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Zollkontrolleur Klenow war ein kleiner, kahlköpfiger Herr von ungefähr fünfzig Jahren, sorgfältig frisiert und barbiert, etwas beleibt, sehr zierlich in Kleidung, Manieren und Redeweise. Er hatte eine vermögende Frau geheiratet und wurde Witwer als Fritz zwei Jahre alt war. Bald darauf war er von Hamburg nach Flensburg als Zollkontrolleur versetzt worden. Klenow empfand diese Versetzung als eine große Kränkung, als einen Ausfluß von Neid bei seinen Vorgesetzten, weil er pekuniär unabhängig war. Er hatte seine Zukunftspläne geschmiedet, mit Hamburg als Grundlage und war unglücklich, daß er eine Reihe von Jahren in einer kleinen Provinzstadt wie Flensburg leben sollte. Er trug sich eine Zeitlang mit dem Gedanken, seinen Abschied zu nehmen, kam aber wieder davon ab.
In Flensburg baute Klenow sich eine Villa und nannte sie »Thule«, wodurch er seine Geringschätzung für seinen neuen Aufenthaltsort ausdrücken wollte, der ihm – geistig betrachtet – soweit von dem Kulturmittelpunkt, in dem er zu leben gewohnt war, entfernt zu liegen schien, wie das äußerste Thule von dem klassischen Rom.
In Villa Thule lebten Fritz und sein Vater zu Anfang ganz abgesondert von der übrigen Welt, Klenow wollte keinen Verkehr mit den Flensburgern.
Aber das dauerte nicht lange.
Klenow konnte es nicht aushalten zu schmollen, dazu war er zu gesellschaftlich veranlagt. Die Flensburger, die den kleinen zierlichen Beamten gut leiden konnten und denen seine Verachtung für die hübsche Stadt ganz unverständlich war, nannten die Villa »Tulle,« und es glückte ihnen bald, den Fremden für ihr geselliges Leben zu gewinnen. Bevor ein Jahr um war, war Klenow mit Leib und Seele Flensburger Bürger und nahm einen hervorragenden Platz in den besten Kreisen der Stadt ein, der ihm durch seine jährliche Einnahme, sein hübsches Haus und seine Stellung als Beamter auch zukam.
Die Last des Haushaltes aber drückte den liebenswürdigen kleinen Mann, und er liebte Fritz zu sehr, um sich wieder zu verheiraten und dem Sohn eine Stiefmutter zu geben, die ihn vielleicht nicht mit der genügenden Zärtlichkeit und Nachsicht behandeln würde – denn es war gar nicht so leicht mit Fritz umzugehen, der so verzogen und eigenwillig war, wie ein kleiner Prinz. Darum kam Tante Minchen ins Haus.
Fräulein Minna Klenow, Klenows ältere, unverheiratete Schwester, glich dem Bruder, wie eine zierliche, alte Jungfer mit einer weißen Haube und Brillengläsern, einem uniformierten, spitzleibigen Beamten gleichen kann. Die Brille verdeckte zwei freundliche, blaue Augen, das heißt, wenn die Brille auf ihrem Platz saß, denn sie befand sich meistens in rutschender Bewegung auf der langen, spitzen Nase, und wenn sie die Spitze derselben erreicht hatte, wurde sie mit einer energischen Bewegung wieder auf ihren Platz geschoben.
Tante Minchens Aufgabe war es, den Haushalt zu führen und bei Fritz Mutterstelle zu vertreten. Das erstere fiel ihr nicht schwer, dank der Köchin, Madam Most, die flink und tüchtig war und das Haus in schönstem Stand hielt. Die andere Aufgabe aber war ungleich schwieriger.
Fritz, der für seinen Vater die größte Liebe und Ehrerbietung empfand, betrachtete Tante Minchen mit feindlichen Augen; er fand, daß ihr Eindringen eine Verletzung des Hausfriedens bedeutete. Sonst war immer alles glatt gegangen; Fritz hatte nämlich meistens seinen Willen bekommen. Tante Minchen wirkte wie ein Stein auf seinem Weg. Wenn Fritz mit seinen Schulkameraden ausgehen oder mit Madam Most's Sohn, Peter, fischen wollte, gleich war Minchen mit ihrer Angst da vor nassen Füßen oder vor Gott weiß was, und mit ihren Ermahnungen.
Je älter Fritz wurde, desto schlimmer ward es. Der Vater lud die ganze Erziehungsbürde auf seine Schwester und begnügte sich damit seinen Jungen zu erziehen, und Fritz gehörte nicht zu denen, die sich freiwillig von einer alten Tante unterjochen lassen. Das Resultat war nicht angenehm für Tante Minchen. Sie liebte sowohl ihren Bruder wie ihren Neffen zärtlich, und ihre häusliche Verantwortung lastete schwer auf ihr.
Wie ein junges Füllen, dem der Halfter angelegt werden soll, so sträubte Fritz sich gegen die Ratschläge und Ermahnungen seiner alten Tante, und glückte es Tante Minchen ein einzelnes Mal, mit Hilfe des Vaters, ihren Willen durchzusetzen, so konnte sie sicher sein, daß Fritz sich wegen des angetanen Unrechts rächte, indem er sie auf alle mögliche Weise neckte. In dieser Beziehung war er außerordentlich erfinderisch.
Bald versteckte er Tante Minchens Brille, so daß das alte Fräulein, das kurzsichtig war wie ein Maulwurf, durchs ganze Haus lief und mit den Augen blinzelte, ohne etwas finden zu können. Bald schmuggelte er kleine Stücke weißen Marmor, die er beim Steinmetz bekam, in die Zuckerdose, und lachte sich innerlich halb tot, wenn die Tante verzweifelt in ihrer Kaffeetasse herumrührte, und auf den Krämer schalt, der solch schlechten Zucker verkaufte. Einmal hatte er ihr Maikäfer ins Bett gelegt, aber das tat er nicht wieder, denn Tante Minchen wurde so entsetzt, als sie die Maikäfer in der dunklen Nacht auf ihrem Körper krabbeln fühlte, daß sie schrie und Krämpfe bekam, so daß der Arzt geholt werden mußte. Da war Fritz sehr unglücklich und gestand seinem Vater schluchzend sein Verbrechen.
Fritz konnte seine Tante wohl ärgern, im Grunde seines Herzens aber fand er doch, daß sie eine liebe, gute Seele sei, der er ungern ein Leid antun wollte.
In der Schule ging es Fritz nur mäßig. Er war weder dumm noch faul, aber er hatte kein rechtes Interesse fürs Lernen und dachte immer nur an sein Vergnügen außerhalb der Schule. Deshalb konnte er auch nur so eben, eben mit den anderen Jungen Schritt halten. Sein Zeugnisbuch aber, das jeden Sonntag vorgezeigt wurde, bot selten Gelegenheit für eine Extrabelohnung.
Jetzt war Fritz vierzehn Jahre alt, keck und geschmeidig, der Erste in der Turnstunde, aber ziemlich tief unten in den anderen Schulfächern, beliebt bei seinen Kameraden, und übrigens auch bei den Lehrern. Er war immer voran, wenn »Krieg« gespielt wurde, und trug manche Beule und manches blaue Auge im Kampf davon, zu Tante Minchens unsagbarem Entsetzen.
Am liebsten aber war er doch mit Peter Most zusammen, kletterte auf den Takelagen der Schiffe, die im Hafen lagen, herum, oder ruderte auf die Förde hinaus, um Dorsche zu pilken und Schollen zu fischen. Er schwamm wie ein junger Seehund – darin war er Peter über – und wußte gut Bescheid mit der Takelung und den Segeln eines Schiffes. Hierin war Peter sein Lehrmeister, sein großes, unübertroffenes Ideal eines jungen Seemannes; und als Peter Leichtmatrose wurde, sah Fritz geradezu mit Ehrerbietung zu ihm auf.
* * *
Als Peter Most und Fritz die Villa erreicht hatten, trennten sich ihre Wege. Peter stieg mit ihrem Fang, den sechs Dorschen, die Küchentreppe hinauf, und saß kurz darauf am Küchentisch vor einer großen Kumme dampfender Milch und biß in ein gewaltiges Butterbrot mit Knackwurst, während seine behäbige Mutter mit Schüsseln und Töpfen hantierte und ihre Küche in Ordnung brachte. Fritz dagegen ging durch den Haupteingang und lief die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf, denn er mußte sich erst die Hände waschen und das Haar bürsten, bevor er am Abendbrotstisch im Parterre der Villa erscheinen durfte.
Fritz war wie gewöhnlich zu spät nach Hause gekommen, denn als er ins Eßzimmer trat, war man bereits zu Tisch gegangen. Tante Minchen, die gerade den Tee einschenkte, ließ es sich natürlich nicht nehmen, ihren Neffen im klagenden Ton eine sanfte Zurechtweisung zu erteilen:
»Gott, Fritzchen, wo bist Du denn gewesen? Du kommst wieder zu spät, obgleich wir schon eine halbe Stunde auf Dich gewartet haben. Du hast doch keine nassen Füße und wirst mit einem Schnupfen ins Bett müssen?«
Fritz fand es weit unter seiner Würde Tante Minchen über den Zustand seiner Füße Rede zu stehen, die tatsächlich so naß waren, wie sie überhaupt sein konnten; er antwortete kein Wort, sondern ging um den Tisch herum und begrüßte seinen Vater und den Schiffsreeder Brummer, der an diesem Abend Gast im Hause war.
»Guten Abend, mein Junge, potz Tausend, da braucht man nicht erst zu fragen, wo der gewesen ist, polterte Brummer los, mit seinem starken, tiefen Baß, der riecht ja nach Fisch und nach Teer und nach der ganzen »Waterkant.« – Was hast Du gefangen?«
»Sechs Dorsche und einen Butt,« lautete die lakonische Antwort, denn Fritz saß bereits auf seinem Platz und stürzte sich mit einem wahren Heißhunger über das Abendessen.
Schiffreeder Brummer war ein großer Mann in Flensburg. Er war Holzhändler, Schiffsreeder, Kaufmann und noch vieles andere; er war mit Klenows befreundet und außerdem ihr Nachbar, da sein Garten an Villa Thule stieß.
Brummers Stimme ließ sich nicht dämpfen, seine Rede war wie Trommelwirbel, sein Lachen wie Donnergetöse. Er war der beste, gutmütigste Mensch von der Welt, liebte es aber, sein gutes Herz hinter einer barschen Miene und rauhen Redeweise zu verbergen. Aber es war lange her, seit er jemand damit hatte schrecken können. Brummer mit seinem gefurchten, wettergebräunten Gesicht, seinem dunklen, struppigen Vollbart und seiner polternden Stimme war von jedem Kind in Flensburg gekannt und von niemand gefürchtet.
Brummer wies nie einen Armen von seiner Tür fort, und auf sein Wort konnte sich jeder verlassen.
»Na, Fritz, morgen ist ja Dein Geburtstag,« sagte Brummer, »wie alt wirst Du denn, mein Junge?«
»Vierzehn Jahre, Onkel Brummer.«
»Potztausend,« lachte Brummer, »da wird es bald Zeit, daß etwas aus Dir wird. Was willst Du denn aus ihm machen, Klenow?«
»Ja, ich weiß noch nicht recht, mein lieber Brummer; Fritz hat keine rechte Anlage zum Studieren, und was die Beamtenlaufbahn anbelangt, so ist sie so wenig einbringend – und außerdem so beschwerlich, daß man die Jugend kaum ermuntern kann, dieselbe zur Grundlage ihrer ferneren Lebensentwicklung zu machen, ja. Aber es gibt ja auch andere – wenn ich mich so ausdrücken darf – praktischere Aufgaben.«
Klenow liebte es mit Salbung zu sprechen, hörte sich selbst gern reden und pflegte liebevoll über sein kleines Backenbärtchen zu streichen, wenn er einen besonders geschnörkelten Satz gut zu Ende geführt hatte.
»Praktische Aufgaben,« wiederholte Brummer, »ja, das ist mal ein vernünftiges Wort. Dazu taugt er gewiß besser als zum Studieren, was Fritz? Laß ihn sich in der Welt umsehen und dann selbst bestimmen, was er werden will. Er sollte zur See fahren, sag ich, da lernt er was Praktisches.«
»Die Zukunft des Deutschen liegt auf dem Wasser – – –« begann Klenow; Tante Minchen aber unterbrach ihn: »Aber Herr Brummer, setzen Sie dem Jungen doch keinen Floh ins Ohr. Mit den schrecklichen Schiffen zur See fahren – und ertrinken! Oh, mein Gott, ich würde vor Angst auf der Stelle vergehen.« Tante Minchen sah so erschrocken aus, daß Brummer die Frage gutmütig fallen ließ.
Fritz' Augen aber leuchteten, und er nickte Onkel Brummer mit einem hoffnungsfrohen Lächeln zu. In ihm hatte er also einen Bundesgenossen gefunden.
Als das Abendessen kaum beendigt war, schlich er sich aus dem Zimmer und ging nach oben, um Peters sinnreichen Plan auszuführen.
Inzwischen saßen die beiden älteren Herren in bequemen Korbstühlen draußen auf der geräumigen Veranda der Villa, jeder mit einem Rumgrog vor sich auf dem runden Tisch und aus einer silberbeschlagenen Meerschaumpfeife rauchend. Brummers kräftiger Baß und Klenows sanfte Stimme klangen abwechselnd über den dunklen Garten, während die rotverhängte Lampe ihren Schein über die Gesichter der Sprechenden warf.
Das Gespräch war von den letzten Flensburger Neuigkeiten zur Politik übergegangen, eine stehende Streitfrage zwischen den beiden Freunden; denn Klenow war seit seiner Versetzung nicht mehr so regierungsfreundlich gesinnt, während Brummer für Kaiser Wilhelm schwärmte und alles bewunderte, guthieß oder entschuldigte, was von oben kam. Mitten in der Hitze der Debatte, wobei mancher derbe Fluch wie Schüsse von Brummers schwerer Artillerie abgeschossen wurde, erklangen Tante Minchens hastige Fußtritte auf der Treppe und durchs Zimmer.
»Bester August, sieh doch nur! Hat man je etwas Aehnliches erlebt!« Tante Minchen kam jetzt auf die Veranda hinaus, ihr Gesicht drückte äußerstes Staunen und Entsetzen aus, die Brille war ganz auf die Nasenspitze gerutscht. »Bitte, lies selbst.«
Sie legte zwei ganz gleiche Zettel vor ihrem erstaunten Bruder auf den Tisch.
»Was ist denn das?«
»Ich fand den einen Zettel auf meinem Nachttisch und den anderen auf Deinem. Das sind Fritz' Wunschzettel. Dafür können wir uns bei Ihnen bedanken, Herr Brummer!«
»Bitte, bitte, keine Ursache, Fräulein Klenow, aber darf ich nicht mal sehen, was draufsteht – – – »Eine Reise diesen Sommer mit der »Anne-Marie« – – »das nenn ich mir einen forschen Jungen, hohoho!« und Brummer lachte, daß die Veranda bebte. »Ja, meinetwegen gern, das Schiff gehört mir, und meinen Segen hat er.«
»Aber lieber Herr Brummer, darin kann man den Jungen doch nicht unterstützen.«
»Doch, liebes Fräulein. Potztausend, was kann es Fritz denn schaden, wenn er eine Reise mit der Brigg macht?«
»August, Du wirst doch nie und nimmer Deine Zustimmung geben,« bat Fräulein Minchen fast weinend, »es wäre mein Tod.«
Klenow strich nachdenklich seinen Backenbart; er war offenbar nicht so sehr gegen den Gedanken, wie seine Schwester von ihm erwartete. Aber da ergriff Brummer wieder Fritz' Partei:
»Hören Sie mal, bestes Fräulein, seien Sie mal 'n bißchen vernünftig. Sie können den Jungen doch nicht zeitlebens an ihrem Rockzipfel hängen haben. Mannsleute und Frauenzimmer sind nun mal zweierlei, und Fritz hat, meiner Treu, das Zeug zu einem tüchtigen Mann in sich.
Will er absolut zur See, so lassen Sie ihn doch einen Versuch machen. Die meisten bekommen es sowieso schnell genug satt. Schaden kann es nie. Fritz wird nächstes Jahr wahrscheinlich doch nicht in die andere Klasse versetzt, das hat der Rektor mir gesagt, Klenow, und das wissen sie ja auch selbst, denn der Junge taugt ja nicht zum Lernen, der Schlingel. Die paar Monate ändern nichts an der Sache. Also lassen Sie ihn nur lossegeln.«
»Man muß sehr vorsichtig sein, liebe Amalie, daß man sich angeborenen oder stark ausgeprägten Neigungen bei einem Kinde nicht zu schroff widersetzt,« meinte Klenow. »Ich für mein Teil habe immer eine ausgesprochene Vorliebe für das Militär gehabt; und wenn mein Vater es mir nicht so streng untersagt hätte, Offizier zu werden, wer weiß, dann wäre ich jetzt vielleicht Oberst bei seiner Majestät Husaren oder Ulanen.« Der kleine Zollmann machte eine flotte Bewegung mit seiner Meerschaumpfeife und blickte träumend zum Mond hinauf, der durch den wilden Wein der Veranda zu ihm herabguckte. – »Und wer weiß, was einst aus Fritz werden kann, wenn er in jungen Jahren den Weg betritt, auf dem unsere Zukunft liegt – wer weiß!«
Klenows Träume von Fritz' zukünftiger Größe als Admiral, in Verbindung mit Brummers gesunden Vernunftsgründen trugen einen entscheidenden Sieg über Tante Minchen davon, die weinend zu Bett ging und von Seeungeheuern und gestrandeten Schiffen träumte.
Auf der Veranda aber wurde bestimmt, daß Fritz eine Reise mit der Brigg »Anne-Marie« machen durfte, die bereits in vierzehn Tagen mit einer Ladung Heringstonnen nach Cadix in See gehen sollte.
Brummer gab Klenow als Reeder des Fahrzeuges das feste Versprechen, daß auf den Jungen so acht gegeben werden sollte, als sei es sein eigener Sohn – drei Monate würde die Reise dauern, dann sollte der Kapitän Fritz wieder frisch und gesund in Villa Thule abliefern.
Versprechen ist ehrlich, doch halten häufig beschwerlich!