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Es war fast noch dunkle Nacht, als Fritz in seiner kleinen Kajüte davon erwachte, daß Peter Most mit heftigen Fußstößen gegen das Fußende seiner Koje donnerte.
»Auf zur Tagwache, Fritz, willst Du wohl heraus, Du Siebenschläfer, die Uhr ist vier – bist Du munter?«
Fritz taumelte schlaftrunken aus der Koje und hörte nur noch, wie seine Tür zugeschlagen wurde. Er glaubte, daß er in seinem Bett in Villa Thule läge, konnte nur nicht begreifen, was mit dem Fußboden los sei – er bewegte sich und das Bett ebenfalls. Die Blechkumme klapperte über seinem Kopf, und viele seltsame Laute ließen sich von draußen vernehmen. Bald schien das Bett sich ganz bis zur Decke zu heben, bald sank es tief herab; Fritz bummste mit dem Kopf gegen die Wand und im selben Augenblick wurde die Tür wieder geöffnet:
»Na, wie gehts. Sie rollt mörderlich!«
Fritz wurde es plötzlich klar, daß er an Bord der »Anne-Marie« sei, daß es der erste Morgen nach der Abreise von Flensburg war und daß er aufstehen mußte, um an der Tagwache teilzunehmen.
Die Morgendämmerung leuchtete spärlich durch das kleine Fenster, und bei ihrem Schein konnte er gerade seine Kleider finden. Er zog sich mit großer Mühe an, denn bald saß er auf der Schiffskiste, bald lag er auf dem Boden, das Schiff rollte wirklich mörderlich, wie Peter gesagt hatte.
Am schlimmsten aber erging es ihm mit den Stiefeln, die er gar nicht unter der Koje finden konnte; dafür fielen ihm sein Schwamm und eine Haarbürste in die Hände, auf deren Gebrauch er in diesem Augenblick gar keinen Wert legte und schließlich stürzte die Waschkumme mit großem Raballer herunter. Fritz hörte, wie Tönjachsen sich nebenan mit Gekrach in seiner Koje umdrehte und hohle Flüche ausstieß. Schließlich stieß der ganz verstörte Fritz mit dem Kopf gegen seine Wasserstiefel; Peter hatte sie an einem Nagel neben der Tür aufgehängt, das hatte er ganz vergessen.
Endlich war es ihm doch gelungen, die Stiefel an die Füße zu ziehen, und jetzt saß er im Halbdunkel da, um sich zu besinnen. Er hatte einen komisch flauen Geschmack im Mund und fühlte sich so matt, daß er sich am liebsten mit allen Kleidern wieder in die Koje gelegt hätte. Da aber hörte er Klaus Döse's Stimme draußen auf Deck: »Na, kocht das Wasser bald, Peter, ich muß Dich wohl mal auf den Schwung bringen, Du Walroß, Du!«
Fritz fuhr zusammen, er stand auf und öffnete die Tür.
Ein Windstoß blies ihm die Mütze vom Kopf, ein kalter, salziger Spritzer traf ihn mitten ins Gesicht, und die Tür schlug von selbst hinter ihm zu.
Fritz sah sich um, und er meinte nie etwas Schrecklicheres gesehen zu haben. Die Brigg war fast ganz abgetakelt und rollte in den Wogen, die mit schaumweißen Köpfen auf das Schiff loskamen. Dunkle Wolken, groß und drohend, trieben über einem grauen, unheimlichen Himmel; ein kalter, nebliger Tagesschimmer gab so viel Licht, daß man gerade das Schiff überblicken konnte. Da brach eine mächtige, grüne Welle über den Steven und stürzte krachend auf das Vorderdeck. Die Brigg sank geradezu unter dem Gewicht des Wassers, und als sie sich wieder hob, strömte das kalte Wasser ganz nach achtern und über Fritz' Wasserstiefel; fast hätte es die Beine unter ihm fortgerissen.
Fritz klammerte sich mit beiden Händen an die Taue am Mast, er glaubte, daß das Schiff unterginge und sein letztes Stündlein gekommen sei; da aber sah er Peter, der in der Kombüse stand. Wie er lebend dorthin gelangen sollte, das war ihm ein Rätsel, aber das Bedürfnis in der Nähe einer Freundesseele zu sein, war in diesem Augenblick so stark, daß es alle Bedenken überwand.
Fritz ließ seine Taue los und kroch längs des nassen Decks zum Rand der zugedeckten großen Luke; hier verschnaufte er sich etwas. Er fühlte sich schwindlig und krank, und fürchtete, daß er sterben würde, bevor er Peter erreichte. Wieder kroch er auf allen Vieren weiter und es glückte ihm schließlich Peters eines Bein zu fassen.
Peter Most stand mit gespreizten Beinen in der Kombüse und balancierte einen Kessel mit kochendem Wasser und eine Kaffeekanne, und er lachte laut auf, als er Fritz in dieser jämmerlichen Verfassung, leichenblaß, auf dem nassen Deck liegen sah.
»Hat man je was ähnliches erlebt! Kannst Du nicht auf Deinen zwei Beinen stehen, Fritz? Halt Dich am Türpfosten fest.«
»Ist es nicht entsetzlich! Glaubst Du, daß wir untergehen?« stammelte Fritz.
»Ach was, Quatsch, so'n Wetter haben wir immer bei Samsö. Die »Anne-Marie« hat Schlimmeres durchgemacht, so wahr ich Peter Most heiße. – Kannst Du mal den Kessel hier halten, ich will Klaus den Kaffee bringen.«
Und weg war Peter, indem er voller Eleganz über das schwankende Deck lief, mit Kaffeekanne, Tasse und Teller in der Hand. Fritz blieb allein in der dumpfen Kombüse zurück, wo Bratpfannen und Töpfe unter der Decke baumelten, und er hielt die Hand krampfhaft auf den dampfenden Wasserkessel, der jeden Augenblick vom Herd herabzustürzen drohte.
Fritz machte verzweifelte Anstrengungen, um auf seinem Posten auszuharren. Er hielt den Kesselhenkel mit der einen Hand und klammerte sich mit der anderen an den Türpfosten, während er selbst hin- und herpendelte und die rollenden Bewegungen des Fahrzeuges mitmachte. Kalter Schweiß brach ihm aus der Stirn, sein Magen und sein Zwergfell schienen sich krampfartig in seinem Inneren zusammenzuziehen; aber er hielt aus, bis Peter zurückkam. Da sank er auf der großen Luke zusammen und »opferte« den unerbittlichen Meergöttern, bis er nur noch den einzigen Gedanken, den einzigen Wunsch hatte, daß der Tod seinem elenden Dasein baldmöglichst ein Ende machen möge.
Fritz lag mit geschlossenen Augen auf der nassen Luke; die Sturzwellen schlugen über die Schiffsseite und durchnäßten ihn, aber was kümmerten ihn Kälte und Nässe; das Wasser lief längs des Decks und über seine Beine und Stiefel, die schlaff über den Süll der Luke hingen.
Da fühlte er sich hochgehoben und fortgetragen. Freundliche, aber harte Hände nahmen sich seiner an und setzten ihm die Mütze auf den Kopf, seine Nase atmete den Geruch von warmem Kaffee, und in sein Ohr tönten die ermunternden Worte:
»Trink 'n Schluck, Du seekrankes Huhn, und dreh den Schnabel nach der Windseite, das wird schon helfen!«
Es war Klaus Döse, der Fritz bei der Ruderbank geborgen hatte. Hier saß er nun vor Wind und Wellen geschützt und hielt eine Tasse Kaffee zwischen den Händen.
Fritz schlürfte den Kaffee und knabberte an einem Schiffszwieback; ihm war, als ob das Leben wieder in seinen Körper und Kräfte in seine Glieder zurückkehrten. Er konnte sogar aufstehen und sich am Ruder neben Klaus, der steuerte, festhalten.
Die Lage war augenscheinlich nicht mehr so gefahrdrohend wie damals, als Fritz aus seiner kleinen Kajüte hervortaumelte. Die Brigg war in den Schutz von Samsö gekommen und rollte nicht mehr so schlimm wie vorher. Die großen, schwarzen Wolken zogen freilich noch immer am Himmel, dieser aber hatte seine graue, neblige Farbe verloren, und im Osten breitete sich ein blasser, hellroter Schein.
Es tagte. Bald nahm der Himmel eine warme, rote Farbe an, und plötzlich glühte es wie Feuer weit hinten am Horizont; die Wolken wurden goldumrändert, die Wogen blinkten purpurrot, die Sonne ging auf.
Fritz vergaß ganz, daß er naß und kalt war, denn solchen Anblick hatte er noch nie erlebt – einen Sonnenaufgang auf einem bewegten Meer.
Das Unheimliche der Nacht und die dunklen Schatten wichen; von Osten wurden sie nach Westen gejagt, wo noch alles schwarz und grau war. Es schien, als ob die Elemente sich vor der Macht der Sonne beugten, denn der Wind rüttelte nicht mehr so heftig an den Segeln, und die Wellen rollten gleichmäßiger, ohne den zornigen Gischt.
Fritz blieb neben Klaus Döse am Ruder stehen und half ihm beim Steuern; seine Seekrankheit war überstanden, sie war heftig, aber von kurzer Dauer gewesen. Und immer, wenn er bei späteren Gelegenheiten ihr Kommen fühlte, wußte er auch das Mittel, um sie zu verjagen: etwas tun, denken und handeln, das ist die beste Kur gegen Seekrankheit.
* * *
Um sechs Uhr stand Schiffer Tönjachsen auf, präzise wie ein Uhrwerk, Sommer und Winter. Peter Most hatte von Tönjachsens merkwürdiger Morgentoilette erzählt, und Fritz war gespannt, einer solchen beizuwohnen.
Aus der Kajüte erklangen seltsame Laute, bald war es wie das tiefe Gebrumm eines Bären, bald wie das klagende Geheul eines Wolfes; das war Tönjachsen, der erwachte und gähnte.
Als Peter vorn an der Schiffsglocke »vier Glas« schlug, das hieß, daß die vierstündige Wache vorüber sei, da öffnete sich die Kajütentür, und der Kapitän stand auf Deck. Er hatte nur ein Wollhemd an, das auf der Brust offenstand. Der Wind wehte den langen, grauen Bart zur Seite, so daß die behaarte Brust zum Vorschein kam, während das Hemd um die kräftigen, dichtbewachsenen Beine flatterte.
Tönjachsen stand lange und starrte nach der Luvseite und zu den Segeln hinauf. Dann spuckte er aus und ging nach achtern, wo Peter zwei Eimer mit Salzwasser hingeschleppt hatte. Der Schiffer setzte sich auf die Reling, steckte seine Beine in die Eimer, stützte die Ellbogen auf die Knie und das Gesicht in die flachen Hände. So saß er wohl fünf Minuten lang, unbeweglich, wie eine Gallionsfigur. Dann entledigte er sich langsam seines Hemdes, zog die Beine aus den Eimern, und leerte deren Inhalt über Kopf und Rücken; er schüttelte sich wie ein Hund, der im Wasser gewesen ist, rieb sich die Augen, wrang seinen Bart aus und zog das Wollhemd wieder über seinen nackten Körper. Tönjachsens Morgenwäsche war hiermit beendigt, und er ging wieder in seine Kajüte, um seine Toilette mit einem Paar Hosen und einem Südwester zu vervollständigen.
Des morgens um sechs Uhr wurde überall »gepurrt«. Stopher mit seinem beleidigten Gesicht, Wilhelm, tief melancholisch, und August, krummbeinig und rotäugig kamen aus dem Deckhaus zum Vorschein und begaben sich an ihre Arbeit. Erst aber mußten zwei Matrosen und Peter Most hinaufentern und alle Reffe ausstechen und darauf das Großsegel setzen, denn der Wind war abgeflaut und mehr nach Süden umgegangen.
* * *
»Ein Seemann scheut vor nichts zurück, der muß von allem etwas verstehen, und damit basta.«
Es war Peter Most, der diese belehrenden Worte zu Fritz sprach. Sie standen mit bloßen Beinen und aufgekrempelten Hosen auf dem nassen Deck, jeder mit einem Tweidel in der Hand.
Es war Sonntag morgen und da gab es immer eine Extraspülung. Peter gönnte sich eine kleine Ruhepause und wühlte nach einem frischen Kautabak in seiner Hosentasche. Er und Fritz erörterten, wieweit es mit der Würde eines Leichtmatrosen vereinbar sei, Nachtgeschirr auszugießen und Kartoffeln zu schälen.
»Wenn man Leichtmatrose geworden ist, soll man sich nicht mit so einem wie Plumps-August gemein machen, mag er seinen eigenen Kram besorgen, was kümmert das unsereinen. Was aber die Kartoffeln anbelangt, so ist das Wilhelms Arbeit, und der ist Vollmatrose, dabei vergibt man sich also nichts.«
»Wenn nun aber Plumps-August krank würde,« wendete Fritz ein, »so müßte doch ein anderer seine Arbeit tun, und das kann doch keine Schande sein.«
»Versteht sich, Not kennt kein Gebot;« und nachdem Peter diese Weisheit mit Ueberzeugung von sich gegeben hatte, gingen die Knaben wieder an ihre Arbeit und fegten das Wasser vom Deck.
Fritz hatte sich jetzt ganz eingelebt auf dem Schiff. Mit Klaus Döse und Peter Most als Lehrmeister war er bereits tief in die elementarsten Kenntnisse der Pflichten eines Schiffsjungen an Bord eines kleinen Seglers wie die »Anne-Marie« eingeweiht worden.
Er konnte allein am Ruder stehen und so ziemlich den richtigen Kurs halten, wenn die Umstände nicht allzu schwierig waren. Und das waren sie seit jener denkwürdigen Nacht bei Samsö nicht wieder gewesen.
Eine leichte Sommerbrise und ruhige See hatten sie gehabt, seit die Brigg Skagen passierte, und von dort Signale mit dem Leuchtturm austauschte – Signale, die einen letzten Gruß für Reeder Brummer in Flensburg bedeuteten, und darum natürlich auch für die Bewohner der Villa Thule.
Jetzt fuhr die »Anne-Marie« bereits südwärts in der Nordsee, es war Sonntag, und das bedeutete Feiertag, mit Gottesdienst am Vormittag und einem Extra-Schnaps zum Mittagessen.
Schiffer Tönjachsen war ein Mann, der die Religion hochhielt, und das Wetter mußte schon sehr hart sein, wenn er von einer Andacht Abstand nahm.
Gegen elf Uhr, wenn die Spülung beendigt war, erschien Tönjachsen im Sonntagsstaat. Dieser unterschied sich von seiner täglichen Bekleidung durch Hinzufügung eines alten, braunen verblichenen Jackets, eines roten Halstuches und eines Paares funkelnagelneuer, grüngestickter Morgenschuhe. Unterm Arm trug er das alte Testament in einem dicken, abgenutzten Ledereinband.
Der Kapitän hißte eigenhändig die deutsche Reichsflagge unter der Gaffel, als Zeichen, daß die ganze Mannschaftsliebe sich achtern beim Ruder versammeln sollte, so daß der Mann, der steuerte, auch am Gottesdienst teilnehmen konnte.
Der einzige, der während der Andacht saß, war der Koch Wilhelm, denn er sollte die Melodien der Psalmen auf seiner Harmonika spielen, und das konnte er nur im Sitzen.
Wenn alle versammelt waren, nahm der alte Schiffer den Südwester ab, warf einen ehrerbietigen Blick zur Flagge hinauf, worauf er mit tiefer, ernster Stimme sagte:
»Leg los, Wilhelm!«
Und der Koch zog die Harmonika auseinander, stemmte das eine Ende gegen sein Knie und spielte: »Ein' feste Burg ist unser Gott.«
Alle sangen mit, von Klaus Döse mit seinem hübschen Bariton, bis zum Mutterlamm mit seiner Fistelstimme.
Nachdem das Lied zu Ende gesungen war, zog Tönjachsen ein große Messingbrille aus dem Rücken der Bibel und setzte sie sich auf die Mitte der Nase; darauf schlug er das alte Testament auf und las ein Kapitel von einem der großen Propheten – am liebsten von Jesaias, denn der war sein Liebling. Die Messingbrille erschwerte das Lesen sehr, denn der alte Schiffer mußte seinen Kopf sehr tief beugen, um über die Brille hinweglesen zu können, durch die Gläser sah er nämlich gar nichts. Die Brille gehörte aber nun einmal zur Sonntagsandacht, ebenso wie das rote Halstuch und die deutsche Flagge – jedenfalls im Bewußtsein des Kapitäns.
Nach der Bibellesung wurde ein Psalm gesungen, worauf Tönjachsen das Vaterunser betete. Dann ging jeder seiner Beschäftigung nach und Tönjachsen holte die Flagge nieder.
Es war in all seiner Einfachheit, und der kleinen Schnurrigkeiten zum Trotz, eine rührende und stimmungsvolle Andacht, doppelt ergreifend, weil sie auf dem großen, einsamen Meer abgehalten wurde, wo der Himmel selbst die Kirchenwölbung bildete. Das Ganze machte einen großen Eindruck auf Fritz.
* * *
Es war ganz windstill, und die Sonne brannte aufs Deck, so daß der Teer zwischen den Ritzen der Deckplanken weich wurde. Das Meer lag wie eine bläuliche, blankschimmernde Stahlplatte da; einige wattenweiße Wolken hingen am Horizont, sonst war der Himmel rein und blau.
Die Brigg war auf der Dogger Bank, und wohin das Auge schweifte, lagen Hunderte von schwarzen, kuttergetakelten Fischschmacken, mit schlaffen Segeln und ausgeworfenen Netzen.
An Bord war nichts zu tun. Das Ruder war festgesorrt, und Klaus Döse hatte die Dorschpilke geholt.
Es stand schon ein Eimer mit zappelnden Dorschen da, und Wilhelm, der Koch, hatte eine leere Drittelflasche und Salz aus dem Privatraum geholt – mildgesalzener Nordseedorsch ist eine angenehme Bereicherung der einförmigen Schiffskost.
Fritz saß auf der Reling mit seiner Angelleine, und neben ihm hatte das Mutterlamm Platz genommen; er hatte Peters Dorschleine geliehen, denn dieser half dem Koch beim Schlachten und Reinigen der gefangenen Fische.
Zum erstenmal in seinem Leben hatte der kleine August eine Pilksschnur in den Händen und er hantierte sie ziemlich ungeschickt. Da er fürchtete, die Schnur zu verlieren, hatte er sie um sein Handgelenk gewickelt. Er saß auf der Reling, baumelte mit den Beinen nach draußen und starrte ins Wasser hinunter, während er die Leine auf und niederzog und im Takt dazu summte.
Wie er dort friedlich saß und mit seinen rotgeränderten Augen blinzelte, hörte Fritz ihn plötzlich einen Schrei ausstoßen, und zu seinem Entsetzen sah er das Mutterlamm wie von einer unsichtbaren Macht gezogen, über Bord stürzen und im Meer verschwinden.
Fritz stand im selben Augenblick oben auf der Reling, besann sich einen Augenblick und sprang dann kopfüber dem verschwundenen Schiffsjungen nach.
Fritz kam ein tüchtiges Stück unters Wasser, und als er wieder auftauchte, sah er dicht neben sich den weißköpfigen August fuchteln und mit der ganzen Kraft seiner Lungen schreien: »Er zieht mir runter, er zieht mir runter!«
Und wieder schloß das Meer sich über dem unglücklichen Jungen. Im selben Augenblick hörte Fritz einen gewaltigen Platsch hinter sich und da tauchte auch schon Klaus Döses lockiger Kopf neben ihm auf.
»Du kannst Dir wohl selbst helfen, Fritz?« schrie Klaus, nachdem er Salzwasser ausgespuckt hatte, und tauchte wieder mit einem so heftigen Satz unter, daß seine Segeltuchschuhe und nackten Fußgelenke kerzengerade in die Luft ragten.
Fritz trat Wasser, er wußte im Augenblitz nicht, was er tun sollte. Keine zwanzig Meter von ihm entfernt lag die Brigg mit ihrem schwarzen Rumpf, der sachte in dem blanken Wasser schaukelte; oben auf Deck aber war große Bewegung: Kapitän Tönjachsen lief nach achtern auf die Jolle los, zusammen mit Peter und Stopher, während Wilhelm sich über die Schiffswand lehnte mit einem aufgeschossenen Tau in der Hand; im nächsten Augenblick flog das Tau auf Fritz zu, er ergriff es, biß sich mit den Zähnen daran fest und machte einige kräftige Züge in die See hinaus, denn dort sah er etwas auftauchen – Klaus Döse mit dem Mutterlamm im Arm.
Es war die höchste Zeit. Der Steuermann war blaurot im Gesicht, und Plumps-August lag wie eine Leiche in seinem linken Arm, während ihm das Wasser aus Haar, Nase und Mund strömte.
Klaus befestigte das Tau um den halbtoten Jungen; »Hiev' weg,« rief Fritz zum Koch hinauf, und während die Jolle ins Wasser platschte, mit Peter und Stopher an Bord, zogen der Kapitän und Wilhelm das Mutterlamm ins Schiff hinauf.
Das war gar nicht so leicht, denn die Pilksschnur saß noch immer stramm um das Handgelenk des Jungen und zwang den Arm herunter. Jetzt aber kam die Jolle unter die Schnur, und Peter und Stopher griffen danach.
Und als Plumps-August auf dem Deck der Brigg lag, zogen die beiden in der Jolle eine Riesenscholle von 40 Pfund aus dem Wasser.
»Also Du hast unser Mutterlamm gefischt,« lachte Klaus, der mit dem Ellbogen über dem Rand der Jolle hing.
»Eine Scholle an einem Ende der Schnur, ein Schaf am anderen,« sprudelte Peter heraus.
Fritz trat noch immer Wasser und lachte aus vollem Halse.
Aber an Bord der »Anne-Marie« lag Plumps-August mehr tot als lebendig, und es dauerte fast eine Stunde, bevor er wieder zur Besinnung kam. Es war mindestens ein halber Eimer Salzwasser in seinem Magen, und die Pilkschnur war bis auf den Knochen seines Handgelenks gedrungen.
Am nächsten Morgen mußte Peter Most sich dazu herablassen das Nachtgeschirr des Kapitäns auszugießen und Kajütenjungenarbeit zu tun; drei Tage lag August in seiner Koje.
»Not kennt kein Gebot,« neckte Fritz, als er Peter mit dem Topf in der Hand begegnete.
* * *
Tags darauf gab es Wind, steife Wolken aus Osten, und der schwarze Rumpf der Brigg schnitt durch die Wellen, daß die salzigen Spritzer von vorn nach achtern flogen. Das eine Segel nach dem anderen mußte geborgen werden, und mit einem einzigen Topsegel steuerte die Brigg in den Kanal hinein, an den hohen, weißen Kreidefelsen von Dover vorbei.
Es war an einem Morgen während der Tagwache, und die Sonne strahlte zwischen Wolken auf die Küste von England herab.
Fritz holte schleunigst sein Fernglas und sah gespannt hinüber; zum erstenmal in seinem Leben sah er ein fremdes Land.
Klaus Döse lag oben auf der Marsrahe und stach das Reff aus. Er sang aus vollem Hals:
Was seh ich dort für'n fernen Strand,
Er blendet schier die Augen mein,
Das ist wahrhaftig Engeland,
Dovers Felsen im Sonnenschein.
Peter hatte Fritz die Versicherung gegeben, daß sie im Kanal Gelegenheit bekommen würden, Briefe an Land zu schicken. Da kein Hafen im Kanal angelaufen werden durfte, war es Fritz ein Rätsel, wie eine Postverbindung zustande kommen konnte, da er aber gewohnt war, blind auf Peter zu vertrauen, so lagen bereits zwei lange Briefe für seinen Vater und Tante Minchen fertig kouvertiert zuoberst in der grüngemalten Schiffskiste.
Im Laufe des Tages machte Peter »die Post« klar.
Der Apparat bestand aus einem soliden, zwei Meter langen Brett, mit einem Loch in der Mitte. In dem Loch wurde ein langer Pflock befestigt, der als Mast in die Höhe ragte. Am Top hing ein weißer Lappen und am untersten Ende des Mastes wurde eine Flasche Branntwein befestigt. Die Briefe wurden in ein leeres Einmacheglas getan, wasserdicht verschlossen und auf das Brett festgesorrt. Dann war die Post klar.
Da waren Briefe von Fritz und Peter; letzterer hatte außerdem nach Diktat einen Gruß an Wilhelm's Frau in Lübeck geschrieben, und zuguterletzt kam Klaus Döse noch mit einem zusammengerollten Kouvert, das auch mit sollte. Peter aber las heimlich die Aufschrift; sie lautete:
Fräulein Marie Müller bei Bäcker Wolters, Flensburg, Deutschland.
Das war offenbar Klaus' Braut, wahrscheinlich die letzte von vielen, und ganz gewiß die vorletzte, wenn Klaus wieder an Land gewesen war. Fritz und Peter interessierte diese Entdeckung sehr, denn sie kannten beide die Bäckermamsell, eine niedliche kleine Person, mit einer Stumpfnase, runden, roten Backen und kleinen weißen Zähnen. Sie war es also, an die Klaus dachte, wenn er in mondklaren Nächten vorn auf dem Schweinehaus saß und sang:
Wo ich armer Seemann bin,
Immer wohnt in meinem Sinn
Nur Marie, die süße Braut,
Die mir ganz und gar vertraut.
Die Post lag klar auf dem Deckhaus achtern, jetzt galt es, sie bei einer passenden Gelegenheit abzuliefern.
Dieselbe bot sich bereits am nächsten Tag, als gerade die Insel Wight in Sicht kam.
Da lag eine ganze Anzahl englischer Fischerboote, die landwärts kreuzten; sie wollten wohl nach Southampton, meinte Peter. Die Brigg kam ziemlich nah an sie heran und kreuzte dicht vor dem letzten in der Schar.
Klaus Döse stand mit dem Brett in der Hand in der Jolle und winkte mit seiner Mütze, und vom Kutter wurde sein Winken erwidert. Platsch ging die Post über Bord, der Kutter drehte vorm Wind, legte einen Bootshaken aus und fischte das Brett heraus. »All right,« erklang es vom Kutter, und dann glitten die Schiffe weiter, der Kutter aufs Land zu, die Brigg westwärts. Die Briefe aber wurden besorgt, vier Tage später waren sie in Flensburg.
* * *
Die Fahrt durch den Kanal, die so flott und vergnüglich begonnen hatte, sollte noch langwierig genug werden, denn der Wind ging nach Westen um, und die »Anne-Marie« mußte sich Schlag in Schlag vorwärtskreuzen. Der alte Schiffer trabte ärgerlich umher, und der Zimmermann Stopher maulte, weil es kein Vorwärtskommen gab. Kreuzen war von jeher die schwache Seite der Brigg gewesen, und oft war der Strom noch dazu so verkehrt und stark, daß das Schiff nach zwölf Stunden mehr ostwärts getrieben war, als sie vorher gewesen.
Fritz und Peter aber ärgerten sich nicht über die langsame Fahrt, denn im Kanal gab's immer etwas, was ihr Interesse gefangen nahm.
Da kam nun zum Beispiel einer von den großen Amerikadampfern, so groß wie ein Haus, dessen ungeheurer, schwarzer Rumpf aus dem Wasser ragte. Von dem obersten Deck erhoben sich vier kurze, dünne Masten, und dazwischen drei dicke Schornsteine, aus denen sich der Rauch hervorwälzte und wie eine dunkle Gewitterwolke hinter dem Schiff in der Luft hängen blieb.
Am Donnerstag morgen hatte der Dampfer England verlassen und am Morgen des kommenden Mittwoch sollte er in den Hafen von Newyork einlaufen. Für die »Anne-Marie« wäre es eine Fahrt von ungefähr zwei Monaten gewesen.
Oben auf dem Deck spazierten Herren und Damen in hellen, eleganten Sommertoiletten oder saßen in bequemen Stühlen. Kinder liefen hin und her, ein Orchester spielte; festlich war das Schiff anzusehen, aber nicht sehr seemannsmäßig. Es glich eher einem mächtigen, schwimmenden Badehotel.
Der gewaltige Ozeandampfer steuerte gerade auf die »Anne-Marie« los, die Brigg sah aus wie eine unansehnliche kleine Biene neben einem großen, schwarzen Kater; der kleine Segler aber behielt ruhig seinen Kurs, und der Wunderdampfer mit seinen zweitausend Passagieren und dreihundert Mann Besatzung mußte seitwärts steuern.
Denn so sind die Gesetze auf See, da haben die Segler das Vorrecht und brauchen nicht auszuweichen, ob sie klein oder groß sind.
Drüben an der französischen Küste, in der Richtung von Cherburg, sah man dunkle Rauchwolken, und hörte ab und zu das dumpfe Getöse von schwerem Geschütz. Das waren französische Panzergeschütze, die Schießübungen machten. Eine Stunde später näherten die Rauchwolken sich, und bald konnte Fritz durch sein Fernglas die Rümpfe von sechs großen Kriegsschiffen unterscheiden, die paarweise gegen Westen dampften.
Nach und nach kamen sie so nah, daß Fritz sie ohne Glas betrachten konnte. Es waren gewaltige, graugemalte Eisenkolosse, mit vorspringenden Widdersteven; vorn hatten sie vornübergebeugte, dicke Stahlmasten, hochfahrend und drohend sahen sie aus. Lange, blanke Kanonenläufe steckten aus den Panzertürmen mitten auf Deck; kleinere Kanonen reckten ihre Hälse über die Schiffswände aus halbkreisförmigen Wölbungen hervor, und ganz kleine Revolverkanonen und Mitrailleusen standen überall, wo nur irgend Platz für sie war; vorn im Steven, achtern, auf der Kommandobrücke, ja, ganz oben im Panzermars auf den Masten, zwei, drei übereinander.
Langsam und majestätisch bewegten die mächtigen, grauen Kriegsschiffe sich durch den Kanal, indem sie das grünliche Wasser mit ihren starken Widdersteven pflügten; Signalflaggen flogen auf und nieder – jetzt bildeten die sechs Panzerschiffe nur eine Linie, mit genau demselben Abstand zwischen jedem Schiff.
Bei jedem neuen Signal wurde mit derselben Präzision ein neues Manöver ausgeführt, als seien es geübte Soldaten, die auf dem Felde marschieren.
Fritz war voller Bewunderung für die französischen Kriegsschiffe, und war unvorsichtig genug seiner Bewunderung Peter gegenüber Ausdruck zu geben.
»Jawohl, in Friedenszeiten hier herumrennen und sich wichtig machen, das können diese französischen Stachelschweine; aber sobald ein Engländer sich zeigt, dann bezahlen die Franzosen Fersengeld, sonst kriegen sie was aufs Maul, jawohl, so wahr ich Peter Most heiße.«
»Glaubst Du, daß die Engländer noch größere Kriegsschiffe haben,« fragte Fritz zweifelnd.
»Größere? Ha, dreimal so groß und zehnmal so viele. Und außerdem – hast Du jemals einen Franzos gesehen? Das sind so kleine, behende Hopsakerle, Wichte ohne Mark und Bein, verstehst Du. Ein Engländer kann – jederzeit – zwei von der Sorte zuschanden hauen.«
»Na, na, Peter, Napoleon war doch auch ein Franzose, und er und seine Soldaten haben doch sowohl die Deutschen wie die Russen und die Italiener besiegt.«
»Von dieser dummen Weltgeschichte versteh ich nichts,« sagte Peter, mit gekränkter Würde; »wenn Du aber mit Napolibum renommieren willst, so sag ich bloß: der war 'ne Landratte, und ich meinte, daß wir uns hier von Seeleuten unterhalten – für Landratten interessiere ich mich nicht.«
Fritz fühlte sich beschämt, weil er es gewagt hatte, eine Landratte wie Napoleon an Bord der Brigg »Anne-Marie« zu nennen. Glücklicherweise fiel ihm ein, daß Nelson die Franzosen mehrmals geschlagen hatte, und er erzählte Peter davon, der sich höchlichst über die Taten des englischen Seehelden ergötzte.
»Dieser Nellesohn muß ein Teufelskerl gewesen sein.«
»Nelson,« berichtigte Fritz.
»Nenn ihn wie Du willst, wenn er nur die Franzosen ordentlich verhauen hat, denn die sind ein ganz gemeines Pack. Ich hab sie selbst mal am Schlafittchen gehabt, ebenso wie dieser Nellesohn – im Kleinen natürlich.«
Fritz' Gesicht drückte unverhohlenes Erstaunen aus.
Peter zog die alte Zinndose aus der Tasche, schnitt sich ein Ende Kautabak ab, schob es in seinen Backbordkiefer und nickte feierlich.
»Wenn ich im Kleinen sage, so hat das seinen guten Grund. Denn dieser Nellesohn mag ja viele Franzosen verhauen haben, und ich hab es nur mit einem zu tun gehabt, aber der hat auch sein Teil gekriegt – – –
Es war hier im Kanal, ungefähr auf dieser Stelle, und wir hatten einige Tage mit Windstille und Nebel festgelegen. Da, eines Morgens, treibt einer von diesen französischen Fischkuttern ganz dicht an uns vorbei, kaum einige Kabellängen von uns entfernt.
»Peter,« sagt der Alte, »mach, daß Du mit der Jolle rüberkommst und sie zu, daß Du uns einige Fische verschaffst.«
Ich wricke also mit zwei Flaschen Branntwein in der Jolle, zum Kutter hinüber und lege längsseit an.
Ich sage Dir, so was von Schweinerei hatte ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Es stank derartig, daß man kaum atmen konnte. Auf dem Deck wimmelte es von Fischen: großen Dorschen und Wittlingen und Flundern, Schnecken und Muscheln und Tintenfischen überall, und dazwischen krabbelten große Krabben und Hummern, die das Deck ganz lebendig machten.
Ein altes, runzliges Männchen saß am Mast und rauchte seine Pfeife mitten in all der Schweinerei, und ein junger Mensch von ungefähr zwanzig Jahren lief mit bloßen Füßen auf dem schlüpfrigen Deck herum und fing die Hummern ein und warf sie in einen großen Kasten. Das war alles, was ich an Mannschaft sah, die übrigen schliefen wohl unten.
Als der Alte mich sah, dachte er wohl, daß Branntwein in Aussicht sei, und hei, wie wurde er liebenswürdig, als er die beiden Flaschen sah. Ich glaub, ich hätte alles nehmen können, was auf Deck lag, aber ich ließ mir Zeit und suchte das Beste aus.
Der Junge aber folgte mir die ganze Zeit auf den Hacken. Dies dürfe ich nicht nehmen und jenes nicht, und dabei grinste der tückische Kerl und schwatzte ununterbrochen – ich verstand natürlich keinen Ton, ließ mich aber nicht stören und warf Fisch nach Fisch in die Jolle.
Plötzlich stehe ich, hol's der Teufel, zwischen Dorsch und Weißlingen auf dem schmierigen Deck Kopf, und hätte ich mich nicht noch beizeiten gerettet, so würde eine gewaltige Krabbe mich in die Nase gezwickt haben – sie holte schon tüchtig mit ihrer einen Zange aus. Der tückische Franzose hatte mir einen Besenstiel zwischen die Beine gesteckt, und stand und grinste, während ich mich auf dem Deck wälzte.
Als ich wieder auf den Beinen stand, wollte ich mich auf ihn stürzen und ihn verhauen, als ich aber sah, daß der Alte ihn ausschalt, schenkte ich es mir und drohte ihm nur mit der Faust.
Na, der Alte bekam seinen Branntwein, und ich bekam Fische – und zwar reichlich. Als ich aber wieder in die Jolle steigen wollte und dem Spitzbuben den Rücken zukehrte, da kneift mich plötzlich etwas ganz gewaltig in meinen Allerwertesten. Ich fahr herum – da steht der dumme Franzos und grinst bis über beide Ohren. Da aber haute ich ihm eine Ohrfeige runter, sage ich Dir, daß er rückwärts mit Geheul in die Luke stürzte – und dann sprang ich in die Jolle hinunter und ruderte davon; aber es zwickte mich noch immer hinten, und weiß der Teufel, hing da ein großer Hummer, der sich bis auf's Fleisch festgebissen hatte.
Na, der französische Schuft hatte sein Teil weggekriegt, und der Hummer war delikat – der Kapitän aß ihn zum Abendessen. Ich aber konnte mich den ganzen Tag nicht hinsetzen.
Von der englische Küste nach Frankreich hinüber und von der französischen Seite nach England kreuzte die Brigg viele und lange Tage. Sie passierte stolze Kriegsschiffe und schäbige Kohlendampfer, große Viermaster und elegante Lustjachten; in diesen Tagen lernte Fritz mancherlei, denn die verschiedenartigsten Schiffe der ganzen Welt schienen sich im Kanal Stelldichein gegeben zu haben.
Endlich konnte die »Anne-Marie« Ouessant auflegen – die nordwestlichste Spitze von Frankreich –, und damit segelte die Brigg in das klare, tiefblaue Atlantische Meer hinein. Der westliche Wind hielt an, ging sogar etwas nach Norden um und es wurde mit raumer Schot gesegelt, südwärts auf Spanien zu.
Das Leben an Bord ging seinen einförmigen Gang, es gab immer genug zu tun. Fritz machte die Wachen mit, ebenso regelmäßig wie Peter. Er enterte die Wanten in der Takelage auf und nieder, hatte seinen Rudertörn, lernte zu knoten und zu splissen. Schiffer Tönjachsen sagte nichts, nickte aber hin und wieder zufrieden, und Klaus Döse erklärte, wenn die Reise beendigt sei, würde Fritz für den Rang eines Leichtmatrosen ausgebildet sein.
Fritz aber glaubte nicht daran, er wußte, daß es etwas gab, was Schule hieß, Schulaufgaben und jährliche Examina – unumgängliche Uebel für die Kinder wohlhabender Väter, die nicht so glücklich waren wie Peter, der sich auf eigene Faust und ohne viel Gelehrsamkeit durchschlagen konnte. Und wenn Fritz hin und wieder von Heimweh befallen wurde und sich nach seinem Vater, seiner Tante Minchen und nach Villa Thules Herrlichkeiten sehnte, dann schweiften naturnotwendig seine Gedanken aus zu Schulaufgaben und Zeugnisbüchern – und damit war dann das Heimweh kuriert.
* * *
Es war Hundewache, zwei Stunden nach Mitternacht, Peter Most stand am Ruder, und Fritz saß dicht neben ihm auf dem Deckhaus.
Dunkel war es eigentlich nicht, denn ein großer Dreiviertelmond schwamm oben am Nachthimmel und goß sein Silber in langen Streifen über die Dünung des Meeres. Segel und Masten leuchteten in phosphorartigem Glanz, und Meerleuchten blitzte im Kielwasser. Die Luft war warm, schwache Luftzüge strichen übers Schiff dahin.
Klaus Döse saß auf der Back, die Glut in seiner Pfeife leuchtete jedesmal auf, wenn er einen Zug tat.
Es war ganz still an Bord – ein vereinzelter knarrender Laut, wenn Peter das Ruder drehte, ein gedämpftes Schlagen des Topsegels, wenn das Schiff nach Lee schlingerte.
Klaus sang mit gedämpfter Stimme, die Worte aber drangen in der stillen Nacht bis zu dem Knaben am Ruder – ein Lied von dem schweren Los des Seemannes und von seiner Frau in dem einsamen Heim:
Der Seemann muß auf's Meer hinaus
Bei glatter See und im Sturmgebraus,
An guten Tagen, in Stunden der Not,
Denn es gilt für die Seinen das tägliche Brot.
Daheim in der Hütte, die Frau, die er liebt,
Zwei kleinen Kindern Nahrung sie gibt.
Sie küßt sie: niemals den Vater vergeßt,
Sein treuer Fleiß uns ja leben läßt.
Aber Wochen entschwanden, das Jahr verging,
Sie wartet und sehnt sich und weint sich halb blind;
Sie kämpft für Nahrung und sorgt sich allein:
Nun vergaß er doch uns Armen daheim!
Inzwischen das Wrack, ein Spiel der Wellen,
Es mußte an Zanzibars Küste zerschellen,
Die Leiche des Seemanns ans Ufer sie trieben –
Sein letzter Gruß galt den fernen Lieben.
Es war im Meerbusen von Biscaya. Des Morgens war eine Bö aus Südost angejagt gekommen, eine Sturmwolke schwarz und schwer, mit Wind und Nässe geladen. In weniger als zehn Minuten verdunkelte sie den blauen, sonnenhellen Himmel vollständig, schleuderte einen Platzregen auf Meer und Schiff herab und wühlte das ruhige Wasser zu schaumwütenden Wogen auf.
Klaus Döse schlief, und Stopher zankte sich gerade mit dem Koch, darum gewahrte niemand die Bö, bevor sie die »Anne-Marie« angriff.
In aller Geschwindigkeit wurden die Raen bei dem Winde gebraßt, die Brigg zum Wind gedreht, das Großsegel gehißt und das Topsegel gestrichen. Aber es war reichlich spät. Die Bö toste über das kleine Schiff herab, schleuderte es leewärts, riß das Topsegel in Fetzen, und ergoß einen solchen Wolkenbruch über Deck, daß Rundhölzer, Schweinehaus und Hühnerkäfig in einer sündhaften Verwirrung durcheinander schwammen.
Die Brigg aber hielt sich gut, schnell zog die Bö vorüber, um weiter draußen im Atlantischen Ozean ihr Unwesen zu treiben. Bald strahlte die Sonne wieder über dem Meerbusen von Biskaya; die »Anne-Marie« steuerte weiter südwärts, mit sicherem Kurs und trockenem Deck.
Das Topsegel aber sollte repariert werden. Obgleich es alt und mürbe war, wollte Tönjachsen es nicht kassieren. Er wahrte stets das Interesse seines Reeders.
»Ihr hättet besser Ausguck halten und das Segel beizeiten bergen können,« brummte der alte Schiffer in seinen grauen, struppigen Bart, »jetzt müßt Ihr selbst auslöffeln, was Ihr Euch eingebrockt habt. Der alte Lappen wird zusammengeflickt.«
Damit trabte er in seine Kajüte.
Das Topsegel wurde über die große Luke gebreitet; es sah traurig aus, und Klaus Döse murmelte derbe Verwünschungen über den Geiz des »Alten.« Aber Segelgarn und Segelnadeln, Reserve-Segeltuch und Tauwerk mußten hervorgeholt werden und dann setzten sich alle auf Deck um die große Luke herum, der Steuermann, Stopher, der Koch und Peter Most – und flickten die alten Lappen zusammen.
Fritz wurde nicht mit der Segelmacherarbeit betraut, das hatte er noch nicht gelernt, aber er hockte bei den anderen, half beim Ausbreiten des Segels und hörte im übrigen der Unterhaltung aufmerksam zu. Das Mutterlamm aber steuerte, und auf den mußte Fritz ein Auge haben.
»Seht den Koch an,« sagte Stopher, »wie der sich mit seinen schwarzen Krallen durchs Segeltuch fressen kann.« Wilhelm machte zwei Stiche, wenn Stopher erst einen gemacht hatte. »Der meint gewiß, daß er auf Akkord arbeitet.«
Der Koch antwortete keine Silbe, beugte sein melancholisches Gesicht über das Segel und arbeitete getrost weiter. Er sprach nie, wenn er beschäftigt war, und ließ Stophers Neckereien geduldig über sich ergehen.
»Na, hast wohl 's Maul verloren, was Koch?« fuhr Stopher fort, »wenn Du zu Hause ebenso munter bist, wundert's mich nicht, daß Deine Alte Dich prügelt.«
Da aber kam der Steuermann Wilhelm zu Hülfe: »Denk man lieber an Deine eigene Alte, Stopher, wer weiß, ob Du die je wieder zu sehen kriegst.«
»Was denn, was soll das heißen, Steuermann?«
»Ach, ich dachte nur an etwas, was mir heute nacht geträumt hat; mir hat von Dir geträumt, Stopher.«
Alle Seeleute sind abergläubisch, und Stopher nicht zum wenigsten; in allem, was geschah, sah er Vorbedeutungen, und vor Träumen hatte er einen gewaltigen Respekt. Das wußte Klaus.
»Mir träumte wahr und wahrhaftig – es war gerade bevor die Bö kam – daß ich am Ruder stand, und es war Nacht, denn ich konnte kaum von vorn nach achtern sehen. Plötzlich sah ich eine Erscheinung überm Back, wie so'n Gespenst, ganz weiß – und das warst Du, Stopher.«
Der Zimmermann saß mit offenem Mund und hochrotem Kopf da und starrte Klaus an: »War ich's wirklich, oder lügst Du, Steuermann?«
»Nein, nein, Du warst es wirklich, Stopher. Du sahst aus wie ein Gespenst und standest wie ein Angeklagter vor einer Schranke, mit gefesselten Händen – Du scheinst ein mordsmäßig schlechtes Gewissen zu haben.
Wer der Richter war, das konnte ich nicht genau erkennen; er saß in einem großen Stuhl, aber er schien mir mit dem Alten da drinnen Aehnlichkeit zu haben.« Klaus zeigte mit dem Daumen auf die Kajüte.
»Auf einmal stand Wilhelm da, verklagte Dich beim Richter und sagte: »Stopher hat 'ne Flasche Branntwein gemaust, als er das letztemal unten im Last war! Dann verschwand der Koch, im selben Augenblick aber tauchte Peter Most auf und sagte zum Richter: »Stopher hat 'ne Rolle Kautabak aus meiner Kiste stibitzt.« Danach kam Plumps-August; er heulte und sagte: »Stopher prügelt mich jeden einzigen Tag und verlangt von mir, daß ich Zigarren beim Kapitän für ihn stehlen soll« – dann trabte Hans aus dem Schweinehaus und sagte, daß Du es gewesen seist, der ihm neulich, als er krank wurde, einen alten Kautabak gegeben hättest – und schließlich kamen die Hühner – – –«
»Hör mal, Steuermann, Du lügst ja wie gedruckt; wenn Du aber glaubst, daß ich Deinen Lügenkram noch länger anhören will, so irrst Du gewaltig.«
»Nachdem alle ihre Klagen vorgebracht hatten,« fuhr Klaus unbeirrt fort, »erhob der alte Richter sich und rief mit Donnerstimme: Stopher soll gehängt werden! Das wiederholte er dreimal, und im selben Augenblick enterten drei Teufel die Wanten hinunter, mit der langen Lotleine in der Hand – schwarze Teufel hu, mit glühenden Augen und roten Hörnern an der Stirn – die legten Dir die Schlinge um den Hals, Stopher, und grinsten dazu – – ja, da wachte ich auf, denn die Bö war über uns.«
Stopher warf unruhige Blicke umher und murmelte: »Das ist gelogen, hol's der Geier, das ist gelogen.« Aber er sah doch unsicher aus und schielte zu Klaus hin, der mit dem ernstesten Gesicht von der Welt dasaß und arbeitete.
Peter kicherte und stieß Fritz an, und Wilhelms betrübtes Gesicht wurde von einem bleichen, schiefen Lächeln erhellt.
Eine Weile herrschte Schweigen rings um das zerfetzte Topsegel herum, dann aber konnte Peter es sich nicht mehr verkneifen, ganz unschuldig zu fragen:
»Was sagten denn aber die Hühner, Steuermann?« Da wurde Stopher aber bös.
»Fängst Du jetzt wieder an, Du frecher Grünschnabel!« Und er holte zu einer gewaltigen Ohrfeige aus; Peter aber duckte sich behende, so daß Stopher durch die Luft schlug und aufs Deck rollte. Im nächsten Augenblick aber war er wieder auf den Beinen und hinter Peter her, der flink und geschmeidig dem schwerfälligen Zimmermann entschlüpfte und die Takelage hinaufenterte.
»Wollt Ihr wohl Frieden halten!« ertönte die warnende Stimme des Steuermanns, »seht lieber zu, daß Ihr mit dem Topsegel fertig werdet – jetzt habt Ihr den Alten geweckt!«
Die Kajütentür ging auf, Tönjachsen steckte seinen alten Kopf durch die Spalte und sofort war alles still um das Topsegel herum.
* * *
Bei einem steifen »Portugiesen-Nord« segelte die »Anne-Marie« längs der Küste von Portugal, daß der Schaum nur so um den Bug spritzte. Die Luft wurde mit jedem Tag wärmer, die Farbe des Meeres dunkler und der Himmel immer strahlender und blauer.
Delphine – Springer nennt der Seemann sie –, spielten in großen Scharen rings im Meer. Wie eine Bande Schuljungen, die einen Betrunkenen auf der Straße entdecken, so jagten sie hinter der Brigg her, bald eben unter der Wasserfläche, bald sich in kecken Sprüngen in die Lüfte erhebend, voll Kraft und Grazie, wie ein Voltenschläger im Zirkus.
Es belustigte sie augenscheinlich mit dem Schiff um die Wette zu schwimmen, in voller Karriere am Bug vorbeizuschießen, unter den Kiel zu tauchen, um dann, wenn sie des Spiels müde waren, in langen Sprüngen über die weite Meeresfläche weiter zu jagen.
Fritz stand vorn im Schiff und blickte voller Entzücken auf die Delphine herab, die geschmeidig um das Schiff herum schlüpften; kaum ein Fuß breit war zwischen dem Steven und den schwarzblanken Körpern.
»Möchtest Du wohl einen davon schmecken, Fritzchen?«
Der Junge sah Klaus Döse fragend an – war es Ernst oder Scherz? Klaus aber ging zum Schiffer hinein und ließ sich die lange, scharfgeschliffene Stahlharpune geben, die in schöner Gemeinschaft mit einem Sprachrohr und einer altmodischen Flinte überm Sofa hing.
Es war offenbar Ernst, die Delphine sollten harpuniert werden.
Die Lotleine wurde auf dem Stag über einen Block gelegt, und das Ende an dem Ring der Harpune befestigt; ein langer Holzschaft wurde durch das hohle Ende gezogen, und damit war der Apparat fertig.
Klaus enterte auf das Spriet und setzte sich rücklings hin; die lange Harpunenstange hielt er so in dem hocherhobenen, rechten Arm, daß die blanke Stahlspitze mit den beiden beweglichen Flügeln, die Wasserfläche fast berührte. So erwartete er das Kommen der Delphine.
Im Augenblick waren keine da und Fritz blickte sehnsuchtsvoll übers Meer, um das »Wild« zu erspähen.
Endlich kam eine Schar – zehn, zwölf Stück – springend, hüpfend, im Wasser ein und ausschlüpfend, ausgelassen und keck.
»Ruf Stopher und Wilhelm,« kommandierte Klaus; und Fritz schoß davon, um die beiden Matrosen zu holen.
»Seid klar zum Einholen der Leine, sobald ich gestoßen habe.«
Die Springer kamen jetzt dicht an's Schiff heran und begannen ihr gefährliches Spiel um den Steven. Mehrmals hob Klaus die Harpune, wartete aber immer wieder; schließlich stieß er sie mit enormer Kraft ins Wasser. »Hiev weg!« rief er und enterte aufs Deck hinauf.
Der Koch, Stopher und Fritz hingen an der Leine und zogen aus Leibeskräften, aber sie wurden nur von dem riesigen Gewicht des Delphins hochgehoben, Klaus half mit und selbst das kleine Mutterlamm tat sein Bestes; da aber kam der Kapitän mit wuchtigen Laufschritten aus der Kajüte und setzte seinen schweren Bärenkörper mit ein. Das half, und langsam wurde der schwere, zappelnde Delphinkörper aus dem Meer gezogen. Die Harpune hielt gut fest, die Spitze war ganz durch den Rücken und auf der anderen Seite wieder herausgedrungen.
Bald lag das große Tier auf Deck, wohl drei Meter lang, und stieß seltsame Grunzlaute aus.
Der Koch stieß ihm sein großes Küchenmesser in den Nacken, da war es tot.
Es gab Proviant für zwei ganze Tage. Das dunkle, mürbe Fleisch längs des Rückens wurde zu Beefsteaks und Frickassee gemacht, die Leber wurde gebraten. Etwas tranig war sie, aber sie schmeckte doch herrlich.
Nur Stopher war nicht zu bewegen, die Gerichte anzurühren.
»Das bringt Unglück über die Brigg,« sagte er und schüttelte den Kopf. »Delphine sind die Geister ertrunkener Seeleute. Ihr sollt sehen, daß sie sich rächen werden!«