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Kapitel 6.
Aufstieg zum Direktor bei der Pennsylvaniabahn. Die Schlafwagen-Gesellschaft. Ländliches Heim in Homewood.

Im Jahre 1856 rückte Mr. Scott zum Generaldirektor der Pennsylvaniabahn an Stelle von Mr. Lombaert auf. Er nahm mich mit nach Altoona. Ich war damals 22 Jahre alt. Der Abbruch aller meiner Beziehungen in Pittsburg war mir sehr schmerzlich, aber keinerlei persönliche Rücksicht durfte auch nur einen Augenblick lang meinen geschäftlichen Aufstieg hindern. Meine Mutter fügte sich darein, so schwer es ihr auch fiel. Übrigens durfte ich doch auch bei dem freundschaftlichen Wohlwollen, das mir Mr. Scott bewiesen hatte, meinen Führer nicht im Stich lassen.

Seine Beförderung zum Generaldirektor hatte einigen Neid erregt; außerdem trat gleich beim Beginn seiner neuen Tätigkeit ein Streik ein. Kurz zuvor hatte er in Pittsburg seine Frau verloren und fühlte sich daher sehr vereinsamt. Da er in seinem neuen Wohnort Altoona ganz fremd war, so hatte er niemand als mich, mit dem er verkehren konnte. So lebten wir, bis er seinen eigenen Haushalt einrichtete und seine Kinder aus Pittsburg kommen ließ, wochenlang im Eisenbahnhotel zusammen, und auf seinen Wunsch teilte ich sogar sein großes Schlafzimmer mit ihm. Es schien ihm viel daran gelegen, mich immer um sich zu haben.

Die Streiklage war immer bedrohlicher geworden. Eines Nachts wurde ich mit der Nachricht geweckt, daß das Personal der Güterzüge diese in Mifflin verlassen hätte; dadurch war die Linie gesperrt und der ganze Verkehr stand still. Mr. Scott schlief fest. Ich wollte ihn nicht gern wecken, denn ich wußte, wie überarbeitet und nervös er war. Er erwachte aber von selbst, und ich schlug ihm vor, daß ich aufstehen und nach dem Rechten sehen wollte. Halb im Schlaf murmelte er etwas, was ich als Einverständnis deutete. Ich eilte in das Bureau, verhandelte in seinem Namen mit den Leuten und versprach ihnen, daß sie am nächsten Tage in Altoona ihre Wünsche vorbringen könnten. Es gelang mir auch, sie zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen und den Verkehr in Gang zu bringen.

Aber nicht allein unter dem Zugpersonal herrschte eine aufsässige Stimmung, sondern auch die Arbeiter in den Werkstätten organisierten sich schnell, um mit den Unzufriedenen gemeinsame Sache zu machen. Ich kam auf eine recht seltsame Weise dahinter. Als ich nämlich eines Abends im Dunkeln nach Hause ging, bemerkte ich, daß mir ein Mann folgte; er holte mich ein und sprach mich schließlich an: »Ich darf nicht mit Ihnen gesehen werden; aber Sie haben mir einmal einen Dienst erwiesen, und ich habe mir damals vorgenommen, Ihnen das zu vergelten, wenn ich je dazu in der Lage wäre. Ich bat damals im Pittsburger Bureau um Arbeit als Schmied. Sie sagten, in Pittsburg sei gerade keine Stelle frei, aber vielleicht könnte ich in Altoona ankommen, und wenn ich mich ein paar Augenblicke gedulden wolle, so würden Sie telegraphisch anfragen. Sie machten sich diese Mühe, prüften noch meine Empfehlungsschreiben, gaben mir einen Ausweis und schickten mich hierher. Ich habe jetzt sehr gute Arbeit; meine Frau und meine Familie sind auch hier, und in meinem ganzen Leben ist es mir noch nicht so gut gegangen. Und nun will ich Ihnen etwas erzählen, womit Ihnen sehr gedient sein kann.«

Ich hörte zu und erfuhr von ihm, daß unter den Arbeitern in den Werkstätten ein Rundschreiben zur Unterzeichnung im Umlauf war, das sie zur Arbeitseinstellung für den nächsten Montag verpflichtete. Da war also keine Zeit zu verlieren. Ich teilte die Sachlage am anderen Morgen Mr. Scott mit, der sofort Anschläge drucken und in den Werkstätten anbringen ließ, daß alle diejenigen, die sich durch ihre Unterschrift zum Streik verpflichtet hätten, entlassen wären und ihre Löhnung im Bureau abholen könnten. Inzwischen hatten wir auch eine Liste der Unterzeichner in die Hand bekommen, und auch das wurde bekanntgegeben. Die Bestürzung unter den Arbeitern war groß und der Streik kam nicht zur Ausführung.

Solche Vorfälle wie der mit dem Schmied sind mir mehr als einmal im Leben begegnet. Eine kleine Aufmerksamkeit oder ein freundliches Wort zu einem Untergebenen bringt oft unerwartet hohen Lohn. Jede gute Tat trägt Zinsen. Noch heute treffe ich oft Menschen, die ich längst vergessen habe, die sich aber noch gut irgendeiner kleinen Gefälligkeit erinnern, welche ich ihnen habe erweisen können, namentlich während meiner Tätigkeit im Dienst der Regierungs-Eisenbahn und -Telegraphie zur Zeit des Bürgerkrieges. Ich konnte damals Leute durch die Linien bringen, einem Vater einen Besuch bei seinem verwundeten oder erkrankten Sohn an der Front ermöglichen oder für die Überführung der sterblichen Überreste eines Gefallenen sorgen und dergleichen mehr. Solchen Kleinigkeiten verdanke ich manche Aufmerksamkeiten, die mir erwiesen wurden, und die erfreulichsten Erlebnisse. Mit solchen Handlungen verhält es sich so: sie sind an sich uneigennützig, aber der Lohn ist um so schöner, je untergeordneter die Stellung des Menschen ist, den man sich zu Dank verpflichtet hat. Es ist viel mehr wert, einem armen Arbeiter einen Liebesdienst zu erweisen als einem Millionär, der einem den Dienst leicht und reichlich wieder vergelten kann. Wie wahr sind doch Wordsworths Worte:

»Das Beste sind im Leben eines Menschen
Die kleinen, leicht vergeßnen, namenlosen
Zeichen von Lieb' und Güte!«

Das hinsichtlich seiner Folgen wichtigste Ereignis der ganzen zwei Jahre, die ich mit Mr. Scott in Altoona zubrachte, hing mit meiner Zeugenschaft in einem Prozeß gegen die Eisenbahngesellschaft zusammen, den in Greensburg mein erster Gastfreund, der prächtige Major Stokes, führte. Man befürchtete, ich könnte vom Kläger vorgeladen werden, und daher bat der Major, dem an einem Aufschub der Sache viel gelegen war, Mr. Scott möchte mich so schnell wie möglich über die Grenze schicken. Das war für mich eine willkommene Sache, denn ich konnte auf diese Weise meine beiden Busenfreunde Miller und Wilson besuchen, die damals bei der Eisenbahn in Crestline, Ohio, beschäftigt waren.

Unterwegs, als ich im letzten Wagen am Ende einer Bank saß und hinaussah, kam ein Mann mit einem kleinen grünen Sack in der Hand auf mich zu, der den Eindruck eines Farmers machte. Er sagte, er hätte vom Bremser erfahren, daß ich mit der Pennsylvaniabahn zu tun hätte; er wolle mir das Modell eines Wagens zeigen, den er für Nachtreisen erfunden hätte. Dabei zog er ein kleines Modell aus dem Sack, das die Durchschnittsansicht eines Schlafwagens zeigte.

Es war der später so berühmte T. T. Woodruff, der Erfinder des Schlafwagens, dieser heutzutage unentbehrlichen Einrichtung. Die Bedeutung seiner Erfindung leuchtete mir sofort ein. Ich fragte ihn, ob er eventuell nach Altoona kommen könnte, und versprach ihm, die Sache sofort nach meiner Rückkehr Mr. Scott vorzulegen. Die Schlafwagenidee kam mir nicht mehr aus dem Sinn, und ich beeilte mich, nach Altoona zurückzukehren, um Mr. Scott meine Auffassung auseinanderzusetzen. Zuerst meinte er, ich wollte nur eine Gelegenheit beim Schopfe fassen, aber er verhielt sich doch keineswegs ablehnend und sagte, ich möchte den Erfinder telegraphisch zu ihm bestellen. Dieser kam, und es wurde mit ihm vereinbart, daß er, sobald sie fertig wären, zwei solche Wagen auf unserer Linie fahren lassen sollte. Daraufhin fragte mich Mr. Woodruff zu meiner größten Überraschung, ob ich mich an dem neuen Unternehmen beteiligen wolle, und bot mir ein Achtel vom Gewinn an.

Ich nahm sein Anerbieten, ohne lange zu überlegen, an; irgendwie, dachte ich mir, würde ich meine Zahlung schon leisten können. Die beiden Wagen sollten in monatlichen Raten nach der Ablieferung bezahlt werden. Als ich meinen ersten Anteil zahlen sollte, erwies es sich, daß auf mich 217½ Dollar kamen. Ich faßte den kühnen Entschluß, mich an Mr. Lloyd, den Bankier des Ortes, zu wenden und ihn um ein Darlehen in Höhe dieser Summe zu bitten. Ich setzte ihm die Sache auseinander und weiß noch, wie er mir seinen langen Arm um die Schultern legte (er war nämlich sechs Fuß und drei oder vier Zoll groß!) und sagte: »Aber natürlich leihe ich Ihnen das Nötige. Sie machen Ihre Sache ja immer gut, Andy.« So stellte ich also meinen ersten Wechsel aus und hatte wirklich einen Bankier gefunden, der ihn annahm. Ein stolzer Augenblick im Leben eines jungen Mannes!

Die Schlafwagen hatten großen Erfolg; die monatlichen Einnahmen deckten völlig die zu zahlenden Monatsraten. Die erste beträchtliche Summe, die ich in meinem Leben einnahm, floß aus dieser Quelle.

Nachdem meine Mutter und mein Bruder mir nach Altoona gefolgt waren, trat eine wichtige Änderung in unserer Lebensweise ein, indem wir nun nicht mehr ganz für uns allein lebten, sondern uns notwendigerweise ein Dienstmädchen anschafften. Erst nach heftigem Sträuben war meine Mutter dazu zu bewegen, einen fremden Menschen in das Haus zu nehmen. Sie hatte nur für ihre beiden Jungen gelebt und alles für sie ganz allein besorgt. Das war ihr Lebensinhalt; darum widersetzte sie sich mit aller Eifersucht, deren eine stark empfindende Frau fähig ist, dem Eindringen einer Fremden, die das Recht haben sollte, irgendetwas in ihrem Haushalt zu tun. Sie hatte für ihre Jungen gekocht und hatte sie bedient, ihre Kleidung gereinigt und ausgebessert, ihre Betten gemacht, die Wohnung aufgeräumt. Wer wollte es wagen, ihr diese Vorrechte einer Mutter zu nehmen! Aber trotz all ihres Sträubens kamen wir doch nicht um das unvermeidliche Dienstmädchen herum. Die erste kam, andere sind dann gefolgt; damit verschwand ein gutes Stück des traulichen Familienglückes, das in dem ganz Unter-sich-sein wurzelt. Wenn man von Fremden bedient wird, so ist das ein kümmerlicher Ersatz für die Liebesdienste einer Mutter. Das herrlichste Mahl von der Hand einer fremden Köchin, die man kaum zu sehen bekommt, von einer bezahlten Kraft bereitet und aufgetragen, hat nicht den Reiz eines noch so einfachen Gerichts, das uns die Hand der Mutter mit ihrer innigen Liebe vorsetzt.

Zu den vielen Segnungen, für die ich dankbar sein muß, gehört auch, daß ich als Kind kein Kindermädchen und keine Erzieherin gehabt habe. Es ist ganz natürlich, daß die Kinder armer Leute viel mehr Liebe und warmes Familienleben genießen und selbst viel lebhaftere kindliche Zuneigung empfinden als diejenigen, die nur irrtümlich als die vom Leben Bevorzugten bezeichnet werden. In ihrer Jugend haben ihre eindrucksfähigen Seelen ständig in naher Berührung mit der liebevollen Fürsorge ihrer Eltern gestanden; sie sind einander Alles, und keine anderen Personen dürfen sich in dieses Verhältnis einmischen. Das Kind, das in seinem Vater zugleich den Lehrer, Freund und Berater sieht, und dessen Mutter ihm Pflegerin, Schneiderin, Erzieherin, Lehrerin, Freundin, Heldin und Heilige in einer Person ist, besitzt einen Schatz, der dem im Wohlstand erzogenen Kinde ewig verschlossen bleibt.

Aber selbst wenn es auch eine zärtliche Mutter nicht einsieht – es kommt doch eine Zeit, wo der erwachsene Sohn seiner Heiligen den Arm um die Schultern legen und ihr mit einem liebevollen Kuß erklären muß, es sei nun doch angezeigt, daß sie sich nun auch einmal von ihm etwas helfen lasse; daß er, der in der Welt stehe und Einblick in andere Verhältnisse bekomme, oft Neues sehe, das man ganz gut einführen könne; daß die Lebenshaltung, die für kleine Jungen sehr schön war, doch nun in mancher Hinsicht anders gestaltet, der Haushalt auch für den Empfang von Gästen eingerichtet werden müsse. Vor allem aber solle die Mutter nicht mehr so schwer arbeiten und sich das Leben jetzt etwas bequemer machen, mehr lesen, mehr Besuche machen, mehr Verkehr mit lieben Freunden pflegen, kurz: sie solle nun die ihr gebührende Stellung als Dame des Hauses einnehmen.

Meiner Mutter wollte diese Änderung freilich zunächst nicht in den Sinn; aber schließlich sah sie doch die Notwendigkeit ein; wahrscheinlich machte sie sich zum ersten Male klar, daß ihr ältester Sohn nun doch schon eine gewisse Stellung einnahm.

»Liebes Mütterchen«, sagte ich, immer noch meinen Arm um sie geschlungen, »du hast für Tom und mich alles getan und bist uns alles gewesen; nun laß mich auch einmal etwas für dich tun. Nehmen wir einmal an, ich wäre jetzt dein Sozius, und laß uns daher immer daran denken, was für den anderen das beste ist. Jetzt ist die Zeit da, wo du richtig als Dame leben sollst, und es dauert auch nicht mehr lange, dann bekommst du deine eigene Kutsche. Vorläufig mußt du dir wenigstens ein Mädchen zur Hilfe nehmen. Du würdest Tom und mir damit eine Freude machen.«

Der Sieg war gewonnen und meine Mutter ging nun öfter mit uns aus und machte Besuche bei den Nachbarn. Gesellschaftliche Sicherheit und gute Manieren brauchte sie nicht erst zu lernen, die waren ihr angeboren; und auch an Bildung, Kenntnissen, gesundem Menschenverstand und Liebenswürdigkeit war selten ihresgleichen zu finden. Zuerst hatte ich statt »selten« »nie« geschrieben, aber dann habe ich dieses Wort wieder ausgestrichen. Meine persönliche Überzeugung bleibt das aber trotzdem. –

Besonders angenehm gestaltete sich für mich der Aufenthalt in Altoona durch Miß Rebecca Stewart, Mr. Scotts Nichte, die ihm die Wirtschaft führte. Sie stellte sich zu mir wie eine ältere Schwester, besonders wenn Mr. Scott in Philadelphia oder anderweitig zu tun hatte. Wir waren viel zusammen und fuhren oft nachmittags durch die Wälder. Unsere Freundschaft hat viele Jahre lang bestanden, und heute, im Jahre 1906, empfinde ich beim Durchlesen ihrer Briefe mehr als je, wie tiefen Dank ich ihr schulde. Sie war nicht viel älter als ich, aber sie machte einen erheblich älteren Eindruck; sie war bedeutend reifer als ich und daher wohl imstande, die Stelle einer älteren Schwester an mir zu vertreten. Für mich war sie damals das Urbild der vollkommenen Dame, zu dem ich voll Bewunderung aufsah. Leider gingen unsere Lebenswege später weit auseinander; ihre Tochter hat den Earl of Sussex geheiratet und sie selbst lebte zuletzt im Ausland. (Am 19. Juli 1909 trafen meine Frau und ich meine jetzt verwitwete schwesterliche Freundin und ihre Tochter bei bestem Wohlbefinden in Paris. Wir freuten uns aufrichtig über das Wiedersehen. Die treuen Jugendfreunde sind doch unersetzlich!) –

Mr. Scott blieb ungefähr drei Jahre in Altoona, bis er im Jahre 1859 die neue wohlverdiente Beförderung zum Vizepräsidenten der Gesellschaft erfuhr und nach Philadelphia versetzt wurde. Es war nun eine schwierige Frage, was aus mir werden sollte. Würde er mich mitnehmen oder sollte ich unter einem neuen Direktor weiter in Altoona bleiben? Dieser Gedanke war für mich fast unerträglich; es war für mich schon schwer genug, mich von Mr. Scott trennen zu müssen; aber nun gar seinem Nachfolger zu dienen, schien mir ganz unmöglich. Für mich ging mit ihm die Sonne auf und unter. Der Gedanke, daß ich selbst eine Beförderung erfahren sollte, außer durch ihn, kam mir nicht in den Sinn.

Als Mr. Scott von seiner Unterredung mit dem Präsidenten in Philadelphia zurückkam, bat er mich in sein neben dem Bureau in seinem Hause gelegenes Privatzimmer. Er teilte mir mit, es sei nunmehr fest abgemacht, daß er nach Philadelphia gehe, sein Nachfolger hier werde der bisherige Abteilungsdirektor Mr. Enoch Lewis. Ich wurde immer gespannter, je mehr er auf die unvermeidliche Enthüllung, was nun mit mir geschehen sollte, zukam. Endlich sagte er: »Und nun komme ich zu Ihnen. Glauben Sie wohl, daß Sie die Abteilung Pittsburg leiten könnten?«

Ich stand damals in dem Alter, in dem man sich alles zutraut; es gab nichts, was ich nicht versucht haben würde. Aber bis jetzt war wohl niemand, und am wenigsten Mr. Scott selbst, auf den Gedanken gekommen, daß ich imstande sein könnte, einen Posten wie den mir angebotenen auszufüllen. Ich war erst 24 Jahre alt; aber ich nahm mir Lord John Russell zum Vorbild, der in jedem Augenblick das Kommando über die Flotte zu übernehmen bereit war, wenn es nötig sein sollte. Genau so hätte auch Wallace oder Bruce gehandelt. Ich sagte also Mr. Scott, daß ich glaube, die Stellung mit gutem Gewissen annehmen zu können.

»Schön«, sagte er; »Mr. Potts (der bisherige Direktor der Abteilung Pittsburg) soll in die Transportabteilung nach Philadelphia versetzt werden und ich will Sie dem Präsidenten als Nachfolger für seinen Posten empfehlen. Er hat sich schon geneigt erklärt, es mit Ihnen zu versuchen. Welches Gehalt würden Sie denn beanspruchen?« – »Gehalt?« erwiderte ich ganz unwillig, »was kümmert mich das Gehalt? Das ist für mich nebensächlich, die Hauptsache ist mir die Stellung. Für mich ist es Ehre genug, daß ich in Ihre frühere Stellung bei der Pittsburger Abteilung einrücke. Bestimmen Sie mein Gehalt ganz nach Ihrem Gutdünken; es ist nicht nötig, daß Sie mir mehr geben, als was ich jetzt bekomme.« Das waren 65 Dollar im Monat. »Sie wissen«, antwortete er, »daß ich in Pittsburg jährlich 1500 Dollar bekam, Mr. Potts bezieht jetzt 1800. Ich denke, Sie fangen zunächst einmal mit 1500 an, und nach einiger Zeit, wenn Sie sich bewährt haben, steigen Sie auf 1800. Sind Sie damit einverstanden?« – »Ach bitte, lassen Sie doch die ganze Geldfrage!« sagte ich, denn es handelte sich für mich dabei wirklich nicht um die Gehaltserhöhung.

Auf diese Weise wurde meine Beförderung gleich fest abgemacht. Ich sollte nun also eine Abteilung selbständig leiten, und die Anordnungen zwischen Pittsburg und Altoona würden in Zukunft nicht mehr mit »I. A. S«[cott], sondern mit »A. C«[arnegie] unterzeichnet sein. Das war für mich schon Ehre genug.

Das Patent meiner Ernennung zum Direktor des Pittsburger Distrikts kam am 1. Dezember 1859 heraus. Sofort wurden die Vorbereitungen zum Umzug der Familie getroffen. Die Veränderung wurde mit großer Freude begrüßt. Altoona hatte zwar als Wohnort manche Vorzüge, namentlich dadurch, daß wir ein großes Haus mit einem Stück Garten dazu in einer schön gelegenen Vorstadt bewohnten und daher viele Freuden des Landlebens genossen. Aber all das fiel doch nicht ins Gewicht gegenüber der Rückkehr zu den alten Freunden und Bekannten in dem freilich schmutzigen, rauchigen Pittsburg. Mein Bruder Tom, der während des Aufenthaltes in Altoona telegraphieren gelernt hatte, wurde nach unserer Rückkehr nach Pittsburg mein Sekretär.

Der erste Winter nach meinem Amtsantritt war einer der strengsten, an die man sich erinnern konnte. Die Linie war erst notdürftig fertig, das Betriebsmaterial durchaus unzulänglich und nicht annähernd ausreichend für die sich steigernden Anforderungen. Die Schienen lagen auf großen Steinblöcken und wurden durch gußeiserne Stollen festgehalten; ich erinnere mich, daß einmal nicht weniger als 47 davon in einer Nacht brachen. Kein Wunder, daß häufig Züge entgleisten. Der Abteilungsdirektor mußte in dieser Zeit fast jede Nacht telegraphische Anweisungen für die Züge geben, auch selbst hinausfahren und die Entgleisungen beseitigen helfen und sich tatsächlich um alles selbst bekümmern. Einmal bin ich acht Tage lang Tag und Nacht ständig auf der Strecke gewesen, weil wir eine Entgleisung oder Betriebsstockung nach der anderen hatten. Ich bin wahrscheinlich der rücksichtsloseste Direktor gewesen, dem je die Obhut über wertvollen Besitz übertragen war; denn, da ich selbst keine Ermüdung kannte, weil mich wohl schon mein Verantwortungsgefühl munter hielt, verlangte ich dasselbe von meinen Leuten und nahm auf die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit keine Rücksicht. Ich konnte jederzeit auf einen Augenblick schlafen; hier und da ein halbes Stündchen des Nachts in einem schmutzigen Güterwagen genügte mir vollständig.

Der Bürgerkrieg stellte an die Pennsylvaniabahn solch ungeheure Anforderungen, daß ich schließlich einen besonderen Nachtdienst einrichten mußte. Aber es war schwer, von meinen Vorgesetzten die Erlaubnis zu erreichen, die Aufsicht über die Strecke bei Nacht einem besonderen Betriebsleiter anzuvertrauen. Eine unzweideutige Zustimmung zu diesem Schritt habe ich tatsächlich nie bekommen. So habe ich auf eigene Verantwortung hin wohl den ersten Nachtdienstleiter in ganz Amerika angestellt, jedenfalls den ersten bei der Pennsylvania-Gesellschaft. –

Nach unserer Rückkehr nach Pittsburg im Jahre 1860 mieteten wir ein Haus in der Hancock Street, jetzt Achte Straße, und wohnten dort über ein Jahr. Eine wahrheitsgetreue Schilderung des damaligen Pittsburg muß heute als eine ungeheuerliche Übertreibung erscheinen. Es gab nichts, was nicht vom Rauch vollständig durchtränkt war. Wenn man seine Hand auf ein Geländer legte, zog man sie ganz schwarz wieder zurück; wenn man sich Gesicht und Hände wusch, waren sie schon nach einer Stunde wieder ebenso schmutzig wie vorher. Der Ruß setzte sich im Haar fest und reizte die Haut. So erschien uns, die wir aus der schönen Gebirgsluft von Altoona kamen, der Aufenthalt in Pittsburg recht unerfreulich. Wir überlegten bald, wie wir wieder aufs Land ziehen könnten; da fügte es ein glücklicher Zufall, daß Mr. D. A. Stewart, der damals Spediteur unserer Gesellschaft war, uns auf ein dicht bei seiner Wohnung gelegenes Haus in Homewood aufmerksam machte. Schnell entschlossen zogen wir dorthin; ein Telegraphenapparat wurde dort eingerichtet, so daß ich den Distrikt im Notfall auch von meiner Wohnung aus leiten konnte.

Hier fing ein ganz neues Leben für uns an. Schöne Heckenwege und herrliche Gärten zierten die Gegend. Zu jedem Wohnhaus gehörten 5-20 Morgen Land. Das Villenterrain Homewood bestand aus vielen hundert Morgen Land mit wunderbaren Wäldern und Tälern und einem lustig plätschernden Bach. Auch wir besaßen einen Garten und ein Stück Feld am Hause. Hier, zwischen ihren Blumen und Küken und all den Freuden des Landlebens, verlebte meine Mutter ihre glücklichsten Jahre. Die Blumen waren ihre ganze Passion, sie gewann es kaum je über sich, eine Blume abzubrechen. Ich weiß noch, daß sie mir einmal Vorwürfe machte, weil ich ein wildwachsendes Kraut ausgerissen hatte: »es sei doch auch etwas Grünes!« Diese Eigenheit habe ich von ihr geerbt und oft genug bin ich vom Haus durch den ganzen Garten gegangen, um mir eine Blume für mein Knopfloch zu holen, und dann doch ohne Blume zur Stadt gefahren, weil ich keine finden konnte, die ich hätte zerstören mögen.

Die Übersiedlung aufs Land brachte uns eine Menge neuer Bekanntschaften. Viele der wohlhabenden Familien wohnten in diesem reizenden Vorort; es war sozusagen das vornehme Viertel. Zu den gesellschaftlichen Veranstaltungen in diesen großen Häusern wurde natürlich auch der junge Direktor eingeladen. Da die Jugend die Musik liebte, gab es häufig musikalische Abende. Ich hörte über Dinge reden, die ich bis dahin nicht gekannt hatte, und machte es mir zur Regel, immer, wenn ich von solchen Dingen hörte, mich alsbald näher über sie zu orientieren. Jeden Tag hatte ich das freudige Gefühl, etwas Neues gelernt zu haben.

Hier begegneten mir auch zuerst die Brüder Vandevort, Benjamin und John. Letzterer war später mein Gefährte auf verschiedenen Reisen; auch in meinem »Rund um die Welt« erscheint der »gute Vandy« als mein Reisekamerad. Unsere Nachbarn, Mr. und Mrs. Stewart, wurden uns von Tag zu Tag lieber; die flüchtige Bekanntschaft von vorher entwickelte sich zu einer warmen, dauernden Freundschaft. Es war mir eine große Freude, daß späterhin Mr. Stewart sein Geld in unserem Geschäft anlegte und, ebenso wie Vandy, unser Teilhaber wurde. Das größte Geschenk unserer neuen Wohnung war aber doch, daß sie uns die Bekanntschaft mit der ersten Familie in ganz Westpennsylvanien verschaffte, – nämlich mit der des ehrenwerten Richters Wilkins. Dieser war damals ein Mann von fast 80 Jahren, groß, schlank, schön, noch völlig rüstig an Geist und Körper, von äußerst liebenswürdigem, feinem Wesen und mit dem größten Schatz von Wissen und Kenntnissen, den ich je an einem Menschen bewundert hatte. Seine Gattin, die Tochter des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten George W. Dallas, ist für mich immer der Typus vornehmer Weiblichkeit gewesen: die schönste, reizvollste, verehrungswürdigste alte Dame, die ich jemals gesehen habe. Ihre Tochter, Miß Wilkins, und ihre Schwester Mrs. Saunders mit ihren Kindern wohnten gleichfalls in dem prächtigen Hause in Homewood, das für seine Umgebung dasselbe bedeutete, was in England ein Baronssitz ist oder sein sollte: der Sammelpunkt aller Kultur, vollendeter Feinheit, höchsten Lebensniveaus.

Es war mir eine besondere Freude, daß ich dort ein gern gesehener Gast zu sein schien. Hauskonzerte, Lebende Bilder, Theateraufführungen, bei denen Miß Wilkins die Hauptrollen spielte, boten mir neue Gelegenheit, meine Bildung zu erweitern. Der Richter selbst war für mich der erste Mann, der mit vielen Persönlichkeiten von historischer Bedeutung in Berührung gekommen war. Nie werde ich vergessen, welchen Eindruck es auf mich machte, wenn er so im Laufe des Gesprächs die Worte fallen ließ: »Präsident Jackson sagte mir einmal« oder »Ich sagte dem Herzog von Wellington das und das«. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit sprach der Richter, da er in jungen Jahren (1834) unter Jackson Gesandter in Rußland gewesen war, auch von einer Audienz beim Zaren. Mir war zumute, als ob ich mit der Geschichte selbst in Berührung träte. Dieses Haus bedeutete für mich eine ganz neue Atmosphäre, und mein Verkehr mit der Familie war ein mächtiger Ansporn für meinen Ehrgeiz, an Kenntnissen und gesellschaftlichen Fähigkeiten mich weiter zu vervollkommnen.

Nur über politische Fragen bestand zwischen der Familie Wilkins und mir immer eine entschiedene, wenn auch unausgesprochene Meinungsverschiedenheit. Ich war in jener Zeit, in der, ein Abolitionist D. h. für Abschaffung der Sklaverei. zu sein, in Amerika soviel bedeutete wie in England Republikaner, ein eifriger Anhänger der Free-soilers Free-soilers (Freibodenpartei, Nationalreformer) ist die Bezeichnung einer 1846 in den Vereinigten Staaten entstandenen politischen Partei, die vor allem die Abschaffung der Sklaverei und die Überlassung von Land an arbeitswillige Landbebauer verfolgte; sie ging 1856 in der republikanischen Partei auf.. Die Familie Wilkins hingegen war streng demokratisch gesinnt und hatte durch ihre engen Beziehungen zu führenden Familien in den Südstaaten eine gewisse Hinneigung zum Süden. Als ich eines Tages in Homewood in ihr Empfangszimmer trat, fand ich die ganze Familie in größter Aufregung über einen »schrecklichen« Vorfall, der sich kurz zuvor begeben hatte. »Denken Sie sich!« sagte Mrs. Wilkins zu mir, »Dallas (ihr Enkel) schreibt mir, daß der Kommandant der Militärakademie von West Point ihn gezwungen hat, neben einem Neger zu sitzen! Ist das nicht unerhört? Ist das nicht eine Schande? Neger auf der Militärakademie!« – »Ach«, sagte ich, »Mrs. Wilkins, es gibt noch viel schlimmere Dinge. Ich habe sogar kürzlich gehört, daß jetzt schon Neger in den Himmel gekommen sind!« Peinliches Stillschweigen. Dann, nach einer Weile, sagte die liebe Mrs. Wilkins in ernstem Ton: »Das ist etwas ganz anderes, Mr. Carnegie.«

Das kostbarste Geschenk, das ich bis dahin bekommen hatte, erhielt ich auf folgende Art und Weise: Die verehrte Mrs. Wilkins begann an einer Decke zu stricken und wurde natürlich oft dabei gefragt, für wen diese Arbeit bestimmt sei. Aber die vornehme alte Dame verriet es nicht und behielt monatelang ihr Geheimnis für sich. Erst kurz vor Weihnachten, als die Handarbeit fertig war, packte sie sie liebevoll ein, legte eine Karte mit ein paar herzlichen Worten bei und beauftragte dann ihre Tochter, das Geschenk an mich zu schicken. Es hat mich glücklich in Neuyork erreicht. Ein solches Geschenk von einer solchen Frau! Gezeigt habe ich die Decke oft meinen Freunden, aber benutzt habe ich sie nur selten; dazu ist sie mir viel zu heilig; sie wird unter meinen Kostbarkeiten aufbewahrt.

In Pittsburg hatte ich das Glück gehabt, Miß Leila Addison, die hochbegabte Tochter des kurz zuvor verstorbenen Dr. Addison, kennenzulernen. Ich wurde bald auch mit der Familie bekannt und gedenke mit Dankbarkeit des vorteilhaften Einflusses, den diese Bekanntschaft auf mich ausgeübt hat. Auch diese Freundschaft galt Menschen, die alle Vorzüge einer vornehmen Erziehung besaßen. Carlyle war eine Zeitlang der Hauslehrer von Mrs. Addison, die aus Edinburg stammte, gewesen. Ihre Töchter waren im Ausland erzogen und sprachen Französisch, Spanisch und Italienisch genau so fließend wie Englisch. Erst durch den Verkehr mit dieser Familie wurde es mir klar, welch undefinierbare und doch so riesengroße Kluft die Hochgebildeten von Leuten meines Schlages trennt. Aber das kleine Tröpfchen schottischen Blutes, das uns gemeinsam war, übte wie gewöhnlich seine Anziehungskraft aus.

Miß Addisons Freundschaft war für mich unschätzbar, weil sie es unternahm, den Diamanten zu schleifen – vorausgesetzt, daß es überhaupt ein Diamant war. Sie war meine beste Freundin, weil sie strengste Kritik an mir übte. Ich fing an, mehr auf meine Sprache zu achten, und beschäftigte mich intensiver mit den englischen Klassikern. Ich merkte auch, wieviel besser es wirkt, wenn man gemäßigt in Sprache und Manieren ist, höflich und zuvorkommend zu allen Leuten – kurz: wenn man sich »zu benehmen versteht«. Bis dahin war ich in meinem Äußeren wohl etwas nachlässig gewesen und hatte diese Nachlässigkeit sogar mit einer gewissen Absichtlichkeit betont. Große, schwere Stiefeln, lose Kragen, überhaupt derbe Kleidung zu tragen, war damals im Westen üblich und galt in unseren Kreisen für männlich; alles, was nur irgendwie stutzerhaft hätte erscheinen können, wurde verächtlich angesehen. Ich erinnere mich noch des ersten Herrn, den ich im Dienste der Eisenbahngesellschaft mit Glacéhandschuhen sah; er machte auf uns, die wir uns für die Urbilder der Männlichkeit hielten, damals einen geradezu lächerlichen Eindruck. Nach unserer Übersiedelung nach Homewood trat, besonders unter dem Einfluß der Addisons, eine gewisse Änderung in meinen Ansichten über alle diese Dinge ein.


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