küste nordwärts und fanden die herrliche Bucht bei Cadiz.
Die Stadt wurde von den Phöniziern gebaut. Sie fanden das Land reich an Silber und Südfrüchten; vertrieben dann die halbwilde Bevölkerung, töteten viele, aber nahmen noch mehr gefangen, und diese Gefangenen benutzten sie als Sklaven, die für sie arbeiten mußten. So wurde der Grundstein zu der uralten, berühmten Stadt gelegt.
Lange war der Ort die westlichste Kolonie der Phönizier, aber wie der Starke immer einen Stärkeren findet, so kamen eines schönen Tages die Legionen des starken Römerreiches und trieben die Phönizier aus der Stadt.
Eine Zeitlang wehte der Adler der Legionen über Cadiz, als aber die Horden der Westgoten das römische Weltreich verheerten, da verschwand der Adler von den Zinnen der Stadt.
Nach den Goten kamen die Mauren, die lange Zeit Herren im Lande blieben, bis sie schließlich im Jahre 1262 von den Spaniern vertrieben wurden. Von da an blieb Cadiz spanisch; häufig aber raste Krieg um die Wälle der Stadt, feindliche Bomben und Kugeln zertrümmerten die Häuser, Blut floß in den Straßen.
Aber mit jedem Sturm, der gegen die Mauern gelaufen wurde, wurden diese nur noch fester gebaut, und jetzt ist Cadiz eine der stärksten Festungen Spaniens. Schwere Kanonen zeigen von den Wällen über den Hafen und aufs Meer hinaus, von wo die Kriegsschiffe feindlicher Mächte kommen können; eine starke Garnison hält die Wachtposten besetzt, und im Hafen liegen spanische Panzerschiffe und Torpedoboote.
Die Stadt selbst ist ein komisches Gemisch von Alt und Neu. Unten im Hafen, längs der Kais herrscht das lärmende Geschäftsleben einer modernen Hafenstadt – rasselnde Kräne, pfeifende Lokomotiven, rauchspeiende Kohlendampfer, turmhohe Fabrikschornsteine, Lagerhäuser, Stapel von Kisten und Tonnen und Tausende von Menschen in rastloser Tätigkeit. In wenigen Minuten von da aus gelangt man in enge, winkelige, menschenleere Gassen, wo weißgekalkte Häuser, mit grüngemalten Fensterläden und eisengegitterten Balkons schweigend daliegen, als gehörten sie einer entschwundenen Zeit an.
Hin und wieder wackelt ein altes, runzliges Mütterchen in dem Halbdunkel der Straße über die schlechte Pflasterung, oder ein barfüßiger, zerlumpter, brauner Junge treibt einen kleinen, spindeldürren Esel, der mit Körben voll Orangen beladen ist, mit gellenden Anrufen von Tür zu Tür – dann ist wieder alles still. Die enge Gasse aber, auf deren Grund die Sonnenstrahlen nie ganz hinabdringen, mündet in breite, hübsch gebaute Boulevards, in offene, palmenbepflanzte Plätze, wo Herren und Damen in Toiletten nach der neuesten Pariser Mode wandeln. Funkelnagelneue Equipagen, mit englischen Vollblutpferden und glattrasierten Kutschern auf dem Bock, rollen lautlos auf federnden Gummirädern über die breite Fahrstraße.
Die lärmende Geschäftswelt am Hafen und das moderne Pariser Leben auf den Boulevards reichen sich durch mittelalterlich enge, winklige und stille Gassen die Hand.
* * *
Die »Anne-Marie« lag nicht weit von Land vor Anker; ein Prahm, fast so groß wie die Brigg selbst, war an ihrer Backbordseite festgemacht, und den ganzen Tag wurde gelöscht.
Kapitän Tönjachsen war an Land beim Konsul gewesen und hatte Briefe mit an Bord gebracht: vier für Fritz und einen für Peter, und eine Einladung vom Konsul für die beiden Jungen, für den ganzen nächsten Tag.
Es war Nachmittag, als Tönjachsen an Bord kam. Fritz und Peter hatten den ganzen Tag hart gearbeitet, um die Ladung aus der Last in den Prahm zu schaffen, und jetzt gab der Kapitän ihnen die Erlaubnis einige Stunden an Land zu gehen. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, und kurz darauf saßen sie in der Jolle und ruderten auf die alte, abgenutzte, von grünem Schlich überzogene Steintreppe zu, die zu dem Zollamtplatz hinaufführt.
Peter Most vergrub wie gewöhnlich seine Fäuste in den Taschen, und schlenderte mit Seemannsschritten, die Mütze im Nacken, auf das Zollgebäude zu, an Maultierkarren, Tonnen und Fässern vorbei. Er war hier schon früher gewesen, er kannte alles – das wollte er jedenfalls Fritz zu verstehen geben – ebenso gut wie er Flensburg kannte.
Für Fritz war alles neu: die kleinen, gelbbraunen, schwarzhaarigen Spanier, die mit Kisten und Tonnen hantierten, wobei sie in der fremden Sprache schwatzten, die Schildwache am Tor, mit ihren blaugestreiften Baumwollhosen, das Gewehr überm Nacken und die Zigarette im Mund, die Eselskarren, hochgeladen mit wunderlichen Früchten – alles dies mußte Fritz ganz genau in Augenschein nehmen, alles rief sein größtes Interesse wach.
Im Inneren jubelte Peter, weil er an Land sein durfte, aber er brachte seiner Würde das Opfer, »gleichgültig« auszusehen.
Es war glühendheiß, obgleich die Sonne schon tief stand, und der starke Sonnenschein, der von den weißgekalkten Häuserflächen zurückgeworfen wurde, tat in den Augen weh.
Nachdem die Knaben über den Hafenplatz gegangen waren, bogen sie in eine der engen Gäßchen ein. Hier war es kühl, kein blendender Sonnenglanz, sondern ein gedämpftes Sonnenlicht. Die Gasse war so schmal, daß die Knaben kaum nebeneinander gehen konnten, ohne über die Schemel und Holzstühle zu stolpern, die in den Türöffnungen standen.
Für den neugierigen Fritz gab es viel zu sehen. Bald stand er still vor den seltsamen Kaufläden mit merkwürdigen Früchten, wie man sie nie in Deutschland zu sehen bekommt; oder vor Fenstern mit ausgestellten Büchern und buntfarbigen Bildern, meistens von Heiligen, mit goldenem Glorienschein um den Kopf und einem Kreuz in der Hand; oder Läden mit Messinggeschirr und großen, breiten Taschenmessern. Bald lenkte ein grüner Papagei auf einem Stock ihre Aufmerksamkeit auf sich, bald einige sonderbar gekleidete Einheimische – sie steckten ihre Köpfe aus kleinen Fensteröffnungen und kicherten hinter den beiden Jungen her. Fritz wurde ganz rot, Peter aber bewahrte seinen unerschütterlichen Ernst.
Fritz hatte fünf Pesetas vom Kapitän bekommen. Die Münzen rasselten in der Tasche, sie mußten angewendet werden.
Am Ende der Gasse lag ein großer Platz und mitten auf dem Platz eine gewaltige Kirche – der berühmte, alte Dom – ganz aus Stein, mit einer mächtigen, schimmernden Kuppel und hohen, vergoldeten Türmchen.
Dem Dom gegenüber aber lag ein elegantes Café, von grünen Platanen beschattet; auf dem Fußsteig, unter einem weißen Sonnensegel, saßen Herren und Damen an zahlreichen kleinen Tischen und tranken kühlende Getränke.
Fritz stand still und betrachtete die Kirche, Peters Augen aber ruhten mit Wohlbehagen auf dem Café.
»Man ist etwas trocken im Halse,« warf er leicht hin.
»Glaubst Du, daß wir die Kirche besehen dürfen?« fragte Fritz.
Peter besann sich eine Weile. »Man pflegt erst dort drüben in der Wirtschaft etwas zu genießen – das schickt sich so.«
»Meinst Du wirklich?«
»Wenn man es tut, ist man sozusagen willkommener,« versicherte Peter, »und Du hast ja Moneten in der Tasche.«
Sie gingen über den Platz und Peter setzte sich ganz ungeniert an einen leeren Tisch. Fritz blickte sich etwas ängstlich um. Sie waren beide in ihrem Arbeitsanzug, besonders Peter sah schlimm aus, und das Publikum um sie herum war sehr elegant gekleidet. Es erhöhte auch nicht seinen Mut, als er sah, daß zwei Kellner sich über sie lustig machten.
Peter aber trommelte mit seinen schwarzen Knöcheln auf den Tisch und verlangte mit lauter Stimme »Orangado!«
Der eine Kellner verschwand und brachte gleich darauf zwei eisgekühlte Limonaden. Fritz' Respekt vor Peter stieg zu einer schwindelnden Höhe.
Die beiden Jungen nippten an ihrem Getränk, es schmeckte herrlich, und bald vergaß Fritz ganz an seine Kleider zu denken, so sehr wurde er von dem gefesselt, was um sie herum vorging.
Spanier kamen und gingen. Männer mit weichen Filzhüten auf dem Kopf, und kurzen, schwarzen Kragen, die über die Schultern geworfen waren, Frauen mit Fächern in der Hand und Seidenmantillen über dem schwarzen, glattgekämmten Haar.
Die Glocken des Doms läuteten. Tiefe, hallende Schläge von der großen Turmglocke, feine, klingende Töne von vielen kleineren; in einem eigenartig, wohltuenden Durcheinander ergossen die Töne sich über die Stadt.
Da wurden die schweren Flügeltüren der Kirche geöffnet und eine Prozession schritt langsam über den Marktplatz. An der Spitze gingen zwei kleine, weißgekleidete Knaben, die Weihrauchgefäße an Ketten hin und herschwangen; dann folgten Priester in roten Gewändern, einige trugen lange, weiße Lichter, andere schlanke Kruzifixe. Auf den Schultern von vier schwarzgekleideten Männern ruhte eine dunkel drapierte Bahre, auf der ein goldener Schrein leuchtete. Hinter dieser Bahre schritt ein hoher, weißbärtiger Bischof in einem goldgestickten Talar, ruhig und würdevoll; in der linken Hand hielt er eine prächtige, silberbeschlagene Bibel, die rechte streckte er segnend aus; denn alles kniete nieder, wo er vorbeischritt, Männer und Frauen, und er segnete alle.
Die Prozession, die von einer Schar roter Priester und Mönche in weißen Kutten beschlossen wurde, ging dicht an dem Café vorbei, wo Fritz und Peter saßen. Unwillkürlich erhoben sie sich und nahmen die Mützen ab, all die anderen Gäste taten desgleichen, verneigten und bekreuzigten sich. Der ehrwürdige Bischof aber sandte keinen Segen in die Richtung des Cafés, er wandte den Kopf ab, als sei der Anblick eines Cafés ihm widerwärtig.
Dann schwenkte die Prozession in eine enge Gasse ein und verschwand, das Kirchenportal wurde geschlossen, die Glocken aber fuhren fort zu läuten.
Die Knaben tranken ihre Limonade aus, und Fritz zog seine Briefe aus der Tasche. Er hatte sich die Lektüre derselben aufgespart, bis er an Land käme, weil er an Bord keine Ruhe zum Lesen hatte.
Peter aber hielt ihn zurück: »Lies sie in der Kirche, das ist der ruhigste Ort in der Welt.« Sie bezahlten und gingen.
Bald standen sie im Innern der Kirche. Dort war es kühl und schattig. In der gedämpften Beleuchtung standen lange Reihen von Marmorsäulen, die mächtige Kirchenwölbung ruhte auf ihren Kapitälen. An dem einen Ende des ungeheuren Raumes erhob sich ein Altar, so hoch wie ein Haus, mit gleißender Vergoldung von oben bis unten; vor dem Altar stand die heilige Jungfrau mit dem Christuskind im Arm, in Silber geschmiedet und von brennenden Kerzen beleuchtet. Rings herum hingen große Oelgemälde, und längs der Kirchenwände lagen nebeneinander kleinere Altäre, alle von Silberlampen und Lichtern in massiven Leuchtern bestrahlt.
Das Tageslicht, das durch die große Mittelkuppel hereindrang, brach sich in buntfarbigen Fenstern; bläuliche, gelbe und rote Strahlen flossen in bunter Farbentönung zusammen.
Schweigen herrschte in dem großen Raum.
Hier und dort knieten schwarzgekleidete Frauen auf dem getäfelten Marmorboden, und zwischen den Säulen schritten Mönche auf lautlosen Sohlen.
Als Fritz in dieser großen, schweigenden Kirche stand, meinte er noch nie solche Andacht und Feierlichkeit empfunden zu haben; er wagte kaum, einen Fuß zu rühren.
»Komm,« flüsterte Peter. Da gingen sie leise zu einer Ecke in der Kirche, wo lange Reihen von Stühlen, mit einfachen Strohsitzen standen. Dort setzten sie sich hin und lasen ihre Briefe.
Und Fritz' Gedanken eilten von dem großen Dom in Cadiz zu dem teuren Heim; er sah Tante Minchen gedrückt herumtrippeln, sie dachte an Fritz; er sah seinen Vater und Onkel Brummer auf der Veranda sitzen, jeder mit seiner Pfeife und seinem Grogglas – sie sprachen von Fritz. Bilder von dem fernen Flensburg, von Villa Thule, von der Schule und vom Hafen rollten sich vor seinem inneren Blick auf, während er die vier Briefe zu Ende las.
Fritz saß ganz still, mit den Briefen in der Hand da, einige Tränen rannen ihm die Wangen hinab.
Peter hatte recht, in der Kirche war Frieden, dort mußte man seine Briefe lesen.